Was ist neu

D e l a y e d

Monster-WG
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10.09.2014
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D e l a y e d

Ich bin bereits am Flughafen.
Tolles Flair, interessante Menschen, teure Geschäfte – eigentlich nicht meine Welt. Eher unsicher fühle ich mich hier, doch es muss nun einmal sein. Wenn Onkel Ricardo damals nicht ausgewandert und jetzt nicht gestorben wäre, dann würde es diesen ganzen vermaledeiten Scheißdreck mit dem Erbe, der darauf folgenden, schnapsbedingten Enterbung, der notariell beglaubigten Wiedergültigmachung des Originaltestamentes und den ständig wechselnden Advocaten gar nicht geben und ich könnte in aller Seelenruhe mein Leben leben, wie es sich gehört. Ich steuere die nächstbeste Espressobar an, um mich abzukühlen. Klare Gedanken, kühler Kopf – das ist die unabdingbare Voraussetzung für beispielsweise diesen Intercontinental-Flug Madrid – Buenes Aires.
Wie ich den Zucker einrieseln lasse in diese Winzigkeit schwarzen Extraktes in seiner Minitasse, trifft mich der Schlag.
Herr im Himmel, was für ein Satan hat das angestellt!? Diese verdammte Urkunde habe ich nicht abgeholt! Der eigentliche Notar war erkrankt und die Urkunde musste deshalb von einem Aushilfsnotar beglaubigt werden. Ohne sie hat die ganze aufwändige Reise keinen Sinn. Ein Transatlantikflug mit lückenhaften Unterlagen – schierer Unsinn, reine Verschwendung.

Ich muss noch einmal zurück in die Stadt, mit dem Taxi. Glücklicherweise habe ich noch jede Menge Zeit, denn ich habe rechtzeitig erfahren, dass sich durch die mediterrane Arbeitsmoral und allen damit verbundenen Schlampigkeiten mein Flug um sage und schreibe fünf ganze Stunden verzögern wird.
Auf der iberischen Halbinsel spielt die Uhr als Schmuck des männlichen Handgelenks, am besten doppelt vergoldet, eine überragende Rolle – als Zeitmesser eher eine reduzierte. Doch in einigen Fällen muss man doch wenigstens die ungefähre Zeit beachten. Mir ist das heute ein Leichtes. Doch ist es nun einmal so, dass sich die unkündbaren Staatsdiener nicht zu früh in ihren Büros einfinden und dann aber doch recht früh zur Mittagspause aufbrechen werden, so dass die größte Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen anzutreffen, die Zeit zwischen 10.3o und 11.30 Uhr ist. Das weiß man, denn es hat mit gesundem Menschenverstand zu tun. Schließlich würde man sich selbst auch so verhalten, nicht nur der eigenen und unabstreitbar angeborenen Faulheit wegen, sondern um in Harmonie auszukommen mit einem unerbittlichen Umfeld von anderen, fast mit zuviel gesundem Menschenverstand ausgestatteten Egoisten mit hohem Pensionsanspruch.
Zur idealen Zeit bin ich also wieder zurück im Herzen Madrids mit seinen schwer beeindruckenden Fassaden. Schwülstige Balkone, Säulenportale wie die nachempfundene Akropolis und vornehme Glätte, die nicht altert. Alles nach Generalstabsmanier zentral geplant und aus dem Boden der Sierra gestampft, doch genau im Mittelpunkt des ehemals größten Reiches der Welt plaziert.

Selbst die einfachen Menschen, die hier leben, fühlen sich dem Rest der Welt haushoch überlegen. Sie nennen sich Madrileños und es ist einfach so, dass schon weit vor der eigentlichen Geburt durch die Vorsehung bestimmt wird, wer in Madrid geboren werden darf und wer nicht. Daraus leitet sich ein lebenslanger Anspruch ab an die Welt in all ihrer Vielfältigkeit.
Und Leute – eigentlich solche wie Du und ich - die hier nicht nur leben, sondern auch eine Position innehaben, vergleichen sich, verzeihlicherweise oft unbewusst, mit den Monarchen der Restwelt.

Ja, sie sind etwas Besonderes, eine ganz besondere Kaste, die Madrileños.

