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Kalte Herzen

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10.02.2000
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Kalte Herzen

»Nimm ihn mit«, bat mich meine Mutter.
»Warum? Das ist doch völlig sinnbefreit. Ich bring nur die Löhne hin, guck nach dem Rechten …«
»… und gibst das Angebot ab. Ich weiß.«
»Na, wenn Du weißt, dann nerv mich doch nicht damit.«
»Sein Herz hängt an seiner Arbeit, Heinrich. Denk mal an früher, wie er mit Haut und Haaren für seine Arbeit lebte.«
»Ja. Nur nicht für uns.«
Ihr Blick konnte vorwurfsvoller nicht sein. Ich atmete tief ein und wieder aus, schloss für einen Moment meine Augen. Warum ich?
»Sag ihm Bescheid. Und pack alles ein, was ich so brauche. Falls was passiert.«
Ein gütiger Ausdruck eroberte ihr Gesicht.
»Danke, Heinrich.«
Sie ging ins Haus und ich packte, nein, ich schmiss noch die bestellten Wischmops samt der Staubtücher in den Kofferraum, schlug die Klappe zu und blinzelte in den Nieselregen hinauf. Grauer Himmel, graue Stimmung. Toller Tag. Nach ein paar Minuten kroch das schlechte Gewissen an mich heran und ich ging ins Haus. Mein Vater saß im Rollstuhl und Mutter versuchte, ihm die Schuhe anzuziehen, aber es war wie so oft: Er schrie. Weil die Socken zu eng waren, die Schuhe verkehrt herum, was offenkundig nicht stimmte, aber er so meinte; weil er Angst vor der Autofahrt hatte, aber doch mit wollte, und weil die Mütze nicht richtig auf seinem Kopf saß. Ich schob Mutter beiseite, bückte mich, und erledigte das mit den Schuhen.
»Die Schuhe sind völlig korrekt. Die Socken passen einwandfrei. Alles ist in Ordnung. Wenn Du mit willst, sei jetzt besser ruhig. Verstanden?«
Ich sah zu ihm hoch. Er nickte mit zusammengepresstem Mund.
»Dann los jetzt.«

Die Rollstuhlrampe überwanden wir souverän, ich verfrachtete ihn in den Commodore, plus Vierpunktstock, Schnabeltasse, krampflösende Tropfen, Ersatzwindel und Beißkeil. Dann drehte ich und fuhr den schmalen Weg vor zur Straße.
»Oha!«, rief er, als der Zaun gefährlich näher kam.
»Mach die Augen zu«, raunte ich.
Kaum auf der Autobahn nach Karlsruhe, klopfte er mit den Handknöcheln an seine Seitenscheibe. Wieder und wieder. Fünfhundert Meter hielt ich das aus, dann bog ich in den Parkplatz ein, stellte den Motor ab und sah ihn an. Er klopfte immer noch.
»Willst Du mir sagen, dass Du pinkeln musst?«
Er nickte.
»Und hast Du keinen Mund zum Reden? Kannst Du nicht sagen: Heinrich, bitte fahr in den Parkplatz, ich muss mal?«
»Dochschsz.«
Der Speichel lief ihm aus dem linken Mundwinkel.
»Okay, Du hast einen Spasmus. Sehe ich ein.«
Seufzend stieg ich aus, holte ihn aus dem Wagen, und wir tippelten vorsichtig in die Büsche. Seinen Arm hatte ich um meine Schulter gelegt, meinen Arm um seine Hüfte. In dieser Position öffnete ich seinen Reißverschluss und hielt sein bestes Stück in den Wind. Mit der Hand klopfte er auf meine Schulter, ich packte ein und wir fuhren weiter. Aber schon das Nöttinger Gefälle vermasselte uns die freie Fahrt. Stau auf ganzer Linie, sozusagen. Alte Reichskriegsautobahn, zwei Spuren ohne Standstreifen, Betondecke, dem heutigen Verkehr in keinster Weise gewachsen. Ich suchte im Radio nach einem gescheiten Sender.

»War Dein Opa ein Verbrecher?«
Ich starrte auf den Lastwagen vor mir. Aus Ungarn. Wir alle würden uns daran gewöhnen müssen, dass der Verkehr aus Osteuropa nun um einiges zunähme.
»Heinrich?«
»Was?«
Erst jetzt fiel mir ein, dass er ja etwas gefragt hatte. Nur was?
»Tschuldigung. Was hast Du gefragt?«
»Ob Dein Opa ein Verbrecher war?«
»Mein Opa? Welcher Opa? Opa Johann oder wer?«
Er zog den Speichel hoch. Ein Zeichen seiner Erregung. Wenn die Worte in seinem Kopf drängelten, die Lähmungen aber nichts raus ließen.
»Nein!«, rief er, sich von diesem Wort mit Nachdruck befreiend. »Opa Willi, mein Papa!«
»Ich kenne Deinen Papa nicht, den Opa Willi. Nur aus ein paar Erzählungen von Oma. Hast Du ihn denn gekannt?«
»Nur ein paar Jahre, mehr nicht. Bis 45, dann war er weg.«
»Ja siehste. Oma hat gesagt, er wurde vermisst. Also, tja, er wird irgendwo auf offenem Feld liegen, zwischen Berlin und der Weichsel.«
Der ungarische LKW rollte beim Anfahren einen knappen Meter zurück, und mir wurde angst und bange. Dann fing er sich und zog an, den Berg hoch.
»Er liegt in Hameln, auf dem Friedhof.«
»Wer? Opa Willi?«
Mein Vater bekam einen Tobsuchtsanfall. Wie wahnsinnig geworden, schüttelte er seinen Kopf hin und her, die Mütze flog auf den Automatikhebel. Ich hob sie an und gab sie ihm zurück.
»Ja! Opa Willi! Du hörst mir ja gar nicht zu! Interessiert Dich einen Scheißdreck, was ich Dir hier erzähle!«
»Du erzählst mir ja auch gar nichts! Du kommst mir hier mit ner dämlichen Frage, ob „Opa Willi ein Verbrecher sei“? Was soll ich mir denn da drunter vorstellen? Du warst, äh … sechs, als er nicht mehr auftauchte, und ich noch nicht mal Saft in Deinen Eiern! Verdammt!«

