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Die Rohrzange

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17.09.2012
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Die Rohrzange

In einer Nacht träumte Viktor von einer Rohrzange. Es war eine schöne Rohrzange, bei der sich die Klemmgrösse mit einem einfachen Gewinde verstellen liess. Sie war etwa so lang wie sein Unterarm und hatte eine knallrote Farbe. Es war kein neues Werkzeug, was an den vereinzelten Kratzern und kleinen Rostflecken zu erkennen war.
Als Viktor aufwachte und feststellte, dass alles nur ein Traum war, wurde er traurig. Er sagte sich: Solch eine Rohrzange muss ich haben! Also ging er noch am gleichen Tag in ein Klempnergeschäft und suchte die Regale mit Werkzeugen durch. Und tatsächlich fand er eine rote Rohrzange ähnlichen Art, doch er merkte, dass sie ihn nicht so erfreute, wie diejenige im Traum. Sie war schliesslich neu und nicht gebraucht und die Form der Zähne entsprach nicht genau seinen Wunschvorstellungen.
Viktor setzte seine Suche fort, indem er Altwarenhändler und Trödelmärkte aufsuchte. Überall fand er Werkzeuge aller Arten und Formen, doch nie traf er eine Rohrzange an, wie er sich eine wünschte.
Seine Suche wurde zur Obzession. Kein Tag verging ohne einen Laden- oder Marktbesuch.
Wochen später musste er sich zugestehen, dass seine Suche ihn in keiner Weise näher an sein Glück gebracht hatte. Wie konnte das sein, fragte er sich entrüstet. Irgendwo musste doch eine solche gebrauchte Rohrzange existieren! Irgendjemand musste eine solche besitzen!
Die Gedanken brachten ihn auf eine Idee. Viktor gab sein Studium auf und liess sich von einem Unternehmen anstellen, welches Möbel transportierte und Wohnungen ausräumte. Das Ausräumen verlassener Wohnräume, besonders solcher, in denen kürzlich Leute verstorben waren, machte Viktor zu schaffen. Nur durch das geistige Festhalten seines Zieles, eine schöne rote und gebrauchte Rohrzange zu finden, schaffte er es jeden Tag, sich zur Arbeit zu überwinden. Ja er machte sogar Überstunden, vernachlässigte Pausen und freie Tage.
Jahre vergingen. Viktor wurde alt und schwächlich und begann schon sein Ziel aus den Augen zu verlieren, da winkte ihm das Glück. Eines Tages, als er die Wohnung eines Altwarenhändlers, welcher Selbstmord begangen hatte, ausräumte, entdeckte er die Rohrzange seiner Träume in einer verstaubten Kiste. Sie lag verdeckt unter einer löchrigen Zierdecke.
Viktor nahm die Rohrzange in die Hände und betrachtete sie lange. Das war sie! Das war die Rohrzange, wie er sie sich schon immer gewünscht hatte! Er hatte sie gefunden!
Glücklich und mit einem Gefühl der inneren Ruhe verliess er, ohne jemandem etwas zu sagen, seine Arbeit und ging zu sich nach Hause. Dort setzte er sich in sein Wohnzimmer und betrachtete lange und völlig abwesend das Werkzeug. Hungergefühl liess ihn wieder aufwachen. Er blickte um sich und war erschrocken in welchem Zustand sich seine Wohnung befand. Alles war völlig vernachlässigt, die Küche und das Bad völlig verdreckt, der Kühlschrank schon seit Jahren kaputt. Schimmel bedeckte die Wände und Schaben huschten am Boden umher. Hatte er sich derart in seiner Suche verloren?
Auch musste Viktor plötzlich an all die Menschen denken, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sich nie mehr bei ihnen gemeldet und hatte jegliche Kontaktversuche von ihrer Seite her ignoriert. Seine Freunde, seine Eltern und Geschwister; sie alle waren nun wie Fremde für ihm. Wussten sie noch überhaupt, wer er war? Wusste er noch, wer er war?
Viktor hob seine Rohrzange auf und drückte sie fest an die Brust. Er merkte kaum, wie er auf den Balkon hinausging und dort stehen blieb, bis die Sonne unterging.
Am nächsten Morgen fand man Viktor tot auf dem Platz unter dem Balkon. Eine rote, leicht angerostete Rohrzange lag neben ihm.

 

Hi kvgunten,

da hast du ja eine wirklich schön skurrile Geschichte rausgehauen; hat mir Spaß gemacht zu lesen. Deine Story lies sich angenehm und flüssig lesen, auch wenn ich mir beim lesen gedacht hab: Wo soll das nur hinführen?

Ich versteh deine Geschichte als Kritik an einer zu materialistisch ausgerichteten Gesellschaft. Viktor jagt "nur" einem Gegenstand nach und vernachlässigt dafür seine Familie, Freunde und sein ganzes Leben, um am Ende zu erkennen, dass er seine Zeit komplett verschwendet hat.

Eine andere Sichtweise, an die ich nach dem lesen ebenfalls denken musste war, dass Viktor nach einem Hirngespinst sucht, etwas, dass nur für ihn einen Sinn ergibt, und von dem er sich Verspricht Glück/Zufriedenheit zu finden. Also eine Art Energievampir, in Form einer Rohrzange, und dass Viktor dadurch sein Leben aufgibt. So als wolltest du dem Leser sagen ihre Zeit nicht mit Sinnlosem zu verschwenden, logisch über die Dinge nachzudenken, um nicht so zu Enden wie Viktor(nicht im Sinne von Tod mit Rohrzange, sondern zu erkennen das Leben nicht so gelebt zu haben, wie er es hätte haben können).