Wenn damals neue Schiffe hereingesegelt kamen von den geschröpften Kolonien und in den Häfen Ihrer Majestät festmachten, dann wurden die Frachtpapiere inspiziert, doch das war nur Geplänkel, denn das amtlich-hoheitliche Augenmerk konzentrierte sich ausschließlich auf die goldglänzende Ladung. Die wurde dann rasch umgeladen und mit ‚Madrid’ adressiert auf die Reise geschickt.
Der Klerus war auch jedes Mal rechtzeitig zur Stelle, denn seine Ansprüche und Anteile waren keine geringen. Aber er tat ja auch genug dafür, nur befolgte er leider auf unerklärliche Weise Gottes Gesetze nicht, zum Beispiel das Gebot „Du sollst nicht stehlen“. Denn die Inkas boten nur an den ersten zwei oder drei Tagen den Fremden mit dem Kreuz ihr Gold als Willkommensgeschenk an. Arglos boten sie aber crack an, goldenes crack - die Wahnsinns- und Satansdroge, der auch Soutanenträger und ihr Fußvolk nicht widerstehen konnten. Die ignorierten im Indio- und Inkaland auch ein anderes, ebenfalls gut bekanntes Gottesgesetz: „Du sollst nicht töten!“.
Daran hätten sie eigentlich denken müssen.

Ich jedenfalls erhasche einen Menschen in diesen Uraltgewölben des Städtischen Zentralnotariats, der unglaublicherweise sogar in der Lage ist, mir das erforderliche Papier auszuhändigen.

Hocherfreut nehme ich es entgegen und beschließe vor der Rückfahrt zum Flughafen in der Cafeteria gegenüber noch eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen.
Der Ober tritt an meinen kleinen runden Tisch und ich bitte ihn, mir einen schönen Café zu bringen.
„N’ kleines Schnäpschen dazu, der Herr?“
„Besser nicht“, sage ich jovial. „ich habe heute noch viel vor.“
Doch andererseits, warum eigentlich nicht?

Café und Schnaps sind beide sehr gut. Der Schnaps – ein medronho – sei aus portugiesischen Baumerdbeeren gebrannt, bedeutet mir der Ober. Ich lache amüsiert. Erdbeeren, die dort auf Bäumen wachsen! Immerhin – ein lachender Gast gibt mehr Trinkgeld.
Ich zahle und da ich noch reichlich Zeit zur Verfügung habe, schlendere ich den breiten Boulevard entlang und bin doch sehr erstaunt: Die Bänke sind – schon jetzt am Vormittag - allesamt belegt, nein besetzt.
Ja, die Rentner.
Sie sollen nur heraus aus ihren engen Zimmern; dort versauern sie ja nur. Hier ist das Leben, hier gibt es etwas zu sehen! Die Eiligen und die Schlurfenden, fliegende Händler aus Afrika, die bunten Kioske mit dem bunten Angebot, die Vogelverkäufer mit ihrer viel zu eng eingesperrten Ware.
Doch verblüffend viele junge Leute sitzen ebenfalls tatenlos herum – grad so wie die Alten.
Aber an einem normalen Wochentag sind doch die Universitäten geöffnet und die Bibliotheken, die Fabriken und Werkstätten und Ateliers?
Aber ja, die verdammte Jugendarbeitslosigkeit! Die krebst im Land. Wird wuchern, weiter krebsen, dann eitern.
Gut’ Nacht, lieb Vaterland, spanisches.
Obwohl, irgendetwas muss es doch zu tun geben!?

Ich habe einen trockenen Husten und muss etwas trinken. Einen frisch gepressten Saft vielleicht, doch sollte bei dessen Bereitung alles mit der Hygiene stimmen. Diese fast schwarze Limonade mit der üppigen Reklame ist wohl zu süß für einen Herrn meines Alters. Und ein kleiner frischer Weißwein, vielleicht aus dem Penedés oder aus Galizien wäre eventuell am Vormittag zu gefährlich, denn diese Art Weißwein erinnert mich immer an die eleganten, beschwingten rheinischen Rieslinge, denen ich bei einer lang zurückliegenden Deutschlandreise gern und oft zugesprochen habe.
So entscheide ich mich für ein Bier, denn die Limonadenstände sind verwaist, zum Teil sogar noch verschlossen. Doch hier an diesem Kiosk pulsiert das Leben! Männer und Herren jeden Alters stehen zwanglos herum, sie trinken dies und sie trinken das, die meisten aber doch ein gepflegtes Bier, frisch gezapft und aus hygienisch unbedenklichen, schlanken und auf Hochglanz polierten Gläsern, goldgelb mit appetitlich-schlohweißem Schaum obenauf. Oh, wie das zischt!

