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Ellis und Harold

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19.02.2014
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Ellis und Harold

"Ich sehe keinen Eissalon", sagte Ellis.
"Wir müssen bis zum Ende. Siehst du die Kuppel? Das ist er."
Ellis nickte, aber ihr war nicht ganz wohl dabei. Man durfte nicht zwischen die Planken sehen, es wurde einem ganz schwindlig von dem vielen Wasser darunter. Sie reckte das Kinn tapfer nach oben. Die Sonne drang kaum durch die Wolken, ein milchweißer Fleck, der wenig Wärme versprach. In der Ferne zog ein Schiff vorüber, ein Lastkahn. Er war länger als der Pier, auf dem sie gingen. Auf den Wellen schaukelte müde ein orangefarbener Ballon.
"Spürst du, wie es schwankt?"
"Es schwankt nicht", sagte Harold.
Über ihnen keiften Möwen. Die Luft war herrlich salzig, aber dafür hätten sie nicht den ungesicherten Pier betreten müssen. Die Flaggen knatterten wie Wäsche auf der Leine. Den ganzen Weg hielt sie ihren Hut, sie misstraute dem Band. Die Hutnadel hatte sie im Hotelzimmer liegen lassen.
"Ich dachte, du liebst das Meer? Sagtest du nicht, deine Vorfahren waren Seeleute?"
"Ein Onkel ist vor Mauritius ertrunken, als wir noch Kinder waren", sagte Ellis. Sie sagte es ganz teilnahmslos und mit ihrem vornehmen Gesicht, dem man nie ansah, ob es ihr auch ernst war. "Ich glaube nicht, dass wir einen Platz bekommen."
"Es gibt immer einen Platz", sagte Harold im Tonfall eines Majors. "Und das Eis schmeckt unglaublich italienisch, du wirst es lieben. Am Ende wirst du mir dankbar sein."
Ein paar Matrosen kamen ihnen entgegen. Sie hatten getrunken, und Ellis schmiegte sich eng an Harold. Die Männer starrten auf Ellis’ Rock, und Harold griff um ihre Hüfte. Er war stärker als Arthur. Sein Oberarm spannte sich unter dem Griff ihrer Finger. Ellis wusste, dass er im Hinterhof Gewichte hob.
"In der Stadt gibt es genug Eissalons. Ich fand den letzten sehr anständig."
"Hier sind wir ganz ungestört", sagte Harold und sah fest nach vorne über die Geschäftsläden auf das offene Meer hinaus. An solchen Tagen müsste man reich sein, dachte er. Einen Sportwagen besitzen. Vorne am Hafen hatte er gesehen, wie zwei Bentleys auf die Fähre verladen wurden. Er könnte mit Ellis noch einmal die normannische Küste entlang fahren – oder quer durch das Land, hinunter bis nach Nizza. In den feinen Hotels sprach jeder lupenreines Englisch.
"Siehst du die Möwen? Man sagt, sie bleiben sich ein Leben lang treu."
"Kein Kunststück, wenn alle gleich aussehen", sagte Harold und hielt ihr die Tür auf. Es zog sie zu den hinteren Tischen, in eine der korbartigen Nischen, als könnte das Licht ihm ein Geheimnis entreißen.
Ein Mädchen drückte ihnen zwei Karten in die Hand, und er war froh, einen Moment nicht reden zu müssen. Er betrachtete einen Eisbecher nach dem anderen, wie Gemälde in einem Museum. Die Namen erinnerten ihn an den letzten Urlaub mit Olivia, er lag drei oder vier Jahre zurück. Lieber hätte er einen Scotch getrunken.
"Was macht ihr am Wochenende?"
"Arthurs Mutter hat Geburtstag. Sie wird siebenundachtzig Jahre oder so. Ich verstehe nicht, warum man um alte Leute so viel Aufhebens macht. Ich würde mich schämen, so alt zu werden."
Harold sah sie tadelnd an, doch sie sprach einfach weiter, ohne sich um seinen Blick zu kümmern. "Jedes Jahr bäckt er ihr einen Geburtstagskuchen, seit er ein kleiner Junge ist. Kannst du dir das vorstellen, ein erwachsener Mann? Er hetzt den ganzen Vormittag durch die Küche, und am Ende könnte man meinen, die Deutschen hätten uns bombardiert. Es ist so eine Art Tradition bei denen."
Harold nickte und suchte den Blick des Mädchens, das die Karten gebracht hatte.
"Wir sollten nicht über ihn reden", sagte Ellis. "Aber irgendwie –"
"– aber irgendwie macht es dich scharf. Hab ich Recht?"
