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Die Rohrzange
In einer Nacht träumte Viktor von einer Rohrzange. Es war eine schöne Rohrzange, bei der sich die Klemmgrösse mit einem einfachen Gewinde verstellen liess. Sie war etwa so lang wie sein Unterarm und hatte eine knallrote Farbe. Es war kein neues Werkzeug, was an den vereinzelten Kratzern und kleinen Rostflecken zu erkennen war.
Als Viktor aufwachte und feststellte, dass alles nur ein Traum war, wurde er traurig. Er sagte sich: Solch eine Rohrzange muss ich haben! Also ging er noch am gleichen Tag in ein Klempnergeschäft und suchte die Regale mit Werkzeugen durch. Und tatsächlich fand er eine rote Rohrzange ähnlichen Art, doch er merkte, dass sie ihn nicht so erfreute, wie diejenige im Traum. Sie war schliesslich neu und nicht gebraucht und die Form der Zähne entsprach nicht genau seinen Wunschvorstellungen.
Viktor setzte seine Suche fort, indem er Altwarenhändler und Trödelmärkte aufsuchte. Überall fand er Werkzeuge aller Arten und Formen, doch nie traf er eine Rohrzange an, wie er sich eine wünschte.
Seine Suche wurde zur Obzession. Kein Tag verging ohne einen Laden- oder Marktbesuch.
Wochen später musste er sich zugestehen, dass seine Suche ihn in keiner Weise näher an sein Glück gebracht hatte. Wie konnte das sein, fragte er sich entrüstet. Irgendwo musste doch eine solche gebrauchte Rohrzange existieren! Irgendjemand musste eine solche besitzen!
Die Gedanken brachten ihn auf eine Idee. Viktor gab sein Studium auf und liess sich von einem Unternehmen anstellen, welches Möbel transportierte und Wohnungen ausräumte. Das Ausräumen verlassener Wohnräume, besonders solcher, in denen kürzlich Leute verstorben waren, machte Viktor zu schaffen. Nur durch das geistige Festhalten seines Zieles, eine schöne rote und gebrauchte Rohrzange zu finden, schaffte er es jeden Tag, sich zur Arbeit zu überwinden. Ja er machte sogar Überstunden, vernachlässigte Pausen und freie Tage.
Jahre vergingen. Viktor wurde alt und schwächlich und begann schon sein Ziel aus den Augen zu verlieren, da winkte ihm das Glück. Eines Tages, als er die Wohnung eines Altwarenhändlers, welcher Selbstmord begangen hatte, ausräumte, entdeckte er die Rohrzange seiner Träume in einer verstaubten Kiste. Sie lag verdeckt unter einer löchrigen Zierdecke.
Viktor nahm die Rohrzange in die Hände und betrachtete sie lange. Das war sie! Das war die Rohrzange, wie er sie sich schon immer gewünscht hatte! Er hatte sie gefunden!
Glücklich und mit einem Gefühl der inneren Ruhe verliess er, ohne jemandem etwas zu sagen, seine Arbeit und ging zu sich nach Hause. Dort setzte er sich in sein Wohnzimmer und betrachtete lange und völlig abwesend das Werkzeug. Hungergefühl liess ihn wieder aufwachen. Er blickte um sich und war erschrocken in welchem Zustand sich seine Wohnung befand. Alles war völlig vernachlässigt, die Küche und das Bad völlig verdreckt, der Kühlschrank schon seit Jahren kaputt. Schimmel bedeckte die Wände und Schaben huschten am Boden umher. Hatte er sich derart in seiner Suche verloren?
Auch musste Viktor plötzlich an all die Menschen denken, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sich nie mehr bei ihnen gemeldet und hatte jegliche Kontaktversuche von ihrer Seite her ignoriert. Seine Freunde, seine Eltern und Geschwister; sie alle waren nun wie Fremde für ihm. Wussten sie noch überhaupt, wer er war? Wusste er noch, wer er war?
Viktor hob seine Rohrzange auf und drückte sie fest an die Brust. Er merkte kaum, wie er auf den Balkon hinausging und dort stehen blieb, bis die Sonne unterging.
Am nächsten Morgen fand man Viktor tot auf dem Platz unter dem Balkon. Eine rote, leicht angerostete Rohrzange lag neben ihm.