Ich gewinne an Körpergröße, mein Brustkasten wird spürbar breiter – ein herrliches Champagnergefühl durchrieselt mich, fast muss ich mich beherrschen, nicht schon wieder das putzige Lied von der schönen Biene Maja zu singen, das mir seit Tagen nicht aus dem Kopf will.
Doch ein bisschen schwätzen würde ich schon gerne. „Permite, Señor“ sagt der ältere Herr neben mir und nimmt sein bestelltes Bier mit ausgestrecktem Arm entgegen, denn allmählich bilden sich Trauben von Durstigen um diese Goldquelle herum. Der Herr sagt irgendetwas, nichts Aufregendes, vielleicht dass heute wirklich ein angenehmer Tag sei, nicht zu heiß und nicht zu kalt oder dass man sich doch auch in diesen schlechten Zeiten noch eine Kleinigkeit gönnen sollte. Salute.
Ja, schlechte Zeiten – wie einen Kopfschuss empfange ich mein Stichwort. Die arbeitslosen Jungen sind es, über die ich mit jemanden reden will! Mit meiner Frau kann ich solche Gespräche nicht führen, aus verschiedenen Gründen nicht.
Wir haben diese kleinere, leider auch viel teuere Stadtwohnung erst vor sechs Wochen bezogen, denn das Landleben hing uns gründlich zum Halse heraus.
Dort wird alles flach und flacher: Das Dorf verödet, die jungen Leute sind fort – allerdings sind sie fortgegangen, um anderswo zu arbeiten, um Geld zu verdienen und sich ein neues Leben einzurichten und nicht, um hier auf einer Rentnerbank missmutig den Tag totzuschlagen.
Das alles sage ich dem Herrn neben mir und der wiederum pflichtet mir bei. Es kann doch nicht sein, dass wir immer mehr werden auf der Erde und es sozusagen als absurden Gegenpol immer weniger Arbeit gibt! Ja, die Automatisierung, dann China, dazu keine richtigen Kriege mehr, nach denen man alles wieder neu aufbauen müsste.

Verrückte Zeiten eben.
Ich bestelle noch eins dieser kleinen Biere, der Herr ebenfalls.
Wie wir uns bedeutungsvoll ansehen und uns zuprosten, sagt ein aufgeschossener Jüngling neben uns, er habe der Enge wegen uns beinahe zuhören müssen und was wir ihm denn empfehlen würden, um zu Arbeit und gerechtem Lohn zu kommen?
Da sind wir arg verlegen. Wir halten uns an unseren, durch die heiße Debatte schnell geleerten Gläsern fest und finden keine griffigen Worte. Der Herr faselt etwas von neuen Ideen, von denen er aber nur weiß, dass sie neu sein müssten, denn die alten seien ja bereits bekannt.
Mir indes fehlen ganz und gar die Worte und so bestelle ich mein letztes Bier, nun aber ein richtiges, ein großes. Außerdem wird es dann auch Zeit, zum Flughafen zurückzukehren.
Leider hat durch das Hineinreden des jungen Mannes der Zauber eines sonnenbeschienenen Frühschoppens erheblichen Schaden genommen, besser gesagt, er ist verflogen.
Ich trinke mein Bier in großen Zügen, um diesen unerfreulichen Platz ebenso zügig verlassen zu können.

Unterdessen ist Mittag. Ich muss mal.
Die Kioske haben dafür keine Vorrichtung, also muss ich auf die Schnelle ins nächste festinstallierte Lokal, um diesem Bedürfnis nachkommen zu können.
Verständlicherweise beäugen Kellner und Wirte jeden Hereintretenden, denn schließlich sind ihre Lokale keine öffentlichen Toiletten. Also bestelle ich etwas zu trinken, denn etwas Essbares wird es sicherlich gleich im Flugzeug geben. Was also? Nun, vielleicht, jetzt um die Mittagszeit, doch einen Weißen, aber einen ganz leichten bitte.
Und das ist eine gute Wahl! Ein Albariñho. Der Wein der Elfe und der Elfen.
Geradezu überirdisch schwerelos lehne ich mich an den Tresen. Dabei habe ich nicht nach Gold geschürft – und Nuggets habe ich demzufolge auch keine gefunden. Und trotzdem lümmle ich mich hier an dieses gute Stück polierter Eiche, als ob mir der ganze Laden gehörte und ich nie und nimmer an dieser unguten Diskussion über die Hoffnungslosigkeit der Welt teilgenommen hätte. Wozu all dieses Gerede – als ob es davon besser werden könnte. Ich bin bereits im Aufbruch, doch mein Magen knurrt so fürchterlich, dass ich das schnellste Tapa des Hauses bestelle - und das sind die eingelegten Sardinen.
Noch ein letztes Glas dieses ganz vorzüglichen Albariñhos zu dieser kleinen Köstlichkeit und auf geht’s zum Flughafen!

