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Der Richtige vor Ort

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08.12.2009
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Der Richtige vor Ort

Auf seinem alltäglichen Weg nach Hause fuhr Joey Harris in seinem Kleinwagen mit erlaubtem Höchsttempo auf einer durchschnittlich frequentierten Interstate in Illinois. Seine Arbeit war stupid, schlecht bezahlt und laugte ihn körperlich aus. Er war jeden Tag froh, wenn er diese Zeit hinter sich hatte, obwohl ihn daheim keine Familie erwartete. Er wohnte in einem Zimmer des schadhaften Kabäuschens seiner verarmten Eltern, für deren Lebensunterhalt Joey mit Müh und Not sorgte. Er schuftete in einem zweiten Job abends und am Wochenende für ein mickeriges Gehalt.
Der einzige Lichtblick war seine Leidenschaft für das "japanische Mittelalter". Eifrig kaufte und „sammelte“ er Kenjutsu-Utensilien aus der Ära der großen Schwertkämpfer. Mit billigen Kopien hatte er seine Kammer bis unter die Decke ausstaffiert. Den raren Besuchern vermittelten sie einen Nimbus, der seinem liebenswürdigen Naturell kaum entsprach. Aus Prinzip fuhr Joey japanische Autos. Jedes Mal baute er ein Geheimfach im Unterboden des Kofferraums ein – ein langes aufklappbares Futteral. Darin steckte ein berühmtes Samurai-Schwert, ein Katana von Miyamoto Musashi, dem größten Schwertkämpfer des alten Japan. Er hatte nicht widerstehen können, es in seinen Besitz zu bringen.
Er verfügte über ein Talent, denn er konnte visualisieren. In seinen Tagträumen ging er selbst die undenkbarsten Situationen durch und suchte gedanklich Lösungen. Dieses Vorausdenken prädestinierte ihn zum Meistern unvorhersehbarer Ereignisse, im Gegensatz zu Menschen, die nicht nachdachten.

Rund um die sechsstreifige High Road, auf der Joey Harris nun unterwegs war, veränderte sich die Struktur der Landschaft. Das Asphaltband schlängelte sich durch bergiges Gelände auf halber Höhe an den Abhängen. Fast hüfthohe stabile Leitplanken auf beiden Seiten grenzten die Fahrbahn ein. Nun fehlten die mehrere Meter breiten grasbewachsenen Ausrollbahnen, welche in Ebenen die Autostraßen säumten.
Es war nachmittags, sodass die Belegung der Fahrbahnen zunahm. Auf den drei bergabführenden Spuren in Joeys Fahrtrichtung kam es zu einem Stau wie aus dem Nichts. Immer länger schwoll er an, denn ein Fahrzeug nach dem anderen pfropfte sich hinein.
Joey Harris passte sich an, fuhr langsamer bis Schritt-Tempo, dann ging es gar nicht mehr voran. Er zog die Handbremse und schaltete den Motor aus. Er verinnerlichte seine Lage, wie es seine Gewohnheit war. Er stak mittendrin und auch noch auf der mittleren Spur. Die drei handspannlangen metallenen Leitplanken beidseits, die zur Linken etwas höher liegende Gegenfahrbahn und rechts der steile Hang talwärts ließen keinerlei Ausweichmöglichkeiten zu.
Joey zuckte fatalistisch mit den Schultern und bewahrte durch Aufsagen japanischer Weisheiten die Ruhe. Gelassen beobachtete er seine hektisch und ungeduldig agierende Umgebung und observierte im Rückspiegel die nachwälzende Blechkarawane, die Welle auf Welle unversehens zur Ruhe gezwungen wurde.