In diesem Kontext, sofern ich ihn richtig verstanden habe, gefällt sie mir wirklich sehr gut. Allerdings hätte das Ende, die Art von Selbstreflexion, deutlicher ausgearbeitet sein können. So noch als kleiner Kritikpunkt ;)


Mit besten Grüßen,

James

 

Hi kvgunten,

die Story liest sich gut und flüssig. Lässt den Leser nachdenklich werden. Was bedeutet "Möbel zügeln"?
Gefiel mir gut.

Troisdorf11

 

Hallo James, hallo Troisdorf11

Danke für eure Rückmeldungen! Ich bin froh, dass euch die Geschichte gefallen hat und sie richtig aufgefasst wurde. Ich hatte befürchtet, dass die lineare Erzählweise schlecht ankommt.
"Möbel zügeln" ist wohl Schweizerdeutsch für Möbelumzug. Das werde ich anpassen müssen.

Gruss,
kvgunten

 

Lieber kvgunten,

also mein eindruck ist, du machst es dir ein bisschen zu einfach mit dem Ende. Immerhin baust du eine schöne, absurde Geschichte auf, die viele Deutungen zulässt. Aber das Ende scheint mir auf einen Bedeutungsstrang reduziert (die Idee, dass mit der Erfüllung des Wunsches kein Ziel und damit auch kein Lebensinhalt mehr vorhanden sind). Betrachtet man jetzt diese Rohrzange mal überspitzt als Lebenssinn und Motivator, so ginge das noch o.k. Dann findet die Geschichte ein passendes Ende und das (im Prinzip köstliche) Bild der Rohrzange steht für was auch immer einem im Leben wichtig sein könnte. Mit der Erwähnung der Vernachlässigung aller anderen Lebensbereiche gibst du diese Reduzierung aber auf und machst ein neues Fass auf, das aber meiner Meinung nach nicht entsprechend bearbeitet wird. Und so habe ich als Leser nur die Geschichte eines besessenen Durchgeknallten, aber vielleicht sollte es das ja sein?
LG Cleng

 

Hallo Krips, hallo Cleng

Danke für eure Meinungen.

An Krips: Darauf gekommen bin ich, weil ich selber mit einem ähnlichen Fall verwickelt war. :) Dabei hatte eine Rohrzange tatsächlich auch eine Rolle drin.

An Cleng: Die Geschichte ist im Grunde genommen tatsächlich eine simple Beschreibung des Lebens von Viktor. Ob man ihn als Durchgeknallten bezeichnen darf, bin ich mir nicht ganz sicher. Ist denn tatsächlich der Wille etwas zu besitzen, was auch immer das sein mag, ein Grund genug, um als durchgeknallt zu gelten? Natürlich ist Viktor am Schluss etwas überrascht, wie das Ganze ausgeht, das hätte er so nicht erwartet und hätte sich eventuell anders benommen. Doch inwiefern ist es falsch, sich ein Ziel im Leben zu setzen und es mit völliger Hingabe zu verfolgen?

Gruss,
kvgunten

 

Hallo kvgunten,

ehrlich gesagt, habe ich Schwierigkeiten mit deiner Geschichte warm zu werden. Das liegt weniger am Thema - das eigene Leben zu vernachlässigen, weil man von etwas nicht mehr loskommt, das kann sehr spannend sein - als an der Umsetzung. Dein Text hat für mich mehr von einer Inhaltszusammenfassung als von einer Geschichte. Du berichtest einfach eine Tatsache nach der anderen. Dadurch hab ich irre viel Distanz zu der Geschichte, ich kann da nicht wirklich eintauchen und am Ende bleibt der Tod von Viktor ziemlich belanglos, weil du er mir nicht nähergekommen ist. Das liegt auch daran, dass du da ein ganzes Leben auf sehr kurzem Raum abhandelst. Damit das funktioniert, muss das schon sehr pointiert und verdichtet sein. Und das funktioniert bei deinem Text leider nicht so ganz für mich. Ist auch irre schwer sowas.

Vermutlich wäre es am Besten, wenn du dem ganzen Text mehr Raum gibst. Denn das eigentlich spannende ist ja nicht, dass er sein leben vernachlässigt, sondern, wie es dazu kommt. Und dafür reicht es nicht zu sagen, er träumt von der Rohrzange und hat sich. Es dürften relative viele Menschen von Rohrzangen träumen oder gleich abzudrehen. Dein Text müsste also die Gründe und zwischenschritte aufzeigen, die Viktor immer weiter isolieren. Das ist doch eigentlich das tolle an Literatur, dass ich in die Köpfe von fremden Menschen schlüpfen kann, in ihr Leben. Wenn ich nur ein Beispiel für Zwangsverhalten will, kann ich mir ne Fallgeschichte aus der Psychatrie durchlesen. Würdest du aber die Dinge ausleuchten, die ein Beobachter von außen gar nicht mitbekommen kann, sondern die Teil der Person sind, sein Innerstes quasi, das ihn in die Obession drängt. Seine Zweifel und Probleme und Schmerzen. Dann wäre ich voll dabei und hätte das gefühl, durch deine Geschichte bereichert zu werden.

So viel von mir.

Gruß,
Kew

 

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