Der Kellner unterstützt mich liebenswürdigerweise beim Abzählen des Geldes und geleitet mich hinaus auf den Bürgersteig.
Jetzt sollte ein Taxi vorbeikommen, möglichst schnell. Doch wie ich auch winke - erfolglos. Ich muss auf die andere Straßenseite! Dort sind die Chancen eindeutig besser.

Ein hohes C, dass beim heftigen Bremsen entsteht, wenn zum Beispiel ein Automobilist mit seinem ganzen Körpergewicht in Zusammenarbeit mit all seiner Muskelkraft das Bremspedal bis zum Anschlag durchtreten muss, weil irgendein blinder Irrer wie ein Nachtwandler plötzlich und unvorhersehbar auf die Fahrbahn tritt, lässt mich zusammenfahren. Ein Polizist ist im selben Moment neben mir und befiehlt mir zu warten. Dann stellt er sich breitbeinig auf die Straße, stoppt den gesamten Verkehr in beiden Richtungen, und winkt mir nun zu, endlich die Straße zu überqueren. Ich nehme die Aufforderung an und markiere einen Stechschritt, wie man ihn gelegentlich bei Paraden zu sehen bekommt.

So guter Dinge war ich schon seit Jahren nicht mehr. Ich habe wirklich die allerbeste Laune. Und genau darauf hat der Teufel gewartet!
Statt mich weiterhin nach einem Taxi Ausschau halten zu lassen, schlägt er mir mit der flachen Hand in die Kniekehlen, so dass ich es gerade noch zum nächsten freien Stuhl auf einer der dicht an dicht stehenden Caféterrassen schaffe.

Die Welt um mich tost und braust und sie wirkt heute auf mich fern, unscharf. Ich nehme nicht daran teil, an diesem tagtäglichen Geschiebe und Gedränge. Ein schmieriges Super-Event hier, irgendein lausiger Ausverkauf da. Würdelos. Die Leute kommen einfach nicht zur Ruhe. Sie versuchen ihre Unzufriedenheit mit lächerlichen Siegen zu überkleistern, beim Blitzstart an der Ampel, beim Ergattern des absoluten Superschnäppchens, beim permanenten Rechthaben ohne solide Argumente. Doch Unzufriedenheit ist wie Lava: Sie fließt ganz langsam und kommt, obwohl ihre Oberfläche schon erstarrt und erkaltet zu sein scheint, eines Tages, eines Nachts, wie es ihr gerade passt, ins Haus. Schlimme Dinge können dann geschehen – die Zeitungen sind voll davon.
Ich hingegen spüre eine große warme Ruhe in mir. Die hübsche Bedienung ist schon zur Stelle, eine Studentin wohl.
Ein Bild von einer jungen Frau. Festes dickes Haar mit dem Glanz schwarzer Oliven und kurzgeschnitten und das äußerst raffiniert. Spitz auslaufende Koteletten hat sie, lustig, aber auch ziemlich animierend. Kokette Fransen fallen ihr ins Gesicht, ins hübsche, die großen spöttischen Augen zur Hälfte verdeckend.

Ich muss etwas bestellen, ob ich will oder nicht. Aber Vorsicht! Kein Bier und keinen Wein. Vielleicht nun doch eine Cola?
In Ordnung. Mit Eis?
Selbstverständlich, und mit Zitrone bitte.
Und Bacardi ?
Ich fibriere. Mein Bimetall ist kaputt. Gleichstrom, Wechselstrom und Starkstrom auf dem gleichen Kabel schmort oder brennt. In meinem Unglücksfall brennt es.
Eine sich selbst entzündende und dann selbst nährende Flamme braucht Luft, Sauerstoff. Ich nehme Anlauf, sauge allen anderen die Luft weg, wie einer der ganz berühmten Sänger. Dann entlädt es sich:
Ándale – mit Bacardi, gewiss, mein Schatz. Mit Bacardi, und zwar einem doppelten! Schließlich lebt man nur einmal. Diese ganze verfluchte Arbeitslosigkeit hier und die prähistorische Bürokratie da hat mir den ganzen Tag versaut. So eine beschissene Änderung meines ganzen Tagesplanes!
Der verdammte Flieger dürfte eh’ schon über den Wolken schweben, vielleicht stürzt er auch ab und alle kommen zu Tode. Dann will ich’s mir wenigstens heute richtig gut gehen lassen.
Meine junge Dame trägt einen gewagt kurzen Rock, doch bei diesen Beinen möchte man eigentlich noch mehr sehen. Dazu eine Satinweste mit dicken roten und schwarzen Streifen, die fast wie ein psychedelisches Muster dieses Wunder von einem perfekten Busen unterstreichen und hervorheben - so wie ein wunderschönes Bild durch den eigens dafür gewählten Rahmen zusätzlich noch Ausstrahlung und Reiz bekommt. Außerdem springen diese schwarzen und roten Streifen ihrer straff gespannten Weste vor meinen Augen ständig hin und her, als wollten sie mich foppen. Zum Verrücktwerden.
Ich vermute, der Wirt hat seines Verdienstes wegen statt des geforderten doppelten Bacardis nur einen einfachen in meine Cola gemixt und so verlange ich zwischen zwei kleinen unschuldigen Späßchen nun aber wirklich eine Cola mit einem echten doppelten Bacardi, denn man möchte das gute Zeug doch schon wahrnehmen beim Trinken.