Als im Rückwärtsspiegel der Aufbau eines Riesen-LKW über der Kuppe sichtbar wurde, erkannte Joey sofort, dass dessen Geschwindigkeit zu hoch war. Sekunden später hörte er den donnernden Einschlag dieses Trucks in die letzten Wagen des Autoauflaufs. Joey wälzte sich auf dem Fahrersitz herum, um durch das Rückfenster schauen zu können. Er blieb sitzen, denn der Unfall geschah eine halbe Meile hinter ihm.
Minuten später hörte er eine Explosion.
Shit!, dachte er. Jetzt ist auch noch Benzin in die Luft gegangen! Feuer in einem Stau ist das Schlimmste, was überhaupt passieren kann. Hoffentlich kommen die Leute noch aus ihren Autos raus.
Joey stieg aus. Er sah feurige Lohen lodern, welche pechschwarze Rauchschwaden mit sich emporsogen und in die glasklare Luft fortwehten. Der Wind wehte ihm ins Gesicht, sodass er das Knattern der Flammengarben vernahm.
Nun hastete Joey doch an der Planke am Abhang entlang zur Unfallstelle zurück, um helfen zu können. Dort bot sich ihm ein Bild des Schreckens.
Umstehende erzählten ihm genau, was geschehen war. Der Fahrer hatte zwar eine Vollbremsung gemacht, dabei jedoch die Kontrolle über den Zug verloren. Der zwölf Meter lange Aufleger hatte sich quergestellt und den Lastzug vollends umgerissen. Längs über die ganz Fahrbahn war der Truck in die drei Reihen der Blechkarawane hineingekracht. Die Gefährte vor ihm verkeilte der Riesen-LKW zu einem dichten Haufen, drückte alles zwischen den massiven kaum nachgebenden Leitplanken zusammen. Über fünfzig Fahrzeuge aller Art waren zu einem Blechgedränge verrammelt worden, in dem sich keine einzige Tür mehr öffnen ließ.
Danach hatte das Unglück erst richtig begonnen, denn mehrere Benzintanks waren geplatzt. Ein im Stau steckender Mann hatte sich zuvor eine Beruhigungszigarette angezündet. Nach jedem Zug hielt er den Glimmstängel aus dem Fenster und diesen ließ er vor Schreck fallen, während sein Wagen zusammengestaucht wurde. Die glimmende Kippe rollte unter seinen Wagen und entzündete ausfließenden Sprit.
Sechszehn Autos längs der Mittelplanke standen bereits in lohenden Flammen, als die Umstehenden Joey berichteten. Die meisten Insassen waren bereits durch eingeschlagene Seitenfenster, geöffnete Schiebedächer oder sogar durch die Heckklappe ihren potenziellen Blechsärgen entstiegen. Die schwer Verletzten wurden von zahlreichen Helfern herausgezogen, über die Autos hinweg getragen und in Sicherheit gebracht. Auch der Fahrer des Trucks wurde geborgen. Sein Kopf war blutete, aber er gab deutliche Lebenszeichen von sich, als er durch das Fenster der Beifahrertür seines Ungetüms herausgezogen wurde. Joey atmete erleichtert aus, denn er sah keinen Toten.

Im nächsten Augenblick weiteten sich Joeys Augen vor Entsetzen. Umgeben von hilfsbereiten Menschen sah er eine junge Frau, die sich nicht vom Fleck rührte, obwohl sie aufrecht stand. Er drängte heran. Bestürzt stellte er fest, dass ihre Oberschenkel zwischen einem exclusiven Mercedes und der Leitplanke eingeklemmt waren. Der tonnenschwere in die Blechmasse eingekeilte Luxuswagen ließ sich keinen Millimeter bewegen.
Sie stand mit dem Rücken zur Beifahrertür, drehte ihren Oberkörper beständig um und starrte angstvoll in die sich nähernde Flammenwand. Ab und zu gab sie Schmerzenslaute von sich. Immer wieder faltete sie die Hände und flehte die umstehenden Menschen an, sie doch um Himmels willen zu retten. Ein ums andere Mal packten mit bloßen Händen zwei Dutzend Männer, darunter auch Joey, gleichzeitig an Wagen und Planken zu. Obwohl die Not berserkerhafte Kräfte in ihnen freisetzte, schafften sie es nicht, den Spalt zu verbreitern. Die Frau wimmerte und schluchzte zum Erbarmen, als sie die vergeblichen Bemühungen erkannte.
„Ich will nicht verbrennen!“, schrie sie, doch das Knattern der Lohen übertönte sie.
Zahlreiches Werkzeug wurde herangeschleppt und im Einsatz versucht. Weder mit Wagenhebern noch mit anderen Spannmöglichkeiten war der Zwischenraum zu erweitern, nicht um einen Millimeter. Die ersten heißen Luftstöße der bereits bis zur Mitte der Fahrbahn vorgedrungenen Flammenfront röteten den Nacken der unglücklichen Frau. Deren flehentliches Geheul zog die Umstehenden in ein kaum zu ertragendes Mitleiden.
Nun schlug Joeys große Sekunde, denn er wusste die Lösung – die Beine stecken lassen! Jetzt ging’s ums nackte Leben nach der Devise: Lieber halbhoch über der Erde als ganz darunter!
Darauf gekommen war Joey durch einen Zeitungsbericht über eine ähnliche Begebenheit. Damals war das Opfer jämmerlich verbrannt. Als er das schreckliche Foto mit dem aufrechten verkohlten Strunk betrachtet hatte, war ihm zutiefst unwohl geworden.
In Gedanken litt er nachträglich: Solch ein schaurig-scheußlicher Tod! Das Opfer musste ihm hilflos entgegenblicken, spürte ihn nahen und verbrannte unter unvorstellbaren Schmerzen. Hätte sich nicht jemand erbarmen sollen und ihm ein schnelles Ende bereiten können?
Joey hatte damals tagelang seine Gedanken gewälzt und eine Möglichkeit der Rettung ersonnen ...
Sein Samurai-Schwert! Doch es war eine halbe Meile weit entfernt. Daher musste er erst Näherliegendes erfragen: »Hat jemand eine Motorsäge, eine scharfe Machete oder ein langes Küchenmesser hier in der Nähe? … Nicht! Dann rase ich jetzt los und hole mein Schwert! Das ist unsere einzige Chance. Sorgt für nasse Decken und legt sie auf die Frau, damit sie länger aushält!«