Er lehnte seinen Kopf an die Seitenscheibe und weinte. Mit der linken Hand versuchte er, sich die Mütze aufzusetzen, seine verhasste Glatze zu bedecken, aber es war die fast gelähmte Seite. Er versagte und kippte so weit nach vorne, bis der Gurt ihn mit einem Klicken hielt. Ich scherte links raus, bloß weg von diesem verfluchten Lastwagen. Ich hasste es, wenn er weinte. Hass, der vermaledeite Hass. Mit einem vorsichtigen Druck auf die Fensterautomatik öffnete ich meine Seitenscheibe ein wenig und atmete gierig die kalte Novemberluft ein.
»Hör einfach auf zu flennen«, riet ich ihm, »das ist ja schrecklich.«
»Er ist doch gar nicht vermisst. Er wurde gehenkt. Als Kriegsverbrecher.«
Ich traute mich nicht, ihn anzusehen, während der Vorbeifahrt an dem Ungarn. Aber ich dachte daran, sofort stehenzubleiben, auszusteigen, und dem nächstbesten Fahrer eine in die Fresse zu schlagen. Mitten rein.

»Sag das noch mal.«
»Er wurde gehenkt. Als Kriegsverbrecher. Am 29. Januar 1948. In Hameln.«
»Er wurde als Kriegsverbrecher gehenkt? 1948?«, wiederholte ich für mich noch einmal. Gedankenverloren blieb ich weiter auf der Überholspur mit derselben Geschwindigkeit, mir gar nicht bewusst, dass sich der Stau vor mir langsam auflöste.
»Wie … woher … weißt Du das?«
Lichthupe hinter mir. Ich blickte in den Rückspiegel und wechselte auf die rechte Spur.
»Ich werde ja wohl wissen, was mit meinem Vater passiert ist.«
Jetzt sah ich ihn an. Vor mir ziemlich frei, konnte ich mir einen längeren Blick leisten. Seine Mütze auf dem Schoß, den Kopf an der Scheibe, Tränen auf seiner Backe. Grauer Bart, ausgemergeltes Gesicht. Aschfahl.
»Kann ich also davon ausgehen, dass mir meine Familie jahrzehntelang Scheiße erzählt hat?«
Er nickte.

Wir passierten die Karlsbader Ausfahrt und das Nieseln ging über in einen schön gleichmäßigen Herbstregen, von einigen Böen zwischendurch unterstützt, die heftig am Commodore rüttelten. Vater schwieg.
»Warum fragst Du, ob Opa Willi ein Verbrecher war, wenn er doch offensichtlich genau dafür gehenkt wurde?«
»Weil ich nicht weiß, ob das stimmt? Weil ich nicht weiß, was er dort getan hat?«
»Warte mal, warte mal … wo ist denn dort?«
»KoLaFu.«
»KoLaFu? Jesus, Maria und Josef, jetzt red‘ doch mal in ganzen Sätzen. Das ist ja nicht zum Aushalten!«
»Er war Chef vom Konzentrationslager Fuhlsbüttel. KoLaFu. Aber nur in den letzten beiden Jahren.«
Ich stülpte meine Lippen vor und nickte mit dem Kopf, weil ich gerade nicht wusste, wie ich reagieren sollte.
»Er war also Kommandant eines Lagers, soso, aber nur in den letzten beiden Jahren, soso, aha … ja klar, da war man bestimmt nicht mehr böse und so, schön Ostern und Weihnachten gefeiert mit den Insassen und im Mai 45 freundlich verabschiedet von denen. Beehren sie uns bald wieder, nicht wahr?«
»Du sollst mich nicht verhöhnen. Warum tust Du mir weh?«
Ich holte tief Luft. Was sollte ich sagen? Was gab es da für eine Antwort? Nur falsche?

»Hör mal, Papa, nix für ungut, aber Du bist jetzt fünfzig Jahre alt. Als Opa Willi gehenkt wurde, 1948, warst Du neun. Rechnen wir mal weitere zehn Jahre weg, also 1958. Du bist neunzehn und hast nun 31 Jahre Zeit, Dir darüber klar zu werden, ob er ein Verbrecher war oder nicht. Und was hast Du zur Aufklärung beigetragen? Nichts.«
Ich fuhr am Dreieck Karlsruhe weiter auf die A5, Richtung Rastatt. Wir waren bald da und der Regen nahm zu. Vater sagte nichts mehr, saß nur wie ein Häufchen verbranntes Elend in seinem Sitz und hielt sich am Vierpunkt-Stock fest.
»Dann fragst Du mich ernsthaft, ob ein Kommandant eines Lagers Verbrechen begangen hat? Das war ja keine Urlaubsinsel, nicht wahr? Kraft durch Freude wurde da nicht vermittelt, nehme ich mal an? Was genau stellst Du Dir denn als Antwort vor?«
Er winkte mit seiner gesunden Hand ab und ich blinkte, um die Ausfahrt zu nehmen.
»Wird das hier so ne Absolutions-Kiste?«, setzte ich nach.
»Ich wollte es einfach nur fragen, nur wissen … aber das geht natürlich nicht, nein, geht nicht, ich weiß ja …«
»Aber warum jetzt? Nach so langer Zeit? Warum ausgerechnet heute?«
»Ich … ich, äh«, er sah mich von der Seite an, blickte auf das Lenkrad, ich fuhr die Ausfahrt hinaus, auf die Südumgehung, Richtung Bulach. »Ich weiß, dass ich bald nicht mehr da bin.«
Ein Kloß wuchs in meinem Hals. Ich hatte keinen schlauen Spruch parat. Überhaupt keinen Spruch, nicht mal den Hauch einer Ahnung, was ich antworten könnte.
»Du willst aufräumen, nicht wahr? Aber warum fängst Du nicht bei uns an? Bei Mutter und mir? Warum Opa Willi, den ich noch nicht mal auf Fotos gesehen habe? Wen interessiert der noch?«
Sein Blick schmerzte mich. Im selben Atemzug tat es mir leid, was ich da gefragt hatte. Herrjemine, was für eine beschissene Idee war das doch, ihn mitzunehmen. Die Ausfahrt Pulverhausstraße kam und ich fuhr von der Schnellstraße runter.

