Was ist neu

Die Nacht

Mitglied
Beitritt
20.06.2014
Beiträge
26
Zuletzt bearbeitet:

Die Nacht

Auf dem Nachttisch neben dem Doppelbett stand die Dose mit den Kartoffelchips. Goldfrittierte Scheibchen in einem eckigen, klaren Kunststoffbehälter mit einem gelben Deckel. Mia hatte das Gefäß vor dem Befüllen ausgiebig geputzt und eine lichtgrüne Seidenschleife darum gebunden. Jetzt glänzte alles, die Schleife, der Kunststoff. Das Weihnachtsgeschenk für ihren Vater - selbstgemachte Chips.

Gegenüber dem Bett stand das grüne Sofa, auf dem der Vater die Nacht verbrachte, weil Mia darauf nicht schlafen konnte. Die Übergänge zwischen den Polstern waren zu kantig, zu hart.
So lag sie neben ihrer Mutter im großen Bett, als es passierte.
Mia war erkältet, sie hatte diese merkwürdige Krankheit, bei der sich jede Menge Speichel in ihrem Mund sammelte, den sie nun ständig herunterschlucken musste. Tagsüber war es nicht so schlimm, da war sie abgelenkt durch das Wandern im Schnee, die Kälte, die ungewohnte Umgebung. Aber nachts quälte sie sich damit und schlief schlecht.
Mia war in einer ihrer kurzen Schlafphasen, als sie von einem schnaubenden Geräusch geweckt wurde. Etwas in der Mitte ihrer Brust zog sich krampfartig zusammen. Sie sah zur linken Bettseite, wo ihre Mutter heftig zuckte, sah ihren Oberkörper sich mehrmals hoch aufbäumen, den Schaum vor ihrem Mund.
Dann plötzlich Stille.
Der Vater war aufgesprungen, Mia schaute in seine entsetzt blickenden Augen. Er zog sich rasch etwas über und eilte hinaus, um einen Arzt zu holen. Mia saß auf dem Bett und beobachtete den Körper ihrer Mutter. Sie traute sich nicht, den Blick abzuwenden. Nichts rührte sich mehr. Nichts? Mia schaute auf die weiße Bettdecke über dem Bauch ihrer Mutter. Keine Bewegung. Nichts. Mia fixierte den Rand der Decke. Dann bemerkte sie, wie sie sich ganz leicht hob, kaum auszumachen, fast nicht zu spüren. Mia hielt den Atem an. Beobachtete, wie die Decke sich minimal senkte. Dann nichts, dann wieder ein winziges Wölben und dann ein leichtes Sinken. Mia war wie gebannt auf diese Bewegung ausgerichtet, wagte es nicht, den Blick abzuwenden, denn dann könne der Atem ihrer Mutter anhalten. Wenn sie sich selbst nicht regte, konnte sie alles wahrnehmen, auch die allerkleinste Veränderung. Sie musste das kontrollieren. Sie durfte nicht aufstehen, sich nicht umdrehen, sich nicht bewegen. Es war niemand da, der aufpassen konnte, sie musste das tun. Wenn sich nichts rührte, stimmte etwas nicht, dann hatte sie nicht genau hingesehen, war abgelenkt. Wenn sie sich Mühe gab, dann war alles gut und sie konnte jede Bewegung erkennen.
Eine Stunde später kam der Vater mit dem Arzt. Er fühlte den Puls, das Herz, schob die Augenlider hoch. Und senkte bedauernd den Blick.

Den Rest der Nacht verbrachte Mia in den Armen ihres Vaters auf dem grünen Sofa. Die ersten Sonnenstrahlen leuchteten durchs Fenster, als Mia zu weinen begann. Die Tränen flossen einfach so aus ihr heraus, ohne dass sie etwas damit verband. Der Vater weinte nicht.
Nun waren sie zu zweit. Es gab keine Kämpfe mehr, keine Vorwürfe, kein Gezeter, keinen Zwang, nichts, wogegen Mia sich wehren musste. Es herrschte Ruhe, ewige Ruhe.
Die Mutter war tot.

 

Hi,

also ich finde deinen kurzen Text recht intensiv. Am Anfang deiner Geschichte dachte ich noch, das das ja nur Beschreibungen sind. Aber auf einmal zeichnet sich ein Bild ab welches niemand je so erleben möchte. Der Tot der Mutter auf schokierende unerwartete Art und Weise.