Joey raste wirklich los und hätte am liebsten alles erschlagen, was ihm gaffend im Weg stand.
"Weg da! Aus dem Weg!", brüllte er in einem fort.
Nach einhundert Metern stieg er über die beiden Mittelleitplanken und rannte auf der Gegenfahrbahn, die mit geparkten und gaffenden Menschen gefüllt war, zurück zu seinem Auto. Unterwegs rief er einigen kräftigen Männern zu, dass sie auf ihn warten sollten. Sie müssten ihm auf seinem Rückweg den Weg notfalls frei hauen, denn es ginge um Tod oder Leben.
Außer Atem erreichte Joey sein Fahrzeug, gab Funkcode, riss am Kofferraumhebel in seiner Fahrertür und spurtete zum Heck. Er schleuderte den Deckel krachend bis zum Anschlag hoch, zog die Bodenmatte raus und warf diese in hohem Bogen beiseite. Dann löste er die in ihrer wasserdichten Hülle steckende gut einen Meter lange Waffe aus der Verankerung. Mit entschlossenem Gesicht hob er sie aus der Bodenwanne, hielt die lederne Schwertscheide beidhändig zu einer rituellen Geste empor. Dann legte er sie kurz an seine heiße Stirn, bevor er seinen Weg des Samurais beschritt.
Vorwärts ging es leichter. Sein Sturmtrupp, sichtlich von seiner Wichtigkeit überzeugt, leistete ganze Arbeit und pflügte ihm förmlich den Weg bis zur Unglücksstelle frei. Es war höchste Zeit, denn die Hitze war für die Frau trotz der über sie gelegten feuchten Laken fast unerträglich geworden.