»Mensch, Papa, ehrlich. Was soll ich jetzt davon halten? Jahrelang hätten wir uns da drum gemeinsam kümmern können. Jahre hatten wir Zeit. Und nichts ist passiert. Stattdessen nur … ach, vergiss es.«
Wir schwiegen den Rest der Strecke. Nach zehn Minuten bogen wir in die Einfahrt des Kunden, passierten die Schranke und ich hielt am Pförtnerhäuschen. Vater ließ ich im Auto, klopfte an die Pförtnertür und ging hinein.
»Nabend.«
»Nabend, Herr Konstantin. Haben Sie ihren Vater dabei?«
»Ja, er wollte mal wieder mit. War ja bald zwei Jahre nicht mehr hier.«
»Wie geht es ihm denn?«
»Ach ja, er hat nen eisernen Willen. Man kann es lassen.«
Der Pförtner stand auf.
»Ich werde ihm mal schnell Hallo sagen. Schließlich habe ich ihn ja fast jeden Tag hier gesehen, mindestens …«, er rechnete kurz, »… mindestens sechs Jahre lang.«
»Ja, gehen Sie nur. Er wird sich freuen. Sind alle Leute erschienen?«
»Ja, alle da.«
»Okay. Ich mach mal meine Runde und bin bald wieder zurück.«
»Gehen Sie nur. Ich pass gut auf ihn auf.«
Meine Kapuze über den Kopf gezogen, verließ ich das Pförtnerhäuschen, klopfte am Commodore an Vaters Seitenscheibe und gab ihm ein Zeichen, dass ich die Runde machte. Er nickte, und als ich weg ging, drehte ich mich noch einmal um, aber die Scheibe war zugeregnet, nichts mehr zu sehen von ihm. Die Sache schlug mir richtig auf den Magen, weswegen ich zuerst den Kaffeeautomaten im Planungsbüro aufsuchte.

Die meisten Löhne war ich losgeworden, hatte hier und da einen Kontrollblick drauf geworfen, aber es gab nichts zu beanstanden. Im Ingenieurbüro der Leiterfertigung traf ich Frau Rodriguez, unsere Vorarbeiterin, fragte nach Problemen, Ärger mit den hiesigen Mitarbeitern, was eben alles so anfiel in einer Gebäudereinigung. Die restlichen Löhne waren schnell verteilt, und ich ließ mir noch einen Kaffee aus dem Automaten. Für die ganze Runde nur 45 Minuten war nicht schlecht. Im Büro des Personalchefs gab ich das Angebot für die Grundreinigung in den Weihnachtsferien ab und machte mich auf den Rückweg. Vater saß nicht mehr im Wagen, ich entdeckte seine Mütze im Pförtnerhaus. Das Putzmaterial aus dem Commodore legte ich auf die Außentreppe unters Vordach und ging zum Pförtner hinein. Der erzählte fröhlich von seinem Schrebergarten, das Flachdach auf seinem „KSC-Bunker“ genannten Gartenhäuschen. Vater grinste und trank aus seiner Schnabeltasse.
»So, alles in Ordnung hier, was?«
»Klar, ich habe gut auf Ihren Vater aufgepasst. Ist ja noch ganz gut zu Fuß. Bis auf die Treppe, da hab ich ein wenig nachgeholfen.«
»Dann kann ich ja draußen noch eine Zigarette rauchen, oder?«
»Klar, kein Problem.«
Als ich mich umdrehte und nach den Luckys greifen wollte, polterte es hinter mir und der Pförtner stieß einen Schreckensruf aus. Ich sah zurück. Vater war weg. Auf dem Boden lag er, zuckte und zitterte wie wild. Ich rannte um die Empfangstheke und kniete mich neben ihn. Rechter Arm und Bein ruderten in alle Richtungen, zogen sich zusammen, schlugen aus …

»Gehen Sie ins Auto und holen Sie den Beißkeil von der Rückbank!«
Der Pförtner reagierte und war im Nu wieder da. Mit meinem Oberkörper lehnte ich mich auf Vaters sich heftig bewegenden Brustkorb, drückte mit links seinen Arm runter, nahm das rote, keilförmige Hartplastikstück und drückte es ihm in den Mund. Das war schwierig genug. Sein Knie erwischte mich im Rücken, aber er war nicht mehr annähernd so kräftig wie Jahre zuvor. Seine Augen weit aufgerissen, leicht verdrehte Pupillen, so stierte er mich an, und mit einem Mal, aus dem Nichts heraus, sah ich mich.

Ich lag dort. Der kleine Heinrich, und schrie mir die Seele aus dem Leib. Aber da war nur Mutter. Niemals er. Niemals mein Vater. Wie angeklebt bohrte sich mein Blick in seine blauen Augen, die sich langsam wieder beruhigten. Ich erkannte mich. Das war er und das war ich. Sein Schmerz steckte in mir. Sein Hass, war mein Hass. So weit wie nur möglich musste er fliehen, bis an den äußersten Rand seiner Seele, bis an den Abgrund, und dabei verlor er uns. Schon als er klein war, verlor er uns. Mutter und mich.

