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Albertina
Er war einfach der Nase nach gelaufen, als er vor einem weiteren prächtigen Gebäude stehen blieb. Er las an der hohen Steinwand in goldenen Lettern geschrieben ‘Albertina’, ohne zu wissen was es sei und fuhr mit der Rolltreppe auf den erhöhten Vorplatz. Oben angekommen schaute er sich um und sah etliche Menschen ein und ausgehen. Es musste wohl ein öffentliches Gebäude sein und auch wenn er vorhatte heute an der frischen Luft zu bleiben, wollte er zumindest einen Blick reinwerfen und schauen, um was es sich hier handelte. Er öffnete einem älteren Paar die Tür und betrat nach ihnen das Gebäude.
Rechts die Garderobe, geradeaus der Gang zum überdachten Innenhof, ging Karl weiter hinein und begann zu vermuten, daß es sich wohl um ein Museum handeln würde. Er wollte noch kurz sich umschauen und ein Prospekt mitnehmen, als er am anderen Ende des Innenhofs eine Frau sah, die soeben ihre Karte vorgezeigt hatte und sich nun tiefer in die Gänge des Museums entfernte. Er wusste nicht genau womit, aber sie hatte sein Interesse geweckt. Vielleicht war es sein Vertrauen in die Reife dieses Tages und in den Beginn eines neuen Lebensabschnittes, welches ihm lautlos, aber doch vernehmbar aufmerksam machte, sich gehen zu lassen und in das Unbekannte einzutauchen. Kurzentschlossen ging er zur Kasse, kaufte sich eine Eintrittskarte und folgte ihr in die Ausstellung.
Er musste ein paar Besucher gekonnt überholen, aber da er sie die ganze Zeit im Blick behalten hatte, beeilte er sich nicht übermäßig. Sie ging allein und ruhig den Gang entlang, welcher am Ende nach oben zu der Ausstellung führte und Karl holte sie noch rechtzeitig bei der Treppe ein. Gleichzeitig mit ihr begann er die Stufen hinauf zu steigen und schaute dabei interessiert zu ihr herüber. Er hoffte weiter oben auf eine Tür, die er ihr aufhalten können würde und nahm die weiteren Stufen ein bisschen schneller. Karl spürte ihren Blick auf sich liegen und stellte sich dabei ihr langes, glattes, dunkelbraunes Haar vor, wie es ihren geraden, schmalen Hals verdeckte und beim Hochgehen mit jeder erklommenen Stufe leicht auseinanderfallend ihre zarte Haut im Nacken durchschimmern ließ.
Er genoß es, sie hinter sich zu wissen und nahm ohne jede Eile die letzten Stufen. Zwei große, bräunliche Glastüren warteten auf sie und er öffnete mit Schwung die rechte von ihnen, während sein Blick schon erwartungsvoll zurück über seine Schulter wanderte und in ihren Augen sein Ziel fand.
Während er entspannt an der Tür lehnte trat sie ein und schaute kurz zu ihm herüber. Kaum bemerkbar beugte er sich zu ihr als sie an ihm vorbeiging und nahm dankbar die Schönheit ihres Lächelns wahr, welches ihr sanfter Mund formte, nachdem sich ihre Blicke einen kurzen Moment lang getroffen hatten.
Noch als sie im Vorübergehen war verlagerte er sein Gewicht auf seinen linken Fuß und folgte ihr sich zu ihr drehend mit nur wenig Abstand. Er wollte unbedingt wissen wie sie roch und schloss, während er ihr dicht folgte, für einen kurzen Moment seinen Mund und seine Augen und atmete langsam tiefe Züge durch seine Nase ein.
Zufrieden nahm er wahr, daß sie kein überreizendes Parfum trug und ließ ihren lebendigen Duft in sich hinein, den besonders ihre Haare ihm ausbreiteten, nachdem sie ihn den ganzen warmen Frühlingstag bis zu dieser Stunde aufgenommen hatten.
Von ihrem Duft tief erfüllt verlangsamte er etwas seine Schritte und öffnete wieder seine Augen. Nun sah er vor sich den Rücken einer rassigen, jungen Frau mit langen, braunen Haaren, welche sich heute für eine tiefblaue Bluse und eine dunkelgraue, wunderbar enganliegende Hose aus glattem Leder entschieden hatte.
Sie ging rechts auf das erste Gemälde zu und ließ genug Abstand, um es in seiner Gänze gut betrachten zu können. Karl ging links weiter und wendete sich ehrlich interessiert einem anderen Bild zu und ließ für einen Moment lang nichts als die Farben auf sich wirken.
Außer den beiden befanden sich noch viele weitere Besucher in dem ersten Raum. Ohne seinen Blick noch großartig umherschweifen zu lassen, ging er zielstrebigen Ganges in den nächsten Abschnitt und blieb vor einem besonders auffallendem Kunstwerk stehen. Er ließ das intensive rot, des ansonsten sehr dunklen, lichtarmen Bildes auf sich wirken, machte Stück für Stück einen Schritt auf es zu und verband die Konturen des fernen Blickes mit der Detailfülle der Nähe. Zufrieden nahm er die kleinsten Pinselstriche und Tupfer des Ölgemäldes wahr und genoss das gemeisterte Handwerk des Malers.
Hinter ihm hörte er verschiedene Schritte und hielt sich schließlich gedanklich an ihnen fest, um sich von dem Bild zu lösen. Als er seinen Gang in den nächsten Raum begann, warf er kurz einen Blick zurück und sah sie noch immer bei den ersten Gemälden stehen.
Ihre anmutige Haltung im Gedächtnis trat er in den nächsten Raum ein und kam vor einem originalen Abdruck der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zum Stehen. ‘All men are created equal’, las er und dachte dabei an die einzigartige Schönheit, die gerade seit einigen Augenblicken dabei war ihn zu verzaubern. Er nahm sich alle Zeit der Welt und las das alte Dokument mit seinen verschnörkelten Schriftzeichen in Ruhe durch. Nach wenigen Zeilen hatte Karl sich an das ungewohnte Schriftbild gewöhnt und ließ den Text auf sich wirken. Er versuchte sich vorzustellen, mit welchem Geiste diese Worte verfasst worden waren und woher sie ihre Kraft genommen hatten.
Während er der Bedeutung von ‘Pursuit of Happiness’ nachsann, verhallten hinter seinem Rücken unzählige Schritte, welche ihn während des Nachdenkens kaum erreicht hatten. Seine Gedanken glitten wieder zu ihr und er ließ seinen Blick umherschweifen, um zu sehen wo sie sich gerade aufhielt.
Er konnte sie auf den ersten Blick nicht finden und durchschritt zwei Räume, ohne Besucher oder Kunstwerke einer genaueren Betrachtung zu würdigen. Er suchte das tiefe Blau und fand es am Ende der Ausstellung wieder.
Sie stand bereits vor dem letzten Bild und sah es in Ruhe an. Er ließ ein wenig Platz und kam neben ihr zum stehen. Mit geradem Blick schaute sie auf das Kunstwerk, während er sich leicht zu ihr drehte und ihr Gesicht von der Seite betrachtete.
“Schönheit liegt vor meinem Auge als Betrachter”, sagte Karl mit ruhiger Stimme zu ihr.
Die junge Frau blickte lächelnd zu ihm herüber. Mit einer Geste zeigte er auf den nahen Ausgang und ging auf ihn zu. Sie folgte ihm und er öffnete ihr die Tür. Als sie nach draußen getreten war drehte sie sich zu ihm und reichte ihm ihre Hand.
“Elena!”
Karl ergriff sie und drückte sie sanft.
“Karl!”