Joey erkannte sich nicht wieder. Der unscheinbare Nebenmensch wuchs über sich hinaus, avancierte zum Helden und dementsprechend benahm er sich auch. Mit einem herrischen Ton in der Stimme scheuchte er die nach wie vor hilflos herumwuselnde Männerschar aus dem Umkreis der Frau.
Er stellte sich seitlich mit seiner linken Schulter zur Böschung, damit er das Schwert waagerecht gegen die Oberschenkel der Eingeklemmten schwingen konnte. Zugleich kommandierte er zwei Männern, den Hang drei Schritte hinunterzusteigen, sodass sie den herabfallenden Oberkörper auffingen. Er hatte kaum Spielraum, unter dem Kopf hindurch die Beine knapp über der Oberkante der Leitplanke zu treffen, denn die jammernde Frau hing nach vorn über.
"Ich haue Ihnen die Beine ab! Das ist Ihre einzige Chance! Einverstanden?", brüllte Joey ihr ins rechte Ohr. Die Frau schaffte nur, den Kopf leicht zu heben und mit den Pupillen zu rollen, was Joey als stilles Einverständnis wertete.
Er sah sich ein letztes Mal um. Es war totenstill unter den Menschen geworden, die vor dem Feuer immer weiter zurückwichen. Nur das Knattern der gefräßigen Flammen war weithin zu hören. Joey wendete das Schwert, das noch in der Scheide steckte, und rammte den Knauf mit voller Wucht gegen die rechte Schläfe der Frau. Sie verlor die Besinnung. Er musste sicher gehen, dass sie ihm nicht mit einem Abwehreflex der Arme in die Parade fuhr. Nun sank sie jedoch noch weiter nach vorn und der Raum, durch den er schlagen musste, war kaum noch eine Hand breit. Jedoch konnte Joey keinen Helfer gebrauchen, der anhob und dabei womöglich noch in die Nähe seiner Klinge geriet.
Aber er traute sich diesen Schlag seines Lebens durchaus zu – schließlich hatte er reichlich Übung. In ritueller Manier zog er nun das Schwert aus der Scheide, welche er die Böschung hinunterpurzeln ließ, und packte beidhändig sein scharfes Schwert. Er hielt es senkrecht und fixierte seine Augen auf die nadelscharfe Spitze der stählernen Schneide.

Er erschrak und hielt inne: Der Blutverlust! Verdammt noch mal! Fast hätte ich das doch vergessen! Die Oberschenkelarterien müssen ja noch abgebunden werden!
"Abbinden!", kommandierte er lauthals. "Wer kann abbinden? Sofort her zu mir und die Oberschenkel hier mit Bandagen abdrücken!"
Zwei Zuschauer, eine ältere Frau sowie ein Mann, drängten sich durch die Menge nach vorn und stiegen zu ihm ins Gelände. Die beiden erfahrenen Ersthelfer besprachen sich hastig mit Joey. Sie lösten die Hose der Frau und rissen diese herunter bis zur Planke, sodass die Dame im Schlüpfer stand. Mit Taschenmessern trennten sie den Stoff vom feststeckenden Rest ab.
Gut!, dachte Joey. Besser ist das, denn die Jeans hindert beim Schnitt. Allahseidank, dass ich nicht gleich zugehauen habe!
"Hier!" Die Stimme überschlug sich fast, klang voller Eifer und Wichtigkeit.
Joey merkte auf. Eine junge Frau hielt eine lange Stange in die Höhe. Joey verstand und nickte dankbar.
Inzwischen wickelten die beiden Helfer je eine Stoffbahn der zerteilten Jeanshose möglichst nah am Rumpf um die Oberschenkel. Sie schoben zwei von anderen Helfern in einem Gestrüpp aufgelesene und zugereichte kurze Holzstücke darunter, so dass diese über den Arterien zu liegen kamen. Dann steckten sie zwei lange Schraubschlüssel unter die Stoffbahnen, drehten die Verbandstreifen mit ihnen so fest zu, wie es nur ging. Abschließend fixierten sie das Ganze mit vielfach herumgewickelten Bindfäden und Klebestreifen.
Zuletzt nahmen sie der Frau die heißdampfenden Decken von Kopf und Rücken ab und entfernten sich. Zuvor wünschten sie Joey mit geflüsterten Worten, hoffnungsvollen Blicken und zuversichtlichen Gesten alles Glück dieser Welt.
Joey verankerte sich mit Rammtritten in der Böschung, das rechte Bein gestreckt, das linke angewinkelt. Eine Glutfahne wehte ihm ins Gesicht und sprühende Funken sengten bereits das blonde kurze Haar der Frau vor ihm an.
Die vier Schritte entfernt stehende junge Frau stemmte mit der Stange den Oberkörper der Frau eine Handspanne höher. Das Holz jedoch knarzte dermaßen, als würde es gleich brechen.