Sein Körper erschlaffte, die Muskeln entspannten sich, sein Atem wurde wieder ruhiger. Ich lag immer noch auf ihm und sah ihm in die Augen. All die Jahre zusammen war jeder von uns Dreien alleine für sich.
»Ich weiß, was Du meinst«, nickte ich ihm zu. »Ich weiß es. Ich werde mich auf die Suche machen nach ihm. Versprochen.«
Vaters blaue Augen wurden feucht.

 

Hallo Morphin

Meine Güte, Morphin, da hast Du den Alltag mit einer deftigen Geschichte aufgepeppt. Ich schnupperte mal neugierig, der Titel war mir unterkühlt erschienen, da dachte ich, die Tür zu einer unromantischen Erzählung zu öffnen. Na ja, romantisch ist sie nicht, dafür sehr gefühlvoll durchdacht und eloquent erzählt.

Die ersten Zeilen setzten mich auf eine falsche Fährte, ein erwachsener Sohn am Gängelband seiner Mutter, waren meine unterschwelligen Gedanken beim Lesen. Das Bild änderte sich dann aber schnell, der Vater im Rollstuhl, eine traurige Gestalt, dem der Sohn recht garstig begegnet.
Der Unwille gemischt mit Verständnis, der mir Heinrich gegenüber bei der Autofahrt aufkam, vermochtest Du geschickt in eine neue Bahn zu leiten. Das persönliche Drama des Vaters, ein deutsches Schicksal der frühen Nachkriegszeit, verbarg sich unter seiner bestehenden Fremdheit der Familie gegenüber, dass hier mit subtilen Worten durchbrach. Was anfänglich verwirrend erschien, die Worte des Vaters über seinen eigenen Vater, entpuppten sich als traumatische Erinnerung an seine Kindheit, die die eisige Kälte ahnen liess, die ihm damals entgegengeschlagen haben musste.
Der Ausgang der Geschichte, eine Wende, die stimmungsvoll in dieser unglückseligen Situation, die späte Versöhnung einläutet. Sehr eindrücklich nochmals, dieser letzte Abschnitt, der nicht einfach mit Worten endet, sondern mit voller Ausdruckskraft den Leser an das Geschehen heranführt.

Sie hat mich sehr beeindruckt diese Geschichte. Nicht einfach vom Aspekt der Vergangenheitsbewältigung her, da gab es auch viele andere, sondern diese gelungene Einbindung auf der zwischenmenschlichen Ebene.

Ganz unkritisch, wie ich es mir wünschte, kann ich dennoch nicht schliessen. An ganz wenigen Stellen trat mir ein Zögern auf, ich hinterfragte mich, ob mir dieser Satz oder jene Formulierung als die bestmögliche Wahl erschien. Da ich nichts mitschrieb, da die Handlung mich in den Bann zog, schaute ich nun nochmals kurz drüber, ob mir das eine oder andere wiederum hinweisend auffällt:

Das ist doch völlig sinnbefreit.

Sinnbefreit, ein sehr gewähltes Wort, das ich vereinzelt in meinem Alltag auch schon anwandte. Doch war ich mir meiner versnobten Anwendung dabei bewusst. Ich bin mir nicht sicher, da ich Heinrich nur eben in dieser Sequenz erlebte, würde er diese sprachliche Formulierung verwenden und nicht einfach sinnlos sagen?

»Mach die Augen zu«, raunte ich ins Lenkrad.

Hm, es ist durch und durch verständlich, und doch, ins Lenkrad raunen, gibt dem Vorgang eine kindliche Note, magisches Denken heraufbeschwörend.

»Warte mal, warte mal … WO ist denn DORT?«

Diese Hervorhebungen in Grossbuchstaben wirken auf mich plakativ, als würden da Werbetexte anprangernd zitiert. Du hast solche auch noch an anderer Stelle im Text. Warum nicht einfach kursiv, dem Auge des Lesers würde es sich für mein Empfinden eleganter und zugleich auch unmissverständlich anbieten.

So damit ist mein meckernder Teil auch abgeschlossen. Ich kann mich nun mit guten Gedanken an diese Geschichte zur Ruhe begeben.

Sehr gern gelesen!

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Guten Tag Anakreon,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich kann Dir versichern, dass "Heinrich" das Wort "sinnbefreit" so verwendet, weil er es mag. Es ist also in diesem Fall ein Teil seiner Charakterisierung. "Lenkrad" hab ich raus. Großschreibung in kursiv geändert. Meinen schlechten Augen fällt kursiv kaum auf, auch in meinem Word nicht, deswegen schreibe ich das immer groß.

Wie so oft, ist der Text ein Teil der Realität.

Gruß
Morphin

 

Hallo Morphin,

ja, wow, echt eine tolle Vater-Sohn-Geschichte, die unter die Haut geht. Also viel zu meckern gibt es da echt nicht.
Für mich hat sich durch die Geschichte gezeigt, wie wichtig es ist, richtig zuzuhören. Bei den Eltern hört man da oft gerne weg, wenn es um Gefühle geht. Ich denke, dass liegt daran, weil wir unsere Eltern ja oft auf so ein Podest stellen, das sie von all den Fehlern und Zweifeln fern hält, mit denen man sich selbst durch den Alltag schleppt. Das ganze spielt sich so auf drei Ebenen ab. Die kommen sich alle total fremd vor, dabei sind sie auf einer emotionalen Ebene tief verwoben, was sich ja am Ende auch zeigt. Das Ende ist eh stark gemacht.