Dein Schreibstil, bzw. so wie du beschreibst lies bei mir einen Film im Kopf ablaufen. Es ist recht intensiv wie du schreibst.
Das Ende fand ich auch überrschrend. Wer hätte gedacht das der Tot der Mutter zwar schlimm ist aber im Grunde genommen sogar einigen Druck aus der Familie nimmt. War die Mutter eine Bestie? Es scheint so.

Was mir auch gefallen hat ist das du nichts unnötig dazugedichtet hast. Für mich ist die Länge des Textes genau richtig. Du hast diesen unteranderem dem Genre Weihnachten zugeordnet. Ich für meinen Teil hatte nach dem Lesen total vergessen das du am Anfang Weihnachten erwähnt hast. Im grunde hat die Geschichte nicht viel Weihnachtliches.
Oder sollte man es gar so deuten das die Mutter immer nur Unruhe und Stress und Streit verursachte und das mit ihrem Tot jetzt erst die Besinnlichkeit in die Famile einkehrt?

Ich fand die Geschichte gut. Sie war leicht zu lesen und es ist kein Wort zu viel oder zu wenig. Weiter so, kann ich nur sagen.

Mfg Cozmo

 

Hallo Cozmo Kramer,
Danke für deine Rückmeldung! Deinen Vergleich der Mutter mit einer "Bestie" fand ich überraschend, auch ganz schön heftig. Aber ja, da ist wohl was dran.
Den Bogen zu Weihnachten, den du ziehst, fand ich auch interessant. Ein sehr zwiespältiger Gedanke - eine gewisse Art von Frieden zu finden aufgrund eines so schrecklichen Ereignisses. Das hatte ich so noch nicht im Blickfeld.
Liebe Grüße
Cleng

 

Ja, es ist vielleicht die Heilige Nacht, sicherlich aber kurz vor Weihnachten, wenn auch kein Heiland geboren wird, sondern eine andere Art von Erlösung vorliegt (buchstäblich: im Bett) durchs Abhandenkommen der Mutterfigur,

lieber Cleng,

und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!

Weihnachten ist jenes Fest, wo es in mancher Familien kracht, weil alle Mitglieder bildlich gesprochen aufeinander sitzen und die Erwartungshaltungen zumeist nicht erfüllt werden (da verhalten sich Gewissen und Erwartung wie schlecht zu unerfüllt).

Da ist

Das Weihnachtsgeschenk für ihren Vater - …
aber nichts für die Mutter. Stattdessen liegen die gegensätzlichen Typen in einem Bett,
die Tochter schluckt - wenn schon nicht alles, so doch Schleim in sich hinein
…, bei der sich jede Menge Speichel in ihrem Mund sammelte, den sie nun ständig herunterschlucken musste.
Es entäußert sich die Mutter mit Schaum vorm Mund. Und als die Mutter kalt wird, wechselt Mia ihr Lager …
Sollte die ganze Misere aus Konkurrenzverhalten der Frauen um den Vater entstanden sein? Ob Bestie oder nicht: Es wäre Dir buchstäblich auf kleinstem Raum eine interessante Elektra-Variante in moderner Zeit geglückt.

Zu Trivialerem:

Hier scheint Dich ein wenig Flüchtigkeit übermannt zu haben, was natürlich im Gegensatz zu einem sehr langen Text so etwas wie Nachdenklichkeit auslösen muss (einmal –n statt –m, ein in zu viel:

…, als sie von einem schnaubende[n] Geräusch geweckt wurde. Etwas in […] der Mitte ihrer Brust zog sich krampfartig zusammen.

Gleichwohl: Eine merkwürdige Geschichte, die genau so wenig hergibt, dass dem Leser größtmöglicher Gestaltungsraum bleibt.

Gern gelesen vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Friedel,
interessante Aspekte, die Du hervorhebst. Die mir so noch nicht aufgefallen waren, sich für mich nur "stimmig" angefühlt hatten. Das finde ich dann sehr schön, wenn sich das begründen lässt.
Ja, auch Freude, dass ich die Korrektur mal eben schnell machen kann;-)
Viele Grüße
Cleng

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom