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Erinnerung einer Rentnerin

Beitritt
26.03.2014
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Erinnerung einer Rentnerin

Erinnerung einer Rentnerin

An jenen Tag erinnere ich mich ganz genau, obwohl ich nicht einmal groß genug war, um aus dem Fenster zu blicken. Meine Mama hatte hierfür einen Stuhl aufgestellt. Einen alten, schönen, mit roten Polstern auf der Sitzfläche und auf der Rückenlehne. Auf diesen konnte ich dann hochklettern. Durch die Pflanzen auf der Fensterbank hindurch schaute ich hinaus in die weite Welt. Draußen schien die Sonne und am blauen Moskauer Himmel gab es nicht eine einzige Wolke. Im Raum herrschte währenddessen eine ausgelassene Atmosphäre. Die Bretter aus denen unser Fußboden bestand waren frisch gewischt. Auf dem Sofa unterhielt sich meine Mutter mit ihrer Freundin, die Olga hieß. Diese war ein häufiger Gast bei uns.

Die Harmonie des Nachmittages unterbrach ein wildes Hämmern an der Eingangstür. Es kam so unerwartet und plötzlich, wie alles andere, was dem folgen sollte. Ich war zunächst nur zusammengezuckt, dann bekam ich es mit der Furcht zu tun. Meine Mutter geriet ohnehin in Panik, wann immer es irgendwo klopfte. So war das, seit sie meinen Vater geholt hatten. Doch jetzt - das war kein Klopfen. Es waren Schläge. Heftige Schläge, als versuche jemand, die Türe aufzubrechen.
Sie standen auf und gingen hin, während ich auf dem Stuhl blieb. Nur wenige Augenblicke später kamen sie wieder. Zu dritt. An beiden Armen hielten sie unsere Nachbarin fest. Deren Gesicht konnte ich zunächst nicht erkennen, denn ein Heulkrampf hatte es bis zur Unkenntlichkeit verändert. So hatte ich sie nie zuvor gesehen. Sie versuchte zu sprechen, aber aus ihrem Mund kam nur ein unverständliches Gewimmer. Die einzigen deutlichen Worte waren: „Meine Söhne, meine Söhne...“. Das wiederholte sie immer und immer wieder. Sie war hysterisch und auch ich begann, wie angesteckt, zu weinen. Die Angst war in unser Haus gekommen, furchtbare Angst. Wann immer ich dieses Wort höre, muss ich an die Augen dieser Frau denken. Aus ihren großen, rot-weiß-blauen Kugeln sprach die Machtlosigkeit vor dem Schicksal. Mama versuchte aus aller Kraft, sie zu beruhigen, während Tante Olga ein Glas Wasser aus der Küche geholt hatte. Erst als sie sich ein wenig beruhigt hatte und kurz vor ihrem nächsten Panikanfall stotterte sie etwas vor sich hin:
„Radio - Molotow spricht - Krieg“.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anton,

mir gefällt das thema der geschichte, auch wenn ich mir eine etwas längere version davon gewünscht hätte. ansich fängst du hier nur eine szene ein, (iwie kommentiere ich immer nur solche geschichten ;) ) doch das tust du ganz gut. Anfangs weiss man nicht worum genau es geht...

"So war das, seit sie meinen Vater geholt hatten."

Hier dachte ich zuerst an die Polizei.. vermutlich zu viel Бандитский Петербург geschaut :D ... ich finde es auch schön, dass du das ganze erst im letzten satz auflöst.

