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Leichte Sprache und Literatur

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Leichte Sprache und Literatur

Dieser Beitrag ist ein kleiner Versuch.
Ich versuche, in Leichter Sprache zu schreiben.
Das große »L« ist Absicht.
»Leichte Sprache« ist nicht als zwei Wörter zu lesen.
Es ist vielmehr ein fest-stehender Begriff.
Ein anderer fest-stehender Begriff ist auch »Rotes Kreuz«.

Ich habe darüber nachgedacht.
Als Autor berufe ich mich auf meine künstlerische Freiheit.
Aber schließe ich damit nicht Teile meiner Leser aus?
Ich schreibe oft lange und komplizierte Sätze.
Ich selbst verstehe sie natürlich.
Viele Menschen verstehen sie nicht.
Ist unverstandene Kunst eigentlich immer noch Kunst?

Man kann sagen: Es gibt da einen Unterschied.
Versteht der Leser nicht, wovon sie handelt?
Versteht er nicht, warum die Figuren so handeln?
Oder:
Versteht er schon nicht die Wörter?
Wie sie zusammenhängen?

Künstlerische Freiheit:
Ist das die Freiheit davon, dass man verständlich schreiben soll?
Ist das die Freiheit von der Verantwortung für andere Menschen?
Verständnis muss sein in einer Gesellschaft.
Verständnis ist ihr Binde-Gewebe.
Auch der menschliche Körper zerfließt ohne sein Binde-Gewebe.

Also ich muss sagen, das ist echt ein Kraftakt, und dabei ist es bestimmt nicht korrekt. Eine Geschichte übrigens erst recht nicht

Ich bin nun nicht der Meinung, dass wir fortan alle unsere Geschichten in Leichter Sprache abfassen sollten, damit uns auch Lesebenachteiligte verstehen können. Nicht nur, dass das auch gar nicht das Ziel dieses Regelwerks ist, die Sprache zu reformieren, sondern einfach allen Menschen, seien sie noch so "dumm oder so", wie man so sagt, die Kommunikation mit z.B. Behörden zu ermöglichen. Wo kämen wir dann hin, d.h. würden wir dann überhaupt noch gegenseitig unsere Werke lesen wollen? Die Beschäftigung mit Leichter Sprache gab mir allerdings zu denken, dass es auch in der Literatur eine Abwägung geben muss zwischen künstlerischer Freiheit und Rücksichtnahme auf den unbekannten Leser. Selbstzensur, die Schere im Kopf, beides ein Gräuel dem geneigten Autor.

Heißt Schreiben Spuren zu legen, die versanden, von Wind und Witterung, von der Ungeduld und der Nachlässigkeit des Lesers verwischt werden dürfen, schlimmstenfalls, ohne dass sie irgendwer entschlüsseln konnte oder wollte? Oder ist Schreiben nicht nur Selbstausdruck, sondern Medium und ist damit auch dem Verständnis von Lesebenachteiligten verpflichtet, denn wir wollen ja auch sie an unseren Ergüssen teilhaben lassen? Was nützt ein noch so künstlerisch gewiefter Text, den niemand liest, von dem jeder wieder wegklickt – außer der Einbildung des Autors, was weiß ich doch wie toll zu sein. Vielleicht wird ja gerade der, der von einem Text inhaltlich am meisten hätte, schlichtweg überfordert. So einschneidende, gar erleuchtende Texte kennt jeder, der viel liest. Ist das dann egal, ist das dann einfach Pech?

Genauso vermessen ist in diesem Licht aber ein Anspruch des anderen Extrems: Es erscheint mir wie geistlos beliebige Selbstbefriedung, was sich so stolz für Avantgarde hält, und das sage ich selbstkritisch auch in Hinblick auf mein letztes Werk, das allerdings nicht öffentlich ist. Okay, »avantgardistisch« daran ist eigentlich nur, wenn überhaupt, dass zum einen ein hypothetisches Deutsch der Zukunft gesprochen und zum anderen über die fiktive Ebene hinaus auf die Leser-Ebene Bezug genommen wird. Ich muss wirklich noch brüten über die Frage, ob es nicht besser ist, diese schwer verdaulichen, aber durchaus inhaltlich relevanten Schmankerl wieder rauszunehmen. Dies hätte zur Folge, dass ich den Text zu größeren Teilen vollkommen umschreiben müsste.
Da hinterfrage ich meine Neigung zu schwierigeren Texten, zu Mehr-Ebenen-Texten, zumal dies nur eine Neigung als Autor ist, weniger als Leser. Mich in einen Leser hinein versetzen, ist da verdammt schwierig. Gut möglich, dass ich mir als Leser "meiner" Texte (also Texte von jemandem, den ich nicht oder kaum kennte) doof vorkäme, gar nichts verstünde, und schließlich schulterzuckend wegklicken würde.