Ah, Caballeros – was für ein Tag! Ich hätte große Lust, mit einem jeden, besonders natürlich mit einer jeden ein bisschen zu schäkern, sie mit einzubeziehen in dieses wunderbare Ich-umschlinge-die-Welt-Gefühl und ich intoniere „Alle Menschen werden Brüder“ und ich weiß, dass ich all den Menschen hier um mich herum aus dem Herzen spreche, in meinem Fall eben singe. Sie sollten mit einstimmen, denn gemeinsam sind wir stark!
Doch sie sind verstockt. Verstockt und mürrisch – aber dann sollen sie wenigstens ein bisschen mitsummen. Den Text muss man nicht können, es geht doch nur um das gute gemeinsame Gefühl!
Nein, keine Resonanz. Sie vermeiden, mich anzuschauen – das spüre ich deutlich, doch ich werde sie überzeugen von der Richtigkeit meiner Gedanken. Ich werde sie bekehren, und wenn ich von Tisch zu Tisch gehen müsste.
Mit Männern kann ich umgehen. Mein Beruf als Dispatcher einer Baufirma bringt das so mit sich, kein Problem. Mit Damen hingegen diese komplizierten Themen zu erörtern, ist sicherlich ein sehr anstrengendes Unterfangen. Außerdem würde ich mit denen lieber ganz andere Gespräche führen.
Ja, die schönen Frauen!

Was interessieren mich die Männer? Die Arbeitslosigkeit, das ganze Gejammer dieser verweichlichten Hornochsen?
Die Frauen sind es, die mich interessieren!

Und so versuchen meine Gedanken in einer Ellipse zu kreisen. Einerlei.
Ich muss zu den Frauen.
Oh Stop.
Ich muss nicht - das möchte ich klar herauskehren - sondern ich will! Das ist ein Riesenunterschied. Ich will aus freien Stücken. Ein nun nach reiflicher Überlegung feststehender Entschluss muss jetzt nur noch in die Tat umgesetzt werden. Mehr nicht.
Für mich ein Leichtes.

Wo Mann die Frauen findet, weiß er. Jeder Taxista weiß es ebenso. Also, worauf warten wir? Und ab geht die Reise.

Ich träume von Liebe, von zarten Händen, die an mir herummassieren, dann doch rapide grober werden, mich aus dem Taxi ziehen und sich letztendlich um die Lippen des Chauffeurs als Schallverstärker legen nach Art des Megaphons - und so dringt dann doch durch diese Grobheit der Fahrpreis an meine äußere Hirnrinde.
Ich bin dankbar, dass man mir beim Aussteigen unter die Arme greift und stehe nun ohne genaue Vorstellung vom weiteren Verlauf des Abend unentschlossen in diesem Glühlichtgeflacker.
Das signalisiert mir, auf einem anderen Erdteil zu sein, auf dem Kontinent der Frauen.
Ich befinde mich jetzt in einer Welt, wo nur ihre Gesetze gelten, im Herrschaftsbereich der Frauen eben.
Sie stehen überall herum, wunderschön geschminkt, doch das hätten meiner Meinung nach nur die ältesten von ihnen nötig.
Jetzt im Spätsommer haben sie sich jeglichen Kleiderzwanges entledigt, auch ich habe schon vor Stunden meiner Krawatte adieu gesagt. Was ich sehr genossen habe, denn ich war noch nie ein großer Fan starrer Regeln und Formen. Diese Krawatte war ziemlich teuer – ob sie das viele Geld wirklich wert war, kann ich nicht sagen, aber ich vermute, dass ein Mini-Chef wie ich mit Krawatte immer noch bessere Chancen hat, akzeptiert zu werden als einer ohne.
Außerdem habe ich dieses Schmuckstück liebevoll meiner Lieblingskellnerin in der Satinweste mit den unruhig hin- und herspringenden Streifen umgebunden und dabei mit meinen Lippen fast ihre Wangen berührt.