"Vielleicht", sagte Ellis und wurde rot. Sie mochte es, wenn er so redete, und sie mochte es nicht. "Weißt du, er ist immer so gut zu allen. Manchmal denke ich, ich habe ihn nicht verdient." Sie legte ihren Hut auf die Ablage und richtete sich in der Spiegelung der Fensterscheibe den Haarknoten. "Oder ich wache mitten in der Nacht auf und denke mir, ich hätte ihn mir bloß ausgedacht. Dann drehe ich den Kopf – und sehe, wie er ruhig atmet. Danach wieder einzuschlafen, das ist wahres Glück."
"Mir kommen die Tränen."
Ihre Bestellung kam im richtigen Moment. Ellis hielt den langen Löffel wie ein Skalpell. Das Eis war ihr noch zu hart.
"Warum sind die Serviererinnen in Eissalons immer angezogen wie Krankenschwestern?", fragte sie und schabte ein wenig an der Pistazienkugel.
"Es ist ein Verkaufstrick", sagte Harold. "Der Kunde soll glauben, es geht in der Küche so hygienisch zu wie in einem Spital."
"Sind sie deswegen auch so unfreundlich?"
"Natürlich."
"Manchmal erinnerst du mich an Arthur. Er hat für alles eine Erklärung."
"Hast du eine bessere?"
"Ihr Männer seid alle gleich!"
Harold grinste, doch ganz unvermittelt wurde daraus eine Grimasse. Am Abend kam der Schmerz, pünktlich wie ein Pendlerzug. Ihn zu ignorieren, war ein nicht unwesentlicher Teil der Übung.
"Wenn ich mir die Männer hier ansehe. Ich sehe keinen, der es auch nur entfernt mit ihm aufnehmen könnte."
"Ich kenne das Gefühl", sagte Harold, um sie zu ärgern. Das Stechen in der Lunge machte ihn unduldsam. "Wenn Olivia mich zum Zug begleitet und mir mit dem weißen Taschentuch nachwinkt, dann ist sie für mich die schönste Frau der Welt."
"Er ist der Mann, mit dem ich Kinder haben will. Sehr bald sogar", sagte Ellis trotzig. "Wenn wir am Sonntag spazieren gehen, sehe ich, wie die anderen Frauen mich beneiden. Und er hat eine tadellose Figur. Er achtet auf sich. Andererseits: Er nimmt immer alles sehr genau. Und er ist verdammt empfindlich."
"Er kennt eben seinen Wert", sagte Harold.
"Einmal hat er drei Tage nicht mit mir geredet, weil ich zwei Hemden verwaschen habe. Wie kann man so dickköpfig sein? Und dann liest er stundenlang in seinen Büchern und macht sich Notizen wie ein Schulkind. Es ist manchmal so … rührend." Sie weinte plötzlich. Die Tränen kamen so unvermutete, dass Harold einen Moment lang dachte, sie wüsste Bescheid.
"Weißt du, manchmal denke ich, ich sollte diesen großartigen Menschen kennenlernen. 'Arthur, darf ich dir meinen Geliebten vorstellen? Das ist Harold Bosworth.'"
Die verrückte Idee riss Ellis aus ihrer Laune. Beide lachten ein wenig.
"Wir sind eben schwach", sagte Ellis und ließ sich einen Löffel Schlagsahne auf der Zunge zergehen.
"Wir sind das Letzte", präzisierte Harold und gab der Versuchung nach, seine Hand ein letztes Mal unter ihren Rock zu schieben.
"Und wenn uns jemand sieht?"
"Und wenn schon", sagte Harold und zog seine Hand zurück. "Bis zum nächsten Mal haben sie es vergessen."
Im vorderen Teil des Salons brachte jemand einen Plattenspieler in Gang. Es war moderne Musik, für die sie nun zu alt waren. Ellis tat, als würde sie Gefallen daran finden und streckte ihm die Hand entgegen. Die Ringe an ihren Fingern berührten sich für einen kurzen Augenblick.
"Wie oft hast du schon Gelegenheit, mit einer Schlampe zu tanzen?"
Harold tat, als würde er es sich ernsthaft überlegen. Ellis lachte und tanzte ungelenk ein paar Takte mit ihrem unsichtbaren Partner. Er streifte indes das Tischtuch glatt und dachte an ihre weiße Haut zwischen den zerwühlten Laken. Es waren zwei Welten, die durch nichts verbunden waren.
"Wie geht es deiner Tochter? Hat sie nicht im September Geburtstag?", fragte Ellis atemlos. Sie sah, dass er nachdenklich geworden war.
"Lilli macht den ganzen Tag ihre Beobachtungen. Ich weiß, es klingt wie ein Klischee, aber durch sie sehe ich die Welt mit neuen Augen." Nun war es an ihm, Tränen zurückzuhalten.