Würden wir auf künstlerische Freiheit mehr geben als nötig, wäre diese Plattform wohl eher einem Korridor in einer Psychiatrie vergleichbar, wo jeder Patient – dem Klischee nach zumindest – vor sich hinbrabbelt und agiert, die anderen kaum oder gar nicht wahrnimmt.

Mich würde interessieren, wie ihr das so haltet mit der Abwägung zwischen künstlerischer Freiheit und Verständlichkeit für andere, die vielleicht nicht so gut lesen wie ihr schreiben könnt. Macht ihr euch darüber überhaupt einen Kopf oder vertraut ihr da auf eure Intuition?

 

Hallo floritiv

Dein Sinnieren als Autor über die künstlerische Freiheit, das mir an die Freiheit des Anderen anzulehnen scheint, habe ich mit Interesse gelesen. Im ersten Moment dachte ich, dass sich Ernsthaftigkeit und Schalk darin paaren, doch je mehr ich mich darauf einliess, gewann es an konzentriertem Sinn.

Die Beschäftigung mit Leichter Sprache gab mir allerdings zu denken, dass es auch in der Literatur eine Abwägung geben muss zwischen künstlerischer Freiheit und Rücksichtnahme auf den unbekannten Leser. Selbstzensur, die Schere im Kopf, beides ein Gräuel dem geneigten Autor.

Du wähltest als Ausgangslage wohl eine der krassesten Möglichkeiten, diese Frage in den Raum zu stellen. „Leichte Sprache“ ist eine spezifisch für Behinderte, aber auch in Sprachkenntnis unzureichend Kompetente, verkürzte Sprachregelung. Hierzu gesellt sich auch die „Einfache Sprache“, welche jedoch eine komplexere Ausgestaltung aufweist. Diese Sprachformen machen für Betroffene mit beschränktem Leseverständnis bei Texten vorab Sinn, die für diese im Alltag auch zwingend erfassbar sein sollten. Dazu gehören etwa amtliche Anordnungen. Bedienungsanleitungen etc. oder - vermehrt auch Werbung.
Soweit mir bekannt, neigen Menschen mit Schwierigkeiten im Leseverständnis eher zu einem Meidungsverhalten und kompensieren dies akustisch und visuell durch Hörbücher sowie Filme. Bei einer stärkeren Behinderungsform ist dies aber auch erschwert, da diese Menschen nicht über einen ausgereiften Wortschatz verfügen und damit den Sinnzusammenhang nicht unbedingt vollständig erfassen.
An leichtverständlichem Lesestoff für diese Menschen gibt es aber schon einfache Literatur und auch verschiedene informative Publikationen: nachrichtenleicht.de, ein Nachrichtenmagazin oder die Zeitungen „Klar & Deutlich“, die „ABC-Zeitung“, die „WeiberZEIT“ oder das Magazin „Ohrenkuss“.

Oder ist Schreiben nicht nur Selbstausdruck, sondern Medium und ist damit auch dem Verständnis von Lesebenachteiligten verpflichtet, denn wir wollen ja auch sie an unseren Ergüssen teilhaben lassen?

Eine gute Geschichte in „Leichter Sprache“ zu verfassen, stellt wohl auch für Autoren ein Schwierigkeitsgrad dar, da der Text durch das Regelwerk stark gehemmt wird. Diese Akrobatik, wenn sie denn gelingt, wäre beinah unter „Experimente“ zu subsummieren. „Einfache Sprache“ hingegen erlaubte mehr Spielraum, wenngleich in den Ausdrucksmöglichkeiten dennoch eingeschränkt. Auch allgemein wird Autoren von Belletristik ja die Verwendung einer einfachen Sprache nahegelegt, wenn sich dies gleichwertig ausdrücken lässt, doch geht dies vom gängigen Sprachschatz aus.

Würden wir auf künstlerische Freiheit mehr geben als nötig, wäre diese Plattform wohl eher einem Korridor in einer Psychiatrie vergleichbar, …

Vom formaljuristischen Standpunkt aus betrachtet, ist die künstlerische Freiheit durchaus eine ziemlich offene Projektionsfläche, da dem Einzelnen zugestanden wird, seine Schöpfung als „Kunst“ zu bezeichnen. Dem steht jedoch auch die Realität gegenüber, dass Kunst sich nur auszahlt, wenn sie als solche durch andere wahrgenommen und konsumiert wird.
Da muss man sich auch im Klaren sein, was Kunst sein will, welches Ideal hinter ihr steht. Im Prinzip lässt sich dies auf einen einfachen Nenner herabbrechen, ihr Vorbild ist die Natur. Es gibt keine grössere Vielfalt, als die Natur hervorbrachte, ob man sie nun in ausgebildeter Grösse oder unter dem Mikroskop betrachtet. Der wirkliche Künstler versucht – verkürzt formuliert - diesem gewaltigen Vorbild gleichwertig eine neue Schöpfung gegenüberzustellen. Will man dies auf die Literatur übertragen, ist der Ansatz gegeben, mit dem Mittel der Sprache die Möglichkeiten bestmöglich auszuschöpfen, um Gegebenheiten in eine vollendete Geschichte einfliessen zu lassen. Damit dies nicht zu einfach interpretiert wird, gelten zugleich auch die Ansprüche, was eine Geschichte in der Form auszeichnet, und, vorab sind diese immer der Unterhaltung verpflichtet.
Ob der Einzelne sein Werk nun als „Kunst“ versteht, als kunsthandwerklich oder einfach nur als unterhaltsame Geschichte, die Leser findet, erscheint mir hierbei weniger relevant. Ein gewisses Mass an Selbstzufriedenheit darf man den Autoren nicht absprechen, ansonsten wäre ihr Tun sinnlos.