Ja, bei den Frauen komme ich immer sehr gut an. Nicht, dass ich besonders attraktiv wäre, aber ich habe etwas, das andere Männer vermutlich nicht haben.
Ich möchte nicht sagen, dass mich das kühn macht, oder gar dreist – doch es gibt mir Mut und Selbstvertrauen, mit meiner ganz persönlichen Art ihre Sympathie zu erwerben, sie mir gewogen zu machen.
Und in der Tat, alle versuchen mich heranzuwinken: Sie machen mir schöne Augen, lassen die Brüste noch ein bisschen mehr herausschauen aus diesen, eigentlich aus zwei nicht miteinander verbundenen Kleiderhälften, so dass mich auch hier zwei große braune Augen aufmunternd anschauen und meine Zögerlichkeit nicht verstehen. Mein verwischter Blick registriert als letzte zu ertragende Sinneswahrnehmung die schönsten Frauen dieser Welt, die mich auf diese unwiderstehliche Art vieräugig um meinen Verstand bringen wollen. Mich packt hemmungslose Lust, doch leider auch ein wenig Frust – denn ich kann mich nicht entscheiden.
Vielleicht für den nordischen Typ mit Blondhaar und blauen Kugelaugen oder für eine asiatische Traumprinzessin. Doch am schnellsten schwach werde ich bei dunkler Haut. Großartige Frauen winken mir mit den Händen, winken mir mit den Augen – sie winken mir mit ihrem ganzen wundervollen Körper.
Meine Handflächen schwitzen, meine Achseln kleben, mein Kopf ist ein Ballon, mein Mund ist ausgedörrt. Ich muss etwas trinken. Kalt, prickelnd frisch, belebend soll es sein. Cava muss es sein!
Besser als die meisten Champagner, nicht hochnäsig und unerträglich aristokratisch wie ebendiese, sondern ein echter Spanier durch und durch, voller Anspruch und Klasse. Und in diesem gastfreien Hause gibt es ihn glasweise!
Ich umfasse das eiskalte Glas wie in der ersten Schwimmstunde die aufgeblasenen Schwimmsäckchen unter meinen Armen; ein Cavaglas als Lebensretter gewissermaßen.
Ich möchte meine Gedanken ordnen, wenigstens im Groben – aber nein, schon sind sie da: Auf der linken Seite die große Versuchung in Person einer dunklen Königin. Ihre Figur nimmt mir den Atem, besonders ihr Dekolleté. Sie hat Befehl im Blick.
Wer auf ihr Kommando hört, ist verloren für die Welt. Er wird ein Gefunkel an herrlichen Gefühlen durchleben und dann für den Rest seines Lebens ein auf ewig Unzufriedener sein.
Rechts hingegen gesellt sich mir eine straffe, taffe junge Frau zu. Sie hat fast weiße Haut, im unglaublichen Kontrast zu ihren schwarzen Locken.
Ihr Hals ist schlank, auch ihr Rücken. Sie scheint durchtrainiert, vielleicht ist sie eine Tänzerin, eine tolle Sportlerin. Sie sagt nichts, sicher weiß sie, warum sie das tut. Aber sie bietet sich an. Ich biete ihr auch etwas an, ein eiskaltes Glas dieses weinigen Schaumes – doch sie lehnt charmant ab. Sicher kennt sie die Kehrseiten ihres komplizierten Berufes.
Da sie fast nichts sagt, bin ich derjenige, der sagt und fragt und so erfahre ich dann doch wenigstens eines ihrer sicher tausend Geheimnisse. Sie ist Ladinerin und spricht neben ihrer Muttersprache noch fünf andere europäische Sprachen, die wichtigsten eben und ich muss sagen, dass mich eine derart fantastisch aussehende Ausländerin allein schon mit ihrem unglaublichen Spanisch umhaut. Das könnte durchaus auch im Dunklen passieren, doch über dieser Bar leuchten die Sterne, echte und elektrische.

Ich bin die Kugel im Flipperautomaten, schieße im buntflackerndem Labyrinth hin und her zwischen den Polen Vernunft, Abenteuerlust und Geilheit.
Ich fühle mich in Gegenwart dieser ladinischen Schönheit wie ein des Lebens noch ziemlich Unkundiger, denn sie hat Klasse und ich bin leider nur Durchschnitt.
Ich muss mich wieder in den Griff bekommen, also bestelle ich ein nächstes Glas dieses Lebensretters. Ich schaue perplex zu, wie meine nichttrinkende Gesprächspartnerin zu diesem völlig überflüssigen Glas greift und den guten, und an diesem Ort nicht gerade preiswerten Cava langsam, fast symbolisch scheint es mir, in das Gemengsel zu unseren Füßen aus leeren Zigarettenschachteln, Zuckertütchen, zerknüllten Servietten, zwei Milliarden Zigarettenstummeln und ausgedrückten Zitronenachteln rinnen lässt. Ich bin sprachlos und werde es auch bleiben.