Joey hielt das leicht gebogene Schwert mit der scharfen Klinge wieder in ritueller Geste vor sich. Er holte tief Luft, konzentrierte sich auf sein Ziel. Dann drehte er seinen Oberkörper nach rechts, holte weit nach hinten aus und ...
... hielt inne, denn die Frau erwachte aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie zuckte mit ihren Armen. Joey stieg hoch, wendete erneut sein Schwert und hieb den Knauf an die Schläfe der Frau.
Zum dritten Mal ging er in Stellung. Jeder Muskel seines Körpers straffte sich, aus dem Rachen stieß er seinen Kiai wie einen Urschrei heraus: "Haaa-iii!"
Wie ein eherner Blitz sirrte die Samurai-Klinge um Joey herum, durchschnitt gleichzeitig Fleisch und Knochen und blieb mit knirschendem Kratschen im Blech des Mercedes stecken. Der Oberkörper der Frau fiel den unterhalb an der Böschungswand stehenden beiden Männern in die emporgereckten Arme. Sogleich ertönte ein tosendes Begeisterungsgeschrei, der sogar das Rasen der Flammen übertönte.
Joey jedoch ließ sich nicht ablenken. Er packte die stehengebliebenen Fußgelenke, drückte die Unterschenkel nach hinten unter den Autoboden und griff in die Kniekehlen. Mit aller Kraft riss er an den Beinen. Nach mehrmaligem Ruckeln und Reißen gelang es ihm tatsächlich, sie herauszuziehen.

Die Medien hoben ihn hoch in den Heldenhimmel, denn diese Begebenheit war durch Umstehende gefilmt worden, die den Helfern dabei im Weg gestanden hatten. Diese Filmchen wurden von ihren Knipsern gegen gute Dollars versilbert und nur ein paar Dumme stellten sie kostenlos ins Internet. Dies gab der Sensationspresse genug Futter für eine Woche lang „Heldengeschichte vermarkten“. Am achten Tag jedoch holte ihn die Polizei ab und steckte ihn in den Knast. Danach wurde es still um ihn.

Der geretteten Dame wurden die Beine wieder angenäht sowie die zurückgebliebenen Haut- und Fleischfetzen durch Transplantate ersetzt. Ermöglicht wurde dies durch das Kleingeld, das deren Eltern aus der Portokasse nahmen. Diese schickten dem Retter ihrer Tochter einen netten Dankesbrief ins Gefängnis, hundert Doller in Scheinen hatten sie beigelegt. Persönlich vorzusprechen hielten sie nicht für ratsam, denn Joey war schwarz und hatte das Schwert geklaut.

 

Hallo kinnison

Hm, es ist eine auf gewollt billige Action ausgerichtete Geschichte, die Du hier vorlegst. Inhaltlich gibt es schon reale Begebenheiten, was den Kern der Geschichte, die Amputation, ausmacht, etwa von verunfallten Bergsteigern. Würde sich die Spannung an realistischerem Geschehen aufbauen, würde ich es respektvoller wahrnehmen. So war es mir eine nicht unbedingt sympathische Lektüre.

Den Einstieg und das Ende der Geschichte finde ich nicht sehr geschickt aufgezogen, auch wenn Dir eher an einer etwas tendenziösen Story lag. Für den Inhalt spielen weder sein Wohnort noch die ärmlichen Verhältnisse, in der seine Eltern leben, eine Rolle. Der Ausgang der Geschichte, wie der schwarze Protagonist mit hundert Dollar und einem Dankesbrief der vermögenden Eltern der geretteten Frau abgefertigt wurde, muss zwar nicht verfehlt sein, klingt aber in der geschilderten Weise eher nach billigem Vorurteil. Mit etwas Bemühung, hätte sich diese Szene effektvoller einarbeiten lassen, ein wahrlich pointiertes Ende bereitend.

An einigen Stellen blieb ich hangen, da es mir auch in einem solchen Stoff wenig glücklich formuliert erschien. Ein paar Sachen davon habe ich festgehalten.

Eines Tages fuhr Joey Harris in seinem Kleinwagen mit erlaubtem Höchsttempo auf einer durchschnittlich frequentierten Interstate in Illinois seinen alltäglichen Weg nachhause.

Braucht es das eines Tages? Unmittelbarer schien mir der Einstieg mit: Joey Harris fuhr in seinem Kleinwagen … Formvollendeter fände ich es auch, wenn das nachhause hier in zwei Worten zwei Worten aufschiene:
... nach Hause.

Er wohnte im Keller-Appartement des schadhaften Kabäuschens seiner mittellosen Eltern, für deren Lebensunterhalt Joey mit Müh und Not sorgte.