»Weil ich nicht weiß, ob das stimmt? Weil ich nicht weiß, was er dort getan hat?«
Sind das nicht eher Feststellungen? Also für mich müssten die Fragezeichen da nicht her. Aber der Text enthält eh außergewöhnlich viele Fragen, was natürlich den Ich-Erzähler auch charakterisiert.

Warum Opa Willi, den ich noch nicht mal auf Fotos gesehen habe? Wen interessiert der noch?«
Was für den Vater heißt: wer interessiert sich noch für dich, wenn du ein paar Jahre tot bist. Ein furchtbarer Gedanke.

Er nickte und ich ließ ihn da sitzen im Auto, das langsam zu regnete.
Das hat mich kurz raus geworfen. Die Formulierung ist nicht ganz geglückt, finde ich.

Ansonsten ein toller Text. Dafür kriegst ein "gern gelesen" von mir.

Beste Grüße

Hacke

 

All die Jahre zusammen war jeder von uns Dreien alleine für sich.​

Der Titel,

lieber Morphin,

ließ mich auf den ersten Blick, also unwillkürlich an Wilhelm Hauff denken. Nicht etwa, weil ich wie Zwerg Nase in Deinen autobiografischen Notizen wie im Kräutlein [ge]Nießmitlust herumschnüffel (das tun hoffentlich auch bald mehr als bisher, aber beim zwoten, dem Ort einer Sage, die im 13. Jh. aufkam, dem Rattenfänger von Hameln, also wusst ichs dann, wie sich der Pakt Peter Munks mit dem Holländermichel dort hineinschleicht über Großvater – der zufällig (oder etwa doch nicht?) den Vornamen Hauffs trägt – und dem Vater, einem Repräsentanten der vaterlosen Gesellschaft

Ich lag dort. Der kleine Heinrich, und schrie mir die Seele aus dem Leib. Aber da war nur Mutter. Niemals er. Niemals mein Vater.
da hatt ich dann den Plural zusammen mit einem dann gegen Ende dann doch keineswegs mehr überraschenden Schluss nach der Augen- und Selbsterkenntnisszene.

Da werd ich bestimmt noch mal drauf zurückkommen, aber erst mal vor allem Infinitvsätze mit Satzzeichen versehn (warum nich einfach zu jeder Infinitivgruppe ein Komma wagen – ist doch nicht verboten - und wenn schon, bezweifel ich, dass Du’s Dir verbieten ließest)

… und Mutter versuchte[,] ihm die Schuhe anzuziehen, aber es …
Mit der linken Hand versuchte er[,] sich die Mütze aufzusetzen, seine ...

Hier kann man hingegen - ohne Schuld auf sich zu laden - das Komma weglassen
Mit einem vorsichtigen Druck auf die Fensterautomatik, öffnete ich meine Seitenscheibe ein wenig …

Ohne Worte
…, dem heutigen Verkehr in keinster Weise gewachsen.

Schoss
Schießt da wer? Besser: Schoß

Wie immer: Gern gelesen vom

Friedel

 

Hei Morphin
Tolle Geschichte, hat mich voll in ihren Bann gezogen, ich empfand sie total authentisch erzählt, nicht nur, da du sie im Kommentar als Teil der Realität bezeichnest, nein sie wirkt einfach authentisch.

Der Einstieg zu Hause - voll gelungen. Du zeichnest mit knappen Worten schnörkellos eine Kleinfamiliensituation und ohne grosse Ausschweifungen deren Alltag mit ihren feinen Nebengeräuschen. Früher mit seiner Arbeit verheiratet, jetzt ein Pflegefall, ist er schon wieder nicht der Vater, den Heinrich gerne (gehabt) hätte.
Die Fahrt im Auto birgt für mich die Schlüsselszene, wie der Vater die Büchse der Pandorra öffnet, im Wissen der kurzen Zeit, die noch verbleibt.
Schön auch, dass die Kriegsgeschichte nur den Rahmen vorgibt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, dort steht dafür der unausweichliche Vater-Sohn-Konflikt. Es könnte auch ein ganz anderer Aufhänger dafür dienen, und das gefällt mir an deiner Erzählweise.

Die Schlussszene ist ein Highlight, ich spürte totale Nähe zu deinen Protagonisten, war sogar peinlich berührt, wie Heinrich den Anfall seines Vaters routiniert meisterte. Wäre ich dabeigestanden, hätte ich mich beschämt abgewendet, zu intim ist die Szene mit Heinrichs Erkenntnis und der Vergebung.
Klingt jetzt bisschen schmalzig, kann aber mein Gefühl nicht besser beschreiben.

Danke für diese Perle.
Gruss dot

 

Servus alle,

so schönes Wetter draußen. Warm und die Sonne scheint. Weiße Wolken ... toller Spätsommertag. Ich hole mir jetzt mal Kuchen und Kaffee. Ihr auch was?

Hacke
Danke! Stimmt, das mit dem Auto hab ich mal geändert. Vater-Sohn-Geschichten sind ja oft kompliziert. Glücklicherweise habe ich den Opa ja nicht gekannt. Da Opa-Enkel-Beziehungen ja meist besser sind, wäre die kalte Dusche nach der Erkenntnis schlimmer gewesen. 1982 hat die Stadt Hameln den friedhof räumen lassen, weil dauernd irgendwelches Nazi-Gesocks Gedenkveranstaltungen da abhielten.