Meine wunderschöne Ladinerin nimmt mich an die Hand und sie führt mich durch einen breiten Korridor. Wir verschwinden in grünlichem Halbdunkel und ich hoffe, dass sie mich ordentlich verwöhnt hat.

Der folgende Morgen ist die Inkarnation des Elends dieser Erde: Morsche Knochen, ein noch betäubtes Hirn, Kopf- und Gliederschmerzen Stärke 13 auf der Leidensskala, eine schrecklich verrutschte Optik und besonders dieser Lärm!
Hunderttausend Obsthändler- und Bäckerkleinwagen mit Zweitaktmotor und Vollgas, ein Dauerhupton, den die alten Chinesen gern für die perfekte Folter gehabt hätten. Grummelnde Autobusse mit quietschenden Bremsen, Geschrei und Gezeter.
Ich möchte die Augen wieder schließen, doch das Gezeter kommt näher.
Was ich mir denn einbilde, wollen vier alte Knaben wissen, dass ich ihre seit Jahrzehnten angestammte Ruhebank so mir nichts, dir nichts über Nacht okkupiere und ob ich denn keinen Anstand und auch kein Zuhause hätte und wenn nicht, dann könnten sie mir den Weg zum Obdachslosenasyl zeigen.

Ich schäme mich, ich trolle mich. Ich stammle noch etwas wie „Es tut mir leid“, doch die alten Knaben winken nur verächtlich ab.

Tja, ich bin kein großer Held, noch nicht einmal ein kleiner.
Mein Portemonnaie ist leer, mein Schädel brummt, mein Flugticket taugt nur noch zum Feueranmachen. Wie ich meiner Frau dies und das erklären soll, steht in den Sternen.
Ich weiß es nicht. Es ist einfach passiert.

 

Hallo Josefelipe

Willkommen hier im Forum.

Ich habe Deinen Erstling hier gelesen und denke, dass Du nicht untalentiert bist. Dennoch vermochte mich die Geschichte nicht recht zu packen, da mir verschiedene Dinge hemmend waren. Das anfänglich angeritzte Thema einer Streitigkeit um eine Erbschaft versprach Spannung, doch verlor es nach dem Einstieg an Bedeutung. Was folgte, waren verschiedene Sequenzen, die einzig darauf zielten, den Abflug des Protagonisten zu verhindern. Die Überspitzungen, als Humor gedacht, waren mir dann teilweise zu aus- und abschweifend. Ich denke, es wäre ansprechender, wenn Du es in diesen Teilen stark kürzen würdest und stattdessen die monologische Erzählweise durch Unterhaltungen des Protagonisten mit seinen Begegnungen aufweichen würdest. Es böte die Chance, die Handlung stärker und kontinuierlich fortschreiten zu lassen und eine effektivere Wandlung einzubringen.

Im ersten Absatz sind es an sich Kleinigkeiten, die meinen Lesefluss zum Zögern brachten, doch empfand ich sie wie vorgelegt störend. Eine Geschichte sollte flüssig und mit einem Reiz für den Leser durchstarten.

Ich bin bereits am Flughafen.

Der erste Satz, ein Faktum, ist mir kein nennenswerter Anreiz, um in die Geschichte einzusteigen. Es liesse sich mit dem Nachfolgenden elegant verbinden, etwa so: Die breite Tür zur Flughafenhalle öffnet sich einladend. Tolles …

Tolles Flair, interessante Menschen, teure Geschäfte – eigentlich nicht meine Welt.

Statt Flair würde ich hier Atmosphäre verwenden, da der Sinn mir so nicht ganz stimmig wirkt. Im Französischen wird das Wort eher für ein Gespür verwendet. Das „eigentlich“ ist alsdann entbehrlich, da der Protagonist anscheinend eine etablierte Meinung dazu hat, ein eigentlich demgegenüber jedoch eine Unsicherheit darstellen würde.

Wenn Onkel Ricardo damals nicht ausgewandert und jetzt nicht gestorben wäre, dann würde es diesen ganzen vermaledeiten Scheißdreck mit dem Erbe, der darauf folgenden, schnapsbedingten Enterbung, der notariell beglaubigten Wiedergültigmachung des Originaltestamentes und den [der] ständig wechselnden Advocaten gar nicht geben und ich könnte in aller Seelenruhe mein Leben leben, wie es sich gehört.

