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Auf der falschen Seite
Das Restaurant liegt, stets gern zu Diensten, auf der stillen Seite am Fluss, an der prächtigen schönen Donau. Die Küche ist zuverlässig gut, besonders die Fischsuppe. Bedienung und Wein sind vorzüglich, am Wochenende gibt es Zigeunermusik. Jetzt aber, mitten in der Nacht, sind die Lichter gelöscht, die Ober haben wie immer korrekt abgerechnet - von dieser Ausnahme mit der Goldkette einmal abgesehen.
Vom Restaurant, unter dessen letzten Gästen sie waren, sind es ungefähr drei Minuten zu Fuß bis hierher, zur Straßenbahnhaltestelle. Es ist schon spät und so brennt eine einsame und nicht besonders schöne Laternenfunzel schon seit Stunden hier an den Gleisen und jetzt über ihren Köpfen.
Ein schon seit längerem mit Frau Lea befreundetes Ehepaar, das Herrn Harry auch mit Frau Lea bekannt gemacht hatte – erst telefonisch und heute Abend auch persönlich - hatte die beiden kurz nach sechs Uhr mit ihrem bejahrten Peugeot zum Restaurant chauffiert, um dann weiterzufahren zu ihrer Datscha in den Hügeln zwischen Buda und Hüvösvölgy. Sie hatten sich gegenseitig noch einen schönen Abend gewünscht und es war auch anzunehmen, dass sich die guten Wünsche erfüllen würden.
Leider stehen nun Frau Lea und Herr Harry schon länger an dieser Haltestelle und warten auf die nächste Bahn. Sie würden sich gern setzen, doch es gibt keine Sitzgelegenheit. Es gibt keine Bank, kein Mäuerchen, keinen dicken kurzen Betonsockel, wo man sich ein wenig niederlassen könnte.
Herr Harry hat mal in einem älteren Film gesehen, wie ein Pfiffikus das Ohr dicht an die Schienen legte, um so zu erfahren, ob der erwartete Zug sich nähert. Aber das waren Eisenbahnschienen und die lagen in Amerika. Trotzdem reizt ihn diese Idee, hier vor Frau Lea diesen männlichen Auftritt vorzuführen, der ja zugleich, neben seiner Besorgtheit, auch von viel Praxis und Welterfahrung künden würde. Frustrierend ist leider der Gedanke an seine Steifheit und Korpulenz, denn diese ungewohnte Turnübung würde er wohl nur mit mächtigem Geschnaufe und knirschenden Gelenken hinkriegen.
So nimmt er Abstand von diesem Vorhaben und vertieft sich zum wiederholten Male in den an einem Eisenpfosten angebrachten Fahrplan, aus dem er aber nicht so richtig schlau zu werden scheint. Die Beleuchtung ist sehr schummrig und deshalb kann er die ausgedruckten Fahrzeiten nicht entziffern. Doch so oder so – es will nichts geschehen. Hätte er die Lea schon vor vierzig Jahren kennengelernt, dann hätte er sie notfalls auf Händen nach Hause getragen, aber das hat an diesem späten Abend keinerlei Bedeutung.
Es wird empfindlich kühl und Frau Lea zittert ein wenig. Er muss sie vor einer Erkältung bewahren, denn er fühlt sich verantwortlich für diese unerfreuliche Situation. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihr sein Jackett um die Schultern zu legen und ihr statt tröstender Worte, denen er selbst keinen Glauben schenken könnte, einige Male aufwärmend über den Rücken zu streichen. Ein echtes Streicheln erscheint ihm in dieser misslichen Lage unangebracht; sie kennen sich ja erst seit heute.
Möglicherweise kommt überhaupt keine Bahn mehr in dieser Nacht. Und morgen nicht und übermorgen nicht. Vielleicht ist die ganze Strecke stillgelegt worden und Herr Harry weiß es nur nicht?
Er beginnt jetzt selbst ein wenig zu bibbern, denn die Nacht ist kalt geworden. Und er hat ja nur noch Hemd und Weste an. Zu aller Unbill zieht ein böser Wind auf, Regen ankündigend.
Leider ist die Ankündigungszeit sehr knapp bemessen und es beginnt tatsächlich zu regnen. Es ist ein kalter Regen, der auf die beiden hernieder geht.
Frau Lea hat die Augen zusammengepresst, ihre Lippen sind verkniffen. Ein farbloser Mund, wie mit dem Lineal gezogen. Hart und bitter. Da hat sie sich ja einen tollen Kavalier herausgesucht! Großspurig und beredt, eine Idee zu laut, eine Idee zu leutselig und gönnerhaft.
Nicht genug, dass sie schon mit ihrem letzten Geld die Restaurantrechnung bezahlen musste, weil er trotz bemühten Suchens seine Kreditkarte nicht finden konnte. Für den noch offenen Restbetrag musste sie auch noch ihre goldene Kette als Sicherheit hinterlegen. Und Geld für ein Taxi blieb durch dieses Debakel auch nicht übrig.
Die Regenschauer nehmen an Heftigkeit zu. Sie prasseln auf die beiden Ungeschützten, es wird lebensgefährlich kalt.
Ringsum ist Leere, wiewohl rötlicher Lichterschein eine Art Himmelszelt bildet. Völlig unbeteiligter Lichterschein, von Hochhäusern drüben auf der anderen Seite, von riesigen Reklametafeln, drüben auf der anderen Seite, von den Autos, noch so spät oder doch schon so früh unterwegs – auf der anderen Seite.
Frau Lea und Herr Harry sind eindeutig auf der falschen Seite.
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