Leider bin ich zu jung und kein geschichtskenner.. nachdem ich molotov bei wikipedia nachgeschlagen habe, vermute ich aber deine szene spielt am 22. juni 41?

manchmal kam ich vom lesefluss etwas ins stocken, ab und zu formulierst du, meiner meinung nach, etwas zu umständlich.. als beispiel:

"meine Mutter mit ihrer Freundin, die Olga hieß."

vielleicht hätte es hier gereich sowas wie "..ihre freundin, olga." zu schreiben, dann geht das lesen flüssiger von der hand.

alles in allem eine gute momentaufnahme, letzendlich geht es in der szene ja um den plötzlichen stimmungswechsel, der die gemütliche atmosphäre zerstört.

ich hätte mir nur einen etwas längeren text gewünscht, da der titel auf etwas mehr geschichtlichen inhalt hoffen lässt... vielleicht ja noch eine beschreibung davon, wie jemand eingezogen wird, was er dabei fühlt etc.

aber das ist meine meinung, vermutlich ging es dir hier eh nur um diesen einen moment aus der sicht eines kindes und die tatsache dass er lust auf mehr weckt spricht doch für den text.

LG
Gammler

 

Hallo Anton,
die Einleitung fand ich schön, die Sprache ist so bedächtig, wie alte Menschen oft ihre Erinnerungen aufschreiben. Ich fühlte mich sofort in frühere Zeiten versetzt.
Im zweiten Teil, war ich auch lange auf der falschen Fährte, bei den Schlägen an der Tür dachte ich, jemand wird abgeholt.
Etwas unglücklich, ja beinahe unfreiwillig komisch fand ich die Formulierung mit den "großen rot-weiß-blauen Kugeln".
Den Satz "Die Angst war in unser Haus gekommen." fand ich eigentlich gut. (vielleicht noch ein Absatz vorher?).
Aber war die Angst nicht schon da, sei sie den Vater der Prot. abgeholt hatten?
Der Text hat mich berührt, weil er einen Schicksalsmoment im Leben eines Kindes beschreibt.
Und weil es im Moment so viele Kriege gibt und so viele Kindheiten plötzlich enden.
LG Chutney

 

In Zeiten, da Erinnerungen der stalinschen Expansion nach Westen (Baltikum, Bessarabien und Bukowina) wieder durch Köpfe und Medien geistern, wirft dieses wundersam ruhig erzählte Schlaglicht (das Wort wirkt gewaltiger als die Geschichte wirken will) dieser Jahre, da das Zarenreich und seine Rechtsnachfolgerin UdSSR in einem wiederauflebenden (zweiten) Dreißigjährigen Krieg (1914 – 1945) ins tatsächlich selten bis nie unterbrochene Schlachten (hier GULAG, dort KZs, aber immer Schlachtengemälde samt Ruinen) Opfer verlangen. Gelungen ist, durch bloße Andeutung (Hämmern, der Ruf nach den Söhnen) die bedrückende Stimmung wiederzugeben.

Ich entsinne mich, dass meine Mutter bei Gewitter sich im Keller verkroch,

lieber Anton.
Und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!

Zwo, drei kleine Anmerkungen:
Warum hier die nachgestellte Erläuterung zum Fußboden, die auch noch nach Kommas schreit

Die Bretter[,] aus denen unser Fußboden bestand[,] waren frisch gewischt.
Wenn’s gefahrlos ohne als Genitivkonstruktion geht
Die Bretter [des] Fußboden waren frisch gewischt.
„Meine Söhne, meine Söhne...“.
Hier ist der abschl. Punkt entbehrlich, wird er doch durch den letzten der Auslassungspunkte vorzüglich ersetzt. Die Auslassungspunkte in der vorliegenden Form deuten an, dass wenigstens ein Buchstabe am vorhergehenden Wort fehlte. Was aber nicht der Fall ist. Also besser mit Leertaste zwischen dem letzten Buchstaben und dem ersten Auslassungspunkt:
„Meine Söhne, meine Söhne[…]...“[…]

Komma steht im Folgenden nicht falsch, wenn’s einen nachgestellten Einschub (der „wie angesteckt“ ja durchaus auch ist) darstellt. Tatsächlich ließe es sich aber als Ergänzung der Infinitivgruppe ansehen und ein Komma ersparen:
… und auch ich begann, wie angesteckt[…] zu weinen.

Gern gelesen vom

Friedel, der ganz gern mehr von Dir lesen würde ...

 

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