Die Bezeichnung Kabäuschen umschreibt ein niedliches, kleines Wohnhaus. Dass sich da im Untergeschoss noch ein Appartement befindet, klingt mir etwas sehr eigen. Ein kleines Haus, dessen Untergeschoss zu einem Appartement ausgebaut war, erschiene mir bildlich glaubhafter. Da aufgrund des Wohneigentums anzunehmen ist, dass seine Eltern nicht immer gänzlich mittellos waren, wäre verarmt vielleicht präziser.

Eifrig kaufte und „sammelte“ er Utensilien aus jener kriegerischen Ära.

Sind es nicht vielmehr Kopien? Originale Bushido-Utensilien sind meines Dafürhaltens höchst kostbare Antiquitäten, die wohl kaum erhältlich und wenn dann preislich mit ausgewählten Werken auf dem Kunstmarkt vergleichbar sind. Zudem gab es vor und nach der Samurai-Tradition auch kriegerische Zeiten, da würde ich eher von einer Samurai-Ära sprechen.

Diese Fähigkeit prädestinierte ihn zum Meistern unvorhersehbarer Ereignisse, im Gegensatz zum kopflos reagierenden Menschen „Marke Otto Normaldenker“.

:lol: Entschuldige bitte, hier musste ich laut lachen. Durch Visualisierung und Tagträume zu übersinnlichen Fähigkeiten zu gelangen, gehört doch höchstens ins Repertoire esoterischen Wunschdenkens, aber nicht in wirklichen Alltag?

Nach dem jedem Zug hielt er den Glimmstängel aus dem Fenster und diesen ließ er vor Schreck fallen, während sein Wagen zusammengestaucht wurde.

Sein Kopf war zwar blutbedeckt,

Sein Kopf blutete. Allenfalls war er blutüberströmt, wobei das eher unwahrscheinlich ist, ebenso wie bedeckt.

Er holte tief Luft, konzentrierte sein Zen auf sein Ziel.

Kein Japaner würde sich so artikulieren, auch in Gedanken nicht, es fehlte da an Respekt vor diesem „Geist“. Diese Floskel würde ich streichen. Es klingt realistischer, wenn es lautete: … konzentrierte sich auf sein Ziel.

Soweit mein verbaler Eindruck zu dieser Geschichte. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 
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Hallo kinnison,
Ich habe Deine Geschichte schon vor drei Tagen gelesen, aber noch keinen Kommentar dazu schreiben können. Das will ich heute nachholen.

Im Allgemeinen fand ich den Text spannend und ich möchte nicht behaupten, die Spannung sei durch billige Action aufgebaut worden. Ich denke, das sind die unterschiedlichen Sichtweisen und auch Erfahrungen. Ich habe vielleicht noch nicht so viele Geschichten gelesen, die in die Richtung gingen.

Zum Ende hin fand ich den Lesefluss nicht mehr so leichtgäng, wie der Text so daherkam. Das Ende fand ich ein bisschen konstruiert. Es gibt sicher in Amerika noch viele Weiße, die ein Problem mit Schwarzen haben. Wenn aber das Leben der eigenen Tochter nur hundert Dollar wert gewesen ist, dann sieht das für mich doch nach ziehmlichen Arschlöchern aus. Sicher ist der Kontrast schön dargestellt, dass der Prot. am Unfallort der Hald war, egal, wie er aussah und im Gegensatz die Eltern der Verunfallten, die zu ihr ja eine viel andere Bindung haben als die Umstehenden Gaffer und Helfer haben. Es hätte es der Geschichte sicher noch besser getan, wenn man die Eltern, bzw. die Familie der Verunglückten, in irgend einer Weise schon kennen gelernt hätte. Ken Follet hat das in seinem Roman "Nacht über den Wassern" sehr eindrucksvoll gestaltet.

Ich will Deine Geschichte aber nicht zerreden. Ich habe sie gern glesen.

Gruß
khnebel

 

Hallo khnebel,
ich danke Dir für Deinen Kommentar!
Bevor ich diese Geschichte etwas umgeschrieben habe, endete sie anders: Die gerettete Frau war eine Schwarze, die ihren Retter heiratete und deren Tochter wurde später Präsidentin der USA.
Dieses Ende hätte Anakreon – vielen Dank für die Anregungen zum Text, ich habe sie alle "eingebaut"! –, sicherlich besser gefallen.