Friedrichard
Was wäre ich ohne Deine Deutschkenntnisse? Verloren zwischen den Regeln, ein Ertrinkender. Danke fürs Lesen und korrigieren. Bei Gelegenheit geb ich mal einen aus. So nen Altherrenkaffee und so ... :D

flammbert112 (heißer Nick)
Stimmt, Mutter-Sohn-Kiste hat ein wenig angetäuscht. Danke, dass Du weiter gelesen hast. Ist auch eine meiner kürzeren Geschichten, was mich immer ganz unzufrieden zurücklässt. Keine Ahnung, warum ...

dotslash
Auch Dir meinen Dank. Wir sehen uns eh in drei Wochen, nicht? Hoffentlich pisst es nicht die ganze Zeit ... ja, das mit der Kriegsgeschichte sollte möglichst nicht zu weit nach vorne kommen. Dafür sind andere Geschichten dann zuständig. :;

Bis die Tage und Grüße

Morphin

PS.: Dieses "Markieren", ich vergass ... muss ich jetzt das @ weglassen, sonst wird der Server überlastet. :D

 

Wieder eine Geschichte, die mich auf Anhieb sehr anspricht. Man muss sie zwei Mal lesen, manche Sätze auch mehrmals: "Ich ließ mir einen Kaffe ... " Fehlt da nicht etwas? Nein, es geht. "Sinnbefreit" geht mir allerdings auch beim 4. Mal nicht ein - oder es müssten noch ein paar andere so abgehobene Wendungen folgen, mit denen der Erzähler sich vom "einfachen Volk" absetzt. Schön, dass man am Ende versteht: er hat die Gebäudereinigungsfirma vom Vater übernommen, damit auch den Anfang versteht. Gut konstruiert! "Vierpunktstock" wohl nur Eingeweihten bekannt, mir nicht. Auch "KSC-Bunker" nicht. Sollte mit einem Halbsatz erklärt oder weggelassen werden, finde ich.
Kiebitz

 

Tach Kiebitz,

vielen Dank fürs Lesen und deinen Beitrag.

Vierpunktstock
KSC

Nicht dass Du denkst, ich wäre ein Fußballfan! :; So was kommt mir nicht ins Haus. Also an dem "sinnbefreit" hänge ich jetzt nicht unbedingt. Kann ich auch ändern. Obwohl ich auch schon das "einfache Volk" dieses Wort habe sprechen hören. In Zeiten von RTL-Big Brother-Dschungelcamp-usw haben wir ja eine Verbreitung massenuntauglicher Termini.

Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin,

auf deine Geschichte kam ich durch die Empfehlung, und die war zu 100% richtig. Eine berührende, gut ausgebaute und wahnsinnig toll formulierte Geschichte. Hat mich 'mitgenommen', in mehrfacher Hinsicht, vielen Dank!

Grüße,
Eva

 
Zuletzt bearbeitet:

sorry, kam wieder doppelt :-)

 

Hey Morphin

Hat mir wie immer gut gefallen und ich glaube nicht, dass ich eine 'bessere' Art und Weise gefunden hätte als dotslash, um zu sagen, was mir so gut gefiel:

Schön auch, dass die Kriegsgeschichte nur den Rahmen vorgibt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, dort steht dafür der unausweichliche Vater-Sohn-Konflikt.
Man hätte da jetzt auch wieder irgendeine Moralpredigt draus bauen können, wie schlecht und böse das doch alles war etc, aber das hast du nicht gemacht, was mir sehr gut gefallen hat. Klar könntest du da jetzt mit dem einfachen Argument kommen und sagen, dass das eben so in der Realität passierte und du es auch deswegen so geschrieben hast, aber hey, ist ja wohl eines Schriftstellers Metier die Realität zu manipulieren und dass du das genau hier nicht gemacht hast, finde ich ziemlich gut.

Um aber mal noch kurz meckern zu dürfen: "Sinnbefreit" finde ich hier jetzt auch nicht so passend. Am Anfang habe ich mir nichts dabei gedacht, bis ich dann bei dem Dialog mit dem Pförtner ankam. Da dachte ich mir, dass die legere Aussprache des Protagonisten irgendwie nicht mehr dazu passt. Natürlich ist es nur ein einziges Wort und davon wird auch definitiv nicht das Gesamtbild zerstört.

Ansonsten... Wie immer gerne gelesen, würde es wieder tun.

zash

 

@ Eva Luise Groh
Vielen Dank fürs Lesen. Schön, dass die Geschichte Dich mitgenommen hat. So sollte es sein.


@ zash
Moralpredigt ist ja immer dann sinnlos, wenn wir nicht wissen, was wir getan hätten. Und dass dies alles nach wie vor und immer mehr ein Reizthema ist, sieht man ja an den aktuellen 1.-September-1939-Diskussionen. Offenbar sind es viele Menschen ja leid, immer wieder damit konfrontiert zu werden, vor allem ganz junge und ganz alte Menschen.

Ein Aspekt in all dem taucht auch erst seit knapp zehn Jahren auf. Der Aspekt der Kinder und Enkel. Das ist ungefähr so, wie die Ahnenforschung vieler US-Amerikaner nach ihren Herkünften, wenn sie alt sind und Zeit haben. Ich stelle das immer mehr fest in meiner Umgebung, dass die Leute sich fragen, was die Vorfahren gemacht haben. Das scheint so ein Effekt des Alters zu sein. Ein zweites Kennenlernen seiner Eltern oder Großeltern.

In unserem Fall kommen wir natürlich genau in diese Zeit hinein und oftmals finden sich dann in den Fotoalben und Schuhkartons viele Hinweise da drauf. Plötzlich entstehen Fragen. Und die lassen einen nicht mehr los.

Meinen Dank an Dich fürs Lesen und die Gedanken darum.

Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin,
Autobahn, Geschäftsreise, Ungarn-LKW, KZ, Vater, Opa, Tod – das sind Stoffe, aus denen – wenigstens in Deutschland – der Alltag besteht.
In „Kalte Herzen“ wird aus einer normalen, alltäglichen Dienstfahrt ein Festtag.

