Schwein!
Jürgen hat ein Schwein.
Das Schwein haben ihm seine Arbeitskollegen zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Mein Freund Jürgen, den ich ansonsten sehr schätze, arbeitet im hiesigen Schlachthof. Ausgerechnet im Schlachthof! Als überzeugter Vegetarier bin ich allerdings heilfroh: lediglich in der Verwaltung. Und weil die Kollegen dachten, Jürgen wüsste schon, wie man mit einem echten Schwein umzugehen hätte - schließlich lebt er seit Kindesbeinen an auf einem inzwischen nicht mehr bewirtschafteten Bauernhof - hatten sie ihm gleich eins mitgebracht. Ein lebendiges Schwein. Das stand dann, süß, klein und ferkelich, im Stall, der viele Jahre nicht mehr benutzt wurde und ursprünglich für die Hausziegen vorgesehen war.
Jürgen ist ein Schwein!
Weil er das süße Hausschwein, dem er nicht einmal einen Namen gegeben hat, morgen umbringen will. So hat er es gesagt! Abschlachten! Wochenlang habe ich dem Tier trocken Brot von zuhause mitgebracht und es mit der Bürste abgeschrubbt, bis es wohlig zu grinsen angefangen hat. Und morgen muss das bedauernswerte Geschöpf also sterben. Ich habe Tränen in den Augen, als ich dem Schwein noch einmal freundschaftlich mit der Hand auf sein breites Hinterteil klatsche. Das Tier kichert mich nichtsahnend an und sagt mit seinen treuherzigen Augen, dass es noch einmal eine erquickende Ganzkörperbürstenmassage von mir haben möchte. Ein allerletztes Mal. Weil … morgen ist schließlich alles vorbei!
Während ich mit der Bürste über den breiten Schweinerücken fahre, versuche ich mir vorzustellen, wie Jürgen das arme Tier töten würde. Dabei blicke ich ihn von der Seite an und mustere ihn vorwurfsvoll. Würde er, mit einem Messer bewaffnet, auf das Schwein losgehen und sich mit ihm auf dem schmutzigen Stallboden wälzen? Wie stellt Jürgen es sich überhaupt vor, das Schwein zu überwältigen, das ihm an Kraft und Gewicht völlig überlegen ist? Jürgen wird wohl mit Hinterlist vorgehen müssen. Den Überraschungsmoment ausnützen. Er wird einen Plan haben, mein Freund Jürgen! Sicherlich weiß er inzwischen genau, was zu tun ist, um das arme Schwein vom Leben in den Tod zu befördern. Vielleicht wird er das Tier an den Beinen fesseln, ihm noch einmal kalt in die Augen sehen und dann … bedenkenlos zustechen. Welches Gefühl ist es, so frage ich mich, wenn man einer Kreatur die Kehle durchschneidet? Kann ein Mensch, der einem Schwein die Kehle durchtrennt, womöglich das gleiche auch bei einem Menschen tun, ohne viel Skrupel dabei zu empfinden? Wird Jürgen morgen das Schwein alleine lassen, oder dabei zusehen, wie es jämmerlich verblutet? Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Schwein verblutet ist? Ich stelle mir vor, dass es zunächst noch zappelt und wild um sich schlägt, dann aber in seinen Bewegungen zusehends schwächer wird. Die Hand, die es gefüttert und gestriegelt hat, wird für sein grauenvolles Ableben verantwortlich sein. Dem schockierten Blick, wenn das Schwein diese Tatsache erkennt, würde ich selbst niemals standhalten können. Und was geschieht mit den Unmengen von Blut, das nach dem Schlachten überall im Stall verteilt sein wird, an Wände spritzt, auf den Boden tropft, so dass das Stroh durchnässt wird und mit dem Schweineblut eine zähe, stinkende Masse bildet? Mein Freund Jürgen wird das Messer führen. Morgen. Ich sehe es ganz deutlich vor meinem geistigen Auge. Jürgen, der Mörder! Jürgen, das Schwein! Elendes Schwein!
Ich frage Jürgen: "Wie wird es morgen passieren?"
Er sagt: "Das macht Diether. Um fünf Uhr früh wird das Schwein abgeholt."
Jürgen lacht mich nach einer kurzen Pause verschmitzt an und tut ironisch: "Zum Schweinebraten bist du selbstverständlich eingeladen!"