Insofern gibt es diese Diskrepanz zwischen künstlerischer Freiheit und „Leichter Sprache“ nur auf intellektueller Ebene. Es ist vorab nicht die Aufgabe eines Autors, einem Regelwerk zu folgen, das von der gängigen Sprachform abweicht. Macht er dies, muss ihm klar sein, dass das Werk nur in einen gewissen Rahmen passt und einen beschränkten Leserkreis anspricht. Ein Autor sollte immer so schreiben, dass er sein Bestes gibt. Dass er dabei die Bedürfnisse von Lesern die er als sein Zielpublikum versteht, berücksichtigt, soweit dies überhaupt möglich ist, ist dabei zu erwarten.

Doch eine Gegenfrage noch. Ist Folgendes nun als anschauliche Darstellung von meinem befangenen Leseverständnis zu interpretieren, oder sind es Vertipper?:

… ohne dass sie irgendwer entschlüssern konnte oder wollte?

… mir als Leser "meiner" Texte (also Texte von jemandem, den ich nicht odr kaum kennte) doof vorkäme, …

Soweit dies, was ich zu früher Stunde noch eintippen konnte, bevor mir die Augen zuklappen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

vielen Dank für deine Antwort. Besonders neu und inspirierend war für mich die Sicht, dass sich der Mensch künstlerisch beschäftigt, um der Natur etwas entgegenzusetzen, was Schöpfung anbetrifft. Damit ist die Kunst verschieden von der »Erfindung« als solcher, die es gibt, weil der Mensch ständig danach strebt, sich sein Leben einfacher zu gestalten. Allerdings führt die Frage, was Kunst ist, vom Thema weg, trotzdem danke sehr.

Doch eine Gegenfrage noch. Ist Folgendes nun als anschauliche Darstellung von meinem befangenen Leseverständnis zu interpretieren, oder sind es Vertipper?:
Nur Vertipper, danke fürs Draufstupsen. Hab in dem Beitrag auch noch weitere gefunden und korrigiert.

 

Ich verstehe Deinen Anspruch überhaupt nicht. :confused:

Wenn ich etwas schreibe, gehe ich doch grundsätzlich davon aus, dass es nichts für alle sein kann/sein muss/ist, weil Menschen sich nun einmal für ganz unterschiedliche Dinge interessieren. Wenn ich meine Sprache zurechtstutze, damit Leute, die mit meinen Themen vielleicht nichts am Hut haben, es rein theoretisch verstehen könnten, werd ich doch verrückt.

Da könnte ich mich ja auch fragen, ob es nicht jemanden gibt, der gern in meiner Wohnung leben würde und ob ich dem dann nicht ein Zimmer leer räumen müsste, weil ich den sonst ausschließe, für den Fall, dass er einmal vorbeikommt und danach fragt.

Würden wir auf künstlerische Freiheit mehr geben als nötig, wäre diese Plattform wohl eher einem Korridor in einer Psychiatrie vergleichbar, wo jeder Patient – dem Klischee nach zumindest – vor sich hinbrabbelt und agiert, die anderen kaum oder gar nicht wahrnimmt.
Gut, dass hier nur die ganz normalen Verrückten unterwegs sind ;)

 

Da könnte ich mich ja auch fragen, ob es nicht jemanden gibt, der gern in meiner Wohnung leben würde und ob ich dem dann nicht ein Zimmer leer räumen müsste, weil ich den sonst ausschließe, für den Fall, dass er einmal vorbeikommt und danach fragt.
Der Vergleich hinkt nicht nur, er siecht im Rollstuhl dahin. Dann musst du dein Zimmer schon zur Vermietung ausschreiben, damit es hinhaut. Aber im Grunde ist deine Haltung durchaus legitim.

Gut, dass hier nur die ganz normalen Verrückten unterwegs sind
Wenn ich mich angesprochen fühlen darf: :amok: ;) Verrücktheit liegt eh ja eh im Auge des Betrachters, und am Fall Mollath sieht man, dass am Ende allein der Gefälligkeitsgutachter entscheidet.

 

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