Wie angeklebt bohrte sich mein Blick in seine blauen Augen, die sich langsam wieder beruhigten. Ich erkannte mich. Das war er und das war ich. Sein Schmerz steckte in mir. Sein Hass, war mein Hass. So weit wie nur möglich musste er fliehen, bis an den äußersten Rand seiner Seele, bis an den Abgrund, und dabei verlor er uns. Schon als er klein war, verlor er uns. Mutter und mich.
Diese Erkenntnis bringt ein neues Verhältnis zum Vater zum Vorschein.
Dabei dreht es sich um die Verbrechen des Großvaters, der hingerichtet wurde. Sein Schatten verdüstert das Leben von Generationen von Kindern. Und zwar nicht direkt, denn niemand wusste, dass er als Kriegsverbrecher gehenkt wurde (außer dem Vater). Als Schatten wohnen diese Figuren in einem Schattenreich des Schweigens in der Nachkriegszeit und pochen so lange an die Tür zum Bewusstsein, bis sie mit Schmerzen geboren werden.
»Aber warum jetzt? Nach so langer Zeit? Warum ausgerechnet heute?«
»Ich … ich, äh«, er sah mich von der Seite an, blickte auf das Lenkrad, ich fuhr die Ausfahrt hinaus, auf die Südumgehung, Richtung Bulach. »Ich weiß, dass ich bald nicht mehr da bin.«
In der einschlägigen Literatur über transgenerationale Traumatisierung wird festgestellt, dass in höherem Alter, oft dramatisch, solche Kindheitserlebnisse lebensverdüsternd durchbrechen, obwohl das bisherige Leben anstandslos gemeistert worden war. Nicht nur der nahe Tod verursacht dies, auch der Abschied vom Beruf, die Neuorientierung vieler Ehepaare nach dem Weggang der Kinder oder die schwindende Zukunftsorientierung.
Du hast in diesem dialogbetonten Text die beiden Personen von der Kalte zur Wärme geführt. Kalte Herzen passt gut, denn freezing ist eine „Bewältigungsmöglichkeit“ von Traumata.
Merkwürdig ging es mir mit dem LKW aus Ungarn.
Ich kann nicht herauskriegen, warum dieser LKW aus Ungarn überhaupt erwähnt wird. Eine Anspielung auf die ungarischen Nazis, die oft sehr stramm waren?
Ich starrte auf den Lastwagen vor mir. Aus Ungarn. Wir alle würden uns daran gewöhnen müssen, dass der Verkehr aus Osteuropa nun um einiges zunähme.
Wann wurde der Text geschrieben. Ich bin an ungarische LKWs auf der Autobahn Regensburg - Passau schon lange gewöhnt.
Mich hat dieser Teil stutzig gemacht, weil ich etwas „Ungarisches“ erwartete.

Ich lag dort. Der kleine Heinrich, und schrie mir die Seele aus dem Leib. Aber da war nur Mutter.
Die vaterlose Gesellschaft!
Gern gelesen? Kann man so eine Geschichte „gern“ lesen?
Mit Gewinn gelesen!
Trotzdem fröhliche Grüße
von Wilhelm Berliner.

 

Hallo Wilhelm Berliner,

meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Zuerst Deine Frage nach der Entstehungszeit ... quasi exakt am Tag des Postens (ich seh grad, war ja der Geburtstag von ming Frouw). Erlebt wurde das aber im Herbst 1990, die Eiserne Mauer fiel, die Menschen rochen frische Luft, hüben und drüben. Ich wollte das auch nicht in der Zeit nach vorne legen, denn altersmäßig musste das ja passen.

Mein Opa war 40, als er 1948 gestorben wurde, mein Vater 51, als er Anfang 1991 starb, ich war 1991 siebenundzwanzig.

Der ungarische Lastwagen ist so ein Kulminationspunkt, auf den man starrt, wenn man im Auto sitzt, seinen Gedanken nachhängt oder einer mehr oder minder großen Leere. Man fixiert etwas, um nicht hören, sehen oder sprechen zu müssen.

Insgesamt jedoch ein - auch gesellschaftlich - sehr interessantes Thema. Vor allem spannend. Was aus den Menschen da plötzlich herausbricht, wie man auf einmal die Winkelzüge in deren Leben versteht, Charakterzüge, Reaktionen einsortieren kann, Rätsel sich lösen und neue sich ergeben; und wie auch die Generationen danach damit umgehen. Ein bedeutsamer Verwandter von mir ist seit langem in einer evangelikalen Freikirche, Hardcore; dort hat er in einer "Ahnenvernichtungsaktion" alles "Böse" aus den sieben vorigen Generationen auslöschen lassen, auf einer sogenannten "Konferenz".

Tja, ich wünsch Dir ein schönes Wochenende.

Morphin

 

Hallo Morphin,

Ein bedeutsamer Verwandter von mir ist seit langem in einer evangelikalen Freikirche, Hardcore; dort hat er in einer "Ahnenvernichtungsaktion" alles "Böse" aus den sieben vorigen Generationen auslöschen lassen, auf einer sogenannten "Konferenz".
Das klingt nach einer interessanten Geschichte.
Fröhliches Wochenende
Wilhelm

 

