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Die Nacht
Auf dem Nachttisch neben dem Doppelbett stand die Dose mit den Kartoffelchips. Goldfrittierte Scheibchen in einem eckigen, klaren Kunststoffbehälter mit einem gelben Deckel. Mia hatte das Gefäß vor dem Befüllen ausgiebig geputzt und eine lichtgrüne Seidenschleife darum gebunden. Jetzt glänzte alles, die Schleife, der Kunststoff. Das Weihnachtsgeschenk für ihren Vater - selbstgemachte Chips.
Gegenüber dem Bett stand das grüne Sofa, auf dem der Vater die Nacht verbrachte, weil Mia darauf nicht schlafen konnte. Die Übergänge zwischen den Polstern waren zu kantig, zu hart.
So lag sie neben ihrer Mutter im großen Bett, als es passierte.
Mia war erkältet, sie hatte diese merkwürdige Krankheit, bei der sich jede Menge Speichel in ihrem Mund sammelte, den sie nun ständig herunterschlucken musste. Tagsüber war es nicht so schlimm, da war sie abgelenkt durch das Wandern im Schnee, die Kälte, die ungewohnte Umgebung. Aber nachts quälte sie sich damit und schlief schlecht.
Mia war in einer ihrer kurzen Schlafphasen, als sie von einem schnaubenden Geräusch geweckt wurde. Etwas in der Mitte ihrer Brust zog sich krampfartig zusammen. Sie sah zur linken Bettseite, wo ihre Mutter heftig zuckte, sah ihren Oberkörper sich mehrmals hoch aufbäumen, den Schaum vor ihrem Mund.
Dann plötzlich Stille.
Der Vater war aufgesprungen, Mia schaute in seine entsetzt blickenden Augen. Er zog sich rasch etwas über und eilte hinaus, um einen Arzt zu holen. Mia saß auf dem Bett und beobachtete den Körper ihrer Mutter. Sie traute sich nicht, den Blick abzuwenden. Nichts rührte sich mehr. Nichts? Mia schaute auf die weiße Bettdecke über dem Bauch ihrer Mutter. Keine Bewegung. Nichts. Mia fixierte den Rand der Decke. Dann bemerkte sie, wie sie sich ganz leicht hob, kaum auszumachen, fast nicht zu spüren. Mia hielt den Atem an. Beobachtete, wie die Decke sich minimal senkte. Dann nichts, dann wieder ein winziges Wölben und dann ein leichtes Sinken. Mia war wie gebannt auf diese Bewegung ausgerichtet, wagte es nicht, den Blick abzuwenden, denn dann könne der Atem ihrer Mutter anhalten. Wenn sie sich selbst nicht regte, konnte sie alles wahrnehmen, auch die allerkleinste Veränderung. Sie musste das kontrollieren. Sie durfte nicht aufstehen, sich nicht umdrehen, sich nicht bewegen. Es war niemand da, der aufpassen konnte, sie musste das tun. Wenn sich nichts rührte, stimmte etwas nicht, dann hatte sie nicht genau hingesehen, war abgelenkt. Wenn sie sich Mühe gab, dann war alles gut und sie konnte jede Bewegung erkennen.
Eine Stunde später kam der Vater mit dem Arzt. Er fühlte den Puls, das Herz, schob die Augenlider hoch. Und senkte bedauernd den Blick.
Den Rest der Nacht verbrachte Mia in den Armen ihres Vaters auf dem grünen Sofa. Die ersten Sonnenstrahlen leuchteten durchs Fenster, als Mia zu weinen begann. Die Tränen flossen einfach so aus ihr heraus, ohne dass sie etwas damit verband. Der Vater weinte nicht.
Nun waren sie zu zweit. Es gab keine Kämpfe mehr, keine Vorwürfe, kein Gezeter, keinen Zwang, nichts, wogegen Mia sich wehren musste. Es herrschte Ruhe, ewige Ruhe.
Die Mutter war tot.