Gruß
kinnison

 

Dieses Ende hätte Anakreon – vielen Dank für die Anregungen zum Text, ich habe sie alle "eingebaut"! –, sicherlich besser gefallen.

Mir ging es als Leser vorab darum „wie“ die Sequenz sich darstellt, es im Kontext zur gesamten Geschichte wirkt und weniger, ob meine Erwartungshaltung eines möglichen Ausgangs sich darin erfüllt. ;)

 
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Hallo Kinnison


Es ist eine irre Geschichte, die man einfach zu Ende lesen muss, das heißt, sie hat einen guten Zug. Ich finde die Spannung wird mit dank all der kleinen Hindernisse, die sich diesem Hobbysamurai in den Weg stellen, sehr gut aufgebaut. Es gibt also eine perfekte Rhythmik, die etwa ab dem Teil greift, wo klar ist, dass das Schwert zum Einsatz kommt.

Ich habe mir beim Lesen ein paar Notizen gemacht, mich aber am Ende gefragt, ob man durch ein übliches Lektorat dieser Geschichte nicht etwas von seiner einzigartigen Wirkung nimmt. Sie braucht das Drastisch-Schrille in etwa so wie ein Splatter-Movie. (Und auch sonst hat sie ja ein paar Ähnlichkeiten mit diesem Genre.)
Es geht hier also auch um guten schlechten Geschmack, oder um Kunst vs. genialer Nonsens. Also um die Frage, ob man selbstbewusste Antiliteratur machen will oder lieber Literatur im üblichen Sinn. Im zweiten Fall müssten man dem Text ein paar Zähne ziehen.

Ich denke etwa an die vielen Adjektive:

Er sah feurige Lohen lodern, welche pechschwarze Rauchschwaden mit sich emporsogen und in die glasklare Luft fortwehten.
Das hat zugegeben etwas von Richard Wagner, aber es ist eben auch ein ziemlicher Adjektivoverkill. Oder hier:

Die ersten heißen Luftstöße der bereits bis zur Mitte der Fahrbahn vorgedrungenen Flammenfront röteten den Nacken der unglücklichen Frau. Deren flehentliches Geheul zog die Umstehenden in ein kaum zu ertragendes Mitleiden.


Dort bot sich ihm ein Bild des Schreckens.

Achtung. Dieser Satz ist ein Klischee. Aber wenn man diese comics-artige Ästhetik gut findet und bewusst ausbeuten will, kann man womöglich sogar das drinnen lassen.

Was mir nicht gefällt (und zwar egal, als was du die Geschichte verkaufst) ist das Ende, also die letzten zwei kurzen Absätze.

Ich war bis zu diesem Zeitpunkt von der Blutorgie so begeistert, dass ich es schöner gefunden hätte, wenn er mit den beiden Stümpfen die Böschung hinunterstolziert wäre und ihr die blutigen Beine zu Füßen … äh einfach hingelegt hätte.
Die Frau, die inzwischen durch den Schmerz wieder zu Bewusstsein gekommmen ist, hätte ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt und ihn gebeten, eines der Beine zu behalten. Als Andenken.
Es bekommt dann natürlich einen Ehrenplatz im Kabäuschen.

Liebe Grüße

baronsamedi

 
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Hey, baronsamedi!

Dein Vorschlag zum "Ende" hat was!
Das würde wohl auch dem "Irren Jack Ketchum" besser gefallen ... und damit habe ich auch die Antwort auf die Art der Literatur, die ich verfasse(n möchte). Allerdings gehe ich nur inhaltlich vom Mainstream weg, jedoch will ich "in der Form bleiben", also keine "Splattertexte" verfassen. "Splattern" kann ich nämlich genauso wenig wie Gedichte schreiben.
JA! Der "Bild-des-Schreckens-Satz" ist ein Klischee und ein Beispiel für unüberlegtes Schreiben, verursacht durch schablonenhaftes Denken! Danke für's Aufspüren!
Das mit dem "Adjektive vermeiden" geriert nach meiner Meinung schon zu einem Mantra und irgendwann schreiben alle im "Hemingway-Stil". Also von einem Extrem ins andere. Ein überlegter und vor allem dosierter Einsatz von Adjektiven sollte die "Goldene Mitte" sein.

Korrekturen folgen ...
kinnison

 

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