Wow,

das ist ja mal starker Tobak, den du hier anbietest.
Musste ich erstmal durchatmen, bevor ich mich an s Kommentieren machte.
Nachdem ich deinem Horror-Text nicht ganz so viel Gutes abgewinnen konnte, musste ich einfach einen anderen Text von dir lesen. Und bin dann über die Empfehlungen (endlich wieder da!) hier gelandet.
Das ist schon interessant, diese beiden Texte so dicht beieinander gelesen zu haben. Man liest dich schon raus, aber der Horror-Text, den fand ich an vielen Stellen schon sehr bemüht. Hier hingegen, hier flutscht alles, vollkommen Souverän führst du durch die Geschichte. Baust Spannung auf und bringst heftige Nähe.
Zugegeben, den Einstieg, den finde ich etwas lahm, also es hat schon ein paar Zeilen gedauert, aber als sie dann im Auto sind. Sehr gelungen. Einie gekonnte Art den Dialog aufzufrischen, mit den Fahrmanövern. Wohl dosiert platziert.
Auch die gemeine Art des Sohnes, das ist ja teilweise schon ziemlich krass, die ist stimmig. Und auch das Ende, das Erkennen in den Augen, das hat seine Berechtigung und transportiert das Verhältnis auf eine neue Ebene. Wie es sein soll, Entwicklung.
Mehr ins Detail muss ich nicht gehen. Die GEschihcte wirkt, bin nirgends angeeckt.
Ach so, beim zweiten Kaffee holen, da fehlte glaube ich was im Satz (bin grad zu faul das rauszusuchen)

Zu Recht empfohlen
grüßlichst
weltenläufer

 

Servus weltenläufer,

auch hier meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich hab mal nach dem zweiten Kaffeeholen geguckt ... außer dass es süddeutsch-umgangssprachlich ist ("lass mir mal nen Kaffee raus"), kann ich keinen Knoten entdecken. Ich könnte auch "zog mir noch einen Kaffee" oder "drückte mir noch einen Kaffee" schreiben. Ist wahrscheinlich geläufiger. Das mit der Umgangssprache, dem Dialekt, ist manchmal ein echtes Hindernis. Ich hab Jahre gebraucht, das hier allseitig verwendete "wie" mit dem "als" zu ersetzen. Fällt einem gar nicht auf.

Freut mich jedenfalls, dass es Dich gut unterhalten hat.

Abendliche Grüße
Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Morphin!

Schön wie die Szenerie langsam vor dem Auge des Lesers offen gelegt wird.
Mit Dialog, also auf die elegante Art. Der Vater als Problemkind.

Diese Art zu schreiben ist für mich so eine Art Benchmark. Das ist wirklich gut und effektstark geschrieben. Ich möchte so gut oder noch besser schreiben. Am liebsten natürlich noch besser, Morphin. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie man das anpackt. Wo wäre in der Geschichte noch ein Potential auszureizen?

Ich sehe nur ganz kleine Absacker im Lesefluss: Wo der Leserinteresse zwar nicht erlahmt, das ist nie der Fall, aber so ein kleines bisschen abflacht. Wo man nicht weitergetrieben wird. Wo der Schwung nachlässt.

Weil die Socken zu eng waren, die Schuhe verkehrt herum, was offenkundig nicht stimmte, aber er so meinte;

Muss der letzte Teil sein? Etwas weiter unten kommen dann die Schuhe/Socken eh noch mal.

Stau auf ganzer Linie, sozusagen.

Das mit dem Stau: Interessanterweise hat das so geschrieben auch eine bremsende Wirkung auf den Leser. Vielleicht ist es auch nur das „sozusagen“, das ich hier nicht brauche.

Danach ist man wirklich ganz drinnen, einfach weil diese Frage so stark ist:

»War Dein Opa ein Verbrecher?«

ob „Opa Willi ein Verbrecher sei“?

Da es direkte Rede ist, könnte man hier wohl auch das schlankere „war“ nehmen, oder? Außer man kommt aus sehr guter Familie. Ist vielleicht auch regional ok, in meinem Umfeld würde halt kaum jemand „sei“ sagen.

Die Passage danach: Manchmal ist man versucht, den Prot zu emotional/erregt wirken zu lassen, so als wäre er für den Leser eine Art Animateur/Einpeitscher, der ihm die erwünschten Gefühlslagen vorgibt. Ich finde du bewegst dich hier, wo es ans Eingemachte geht, in einem gesunden Rahmen, aber manchmal spüre ich einen Hauch Manipulation.
Ich habe hier immer den Merksatz vor Augen: Wir wollen Gefühle nicht beschreiben, wir wollen sie erzeugen.


»Du sollst mich nicht verhöhnen. Warum tust Du mir weh?«

Weiß nicht ob das gut kalibiriert ist. Vor allem das „Warum tust du mir weh?“ So schätze ich den Vater nicht ein. („Lass uns über meine Gefühle reden …“) Sondern irgendwie - deutscher. Jemand der dicht hält.

ein Häufchen verbranntes Elend

Darf man stehende Redenwendung einfach so ausschmücken? Das wäre Musik in meinen sonnengebräunten Ohren!


„Du willst aufräumen, nicht wahr?...“

Vielleicht sollte das vorher in die normale Erzählung? „Hier wollte jemand aufräumen.“
Mein Gedanke dazu: Du zeigst den Prot als jemand, der gerade noch ziemlich überfordert ist. Dann gibt er aber doch eine ziemlich konzise Antwort. Wo hat er die auf einmal her, fragt man sich. Ist aber keine so große Sache. Ich kann es nicht so gut erklären, aber du solltest auch auf der Erzählebene den Kontakt mit dem Leser halten. Die Erzählstimme des Ich-Erzählers geht verloren, wenn alles als Dialog abläuft. Dann kann der Dialog auch maßgeschneidert (für den Adressaten, nicht für den Leser) sein, man kann mehr weglassen. Was ja im ersten Absatz bravourös gemacht wird. Macht keinen Sinn? Dann vergiss es wieder.

Sein Hass, war mein Hass.
Beistrich weg.

Ich widerspreche hier auch mal Anakreon:

Das ist doch völlig sinnbefreit.

Ich bin sehr für das „sinnbefreit“, da es den Icherzähler ziemlich gut in einer Generation und einer Bildungsschicht verankert. Mehr kann ein Wort nicht tun, um einen Helden zu charakterisieren.

Eine wirklich tolle Geschichte.

baronsamedi

 

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