Dann dieser monsterlange Satz! Besser wäre es dies in zwei, drei Sätze einzubinden. Das gezeigte Fäkalwort finde ich unschön, doch kann es Sinn machen, wenn es den Protagonisten insgesamt charakterisieren oder einer momentan starken Erregung Ausdruck geben soll.
Bei Advocaten lehnst Du Dich wiederum an die französische Sprachform an, wenn es wenigstens dem Land entsprechend spanisch wäre, doch dies trifft nicht zu. Also korrekt: Advokat.
Das verwinkelte Parkett der Juristen bringt Dich auch mit einer eigenwilligen Wortkreation etwas aus dem Gleichgewicht, der „Wiedergültigmachung“. Hier dünkte es mich besser, dies folgend zu umschreiben: wieder rechtskräftig einsetzen. Wenn ich mich recht erinnere, verwenden Juristen hierfür fachlich das Lateinische revalidieren, mit der vorgeschlagenen deutschen Umschreibung passt es jedoch besser in eine Geschichte.

Diese verdammte Urkunde habe ich nicht abgeholt!

Es ist sein Gedanke, der umgestellt besser klingen würde: Ich habe vergessen, diese verdammte Urkunde abzuholen!

Der eigentliche Notar war erkrankt

zuständige

Zeit zwischen 10.3o und 11.30 Uhr ist.

10.30

der Welt plaziert.

platziert

Und Leute – eigentlich solche wie Du und ich - die hier nicht nur leben, sondern auch eine Position innehaben, vergleichen sich, verzeihlicherweise oft unbewusst, mit den Monarchen der Restwelt.

… vergleichen sich verzeihbarerweise, da oft unbewusst, mit den Monarchen der restlichen Welt.

auch ich habe schon vor Stunden meiner Krawatte adieu gesagt.

Adieu

Du wünschst Dir Lob, wie ich Deinem Profil entnahm, und erntest eine kritische Betrachtung. Doch realistisch warst Du auch auf einen Dämpfer gefasst. :D Damit liegst Du ganz im Trend mit professionellen Autoren, denen ergeht es auch so, und wie ihnen ist auch Dir die Chance gegeben, aus der erhaltenen Resonanz zu lernen. Nicht, dass Du nun alles umkrempelst, was Dir daran wichtig erscheint, aber versuche selbstkritisch die Geschichte aufgrund meines Kommentars zu reflektieren. Ändere sodann, was Dir verbesserungswürdig ist, und wäge dann ab, ob es nicht ein Gewinn ist.

Also lass Dich vom ersten kritischen Kommentar eines Lesers nicht abschrecken, das Positive erwähnte ich zu Beginn, ich halte Dich nicht für untalentiert. Aber beweisen, musst Du es uns Lesern selbst. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo josefelipe,

Du willst gelobt werden? Na, dann frisch ans Werk.

Ich lese Deinen Text als Aneinanderkettung von Glossen über die spanische Geschichte und Gegenwart. Die eigentliche Handlung, die hier ohne Spannung auskommen muss, erstreckt sich durch sehr lange Sätze und wird immer wieder in Stichpunkten aufgeführt. Nebensächlichkeiten werden ausführlich beschrieben. Eine Handlung läuft nur im Hintergrund ab.

Aber, ich fasse den Text, wie geschrieben, als mehrere Glossen auf, und dann passt das für mich.
Lese ich den Text als Kurzgeschichte, so schliesse ich mich auch voll und ganz Anakreon an.

Ich habe den Text trotzdem recht gerne gelesen.

Liebe Grüsse
Jeanmarie Malté

 

Bonjour, Jeanmarie Malté
Du und Anakreon habt durch und durch recht mit Eurer feindosierten Kritik, die in allen Punkten zutrifft. So richtig lobgeil bin ich nicht, aber Eure netten Worte haben meinen Rücken schon gestrafft!
Du liest statt einer Kurzgeschichte Glossen - und genau das war mein Fehler. Ich habe die falsche Sparte gewählt. Soll nicht wieder vorkommen, und danke für´s Augenöffnen!
Lass es Dir gut gehen!
Joséfelipe

 

Hallo, Anakreon
Ich möchte Dir danken für den Zeitaufwand, den Du mit der Rezension meiner Geschichte hattest. Das ist ein kluger und kultivierter Kommentar. Außerdem ist er sehr hilfreich, weil ich mich deshalb (nach Deiner Antwort) mit den Eigenschaften einer guten Kurzgeschichte beschäftigt und festgestellt habe, dass ich Geschichten oder Erzählungen schreibe, aber keine Kurzgeschichen. Da habe ich falsch eingecheckt! Ich danke Dir für Deine Tipps und wünsche Dir alles Gute.
Joséfelipe

 

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