"Wie alt wird sie eigentlich? Du hast mir nie ein Foto gezeigt."
Er griff in die Brusttasche und sah noch einmal beide Möglichkeiten in großer Klarheit vor sich – so klar wie Ellis’ verwirrten himmelblauen Blick, als er sie damals am Messestand nach ihrem Namen fragte. Dieses scharf belichtete Bild durchdrang all die Jahre mit Leichtigkeit und überfiel ihn in den unpassendsten Momenten. Seit er denken konnte, betrachtete er das Leben als eine unerbittliche Abfolge von Entscheidungen. Manche Weichenstellungen erwiesen sich als verhängnisvoller als andere. Am Ende fasste er nach dem Portemonnaie. Er tat es mit der kribbeligen Aufgeregtheit eines Jungen, der seine Modelleisenbahn willkürlich zum Entgleisen bringt. Doch für ihn würde es keinen Unterschied machen. Es war nur eine Variante, für die er sich entschieden hatte.
"Du solltest mit dem Rauchen aufhören", sagte Ellis, als er ihr mit vorgehaltener Hand das Foto reichte.
"Ich sollte mit einigem aufhören."
"Sie ist hübsch. Wir sollten uns nicht wiedersehen." Sie reichte ihm das Bild zurück und seufzte theatralisch.
Harold nickte.
"Naja. Vielleicht ein letztes Mal." Ihr Kuss schmeckte eiskalt, doch der Lippenstift war nun im Licht der Kerze eine Spur zu grell. Er wusste nichts zu sagen. Sie lehnte lange an seiner Schulter. Irgendwann sprang der Stundenzeiger nach vor, und die Musik hörte unvermittelt auf.
"Ich muss bald zum Bahnhof."
Harold beglich die Rechnung im Stehen. Sie strich ihm das Revers gerade. Das Attest raschelte in seiner Brusttasche, und nur das dünne Flanell trennte sie in diesem Moment von dem Wissen um seine Lage. Als Harold ihr die Schwingtür aufhielt, trat ihnen ein Mann in schwarzem Anzug entgegen. Harold griff nach seinem Hut und sprach ein paar Sätze mit ihm. Am Ende lachte der Mann und klopfte ihm auf die Schulter. Als er verschwunden war, richtete Harold sich wieder zur vollen Größe auf.
"Wer war das?", fragte Ellis erschocken.
"Niemand. Er hat in der Stadt einen Teesalon. Zweimal im Jahr kontrolliere ich seine Maschinen."
Er bot ihr den Arm. Sie bewundere die Behändigkeit, mit der er zwischen der Tatkraft des Sportlers und der Fügsamkeit des Vertreters hin und her schwang. Er war immer noch ein gutaussehender Mann, auch wenn er im letzten Jahr irgendwie an Glanz verloren hatte. Als sie den Pier betraten, sank die Sonne ins Meer. Zwischen dem Horizont und den Wolken hatte sich ein dünner Streifen gebildet, der sich erst rot, dann violett färbte, großartiger als ein Maler es je zustande bringen könnte. Ein rosa Schein fiel auf den Pier und überstrahlte die filigranen Bauten aus blauweißen Brettern. Auch wenn man sich auf einem wackeligen Steg befand, musste man die Szene widerstrebend schön nennen. Ellis liebte es, diese Stunde im Freien zu verbringen. Im Westen dämpfte der Abend die Hässlichkeit der Hafenanlagen, die im schiefergrauen Licht des Tages auf ihnen lastete wie ein staubiger Deckel.
Auf der Mitte des Piers blieb Harold stehen, zündete sich eine Zigarette an und bekämpfte zugleich das seltsame Verlangen, auf das Geländer zu steigen, die Arme auszubreiten und sich abzustoßen. Er schielte hinüber zu Ellis, die sich für eine bettelnde Möwe begeisterte. Das gierige Tier stand im Wind wie ein Drachen an einer Leine und hielt mit ihnen Schritt. Er konnte sich an Ellis’ Lachen nie satt sehen, vor allem heute nicht; das Leuchten eines toten Sterns, der viele Lichtjahre entfernt war, und dessen Strahl vom Verlöschen seiner Quelle nicht das Geringste ahnte. Der Vogel drehte ab und sie war mit einem Schlag ganz abgeklärt. So war Ellis. Sobald sie den Blick eines Betrachters spürte, reckte sie das Kinn nach vor und setzte ihr überhebliches Gesicht auf. Das alles, schien sie zu sagen – der Pier, das Meer, die untergehende Sonne – ist doch nichts im Vergleich mit der Pracht meiner besten Jahre. Wahrscheinlich hatte sie Recht.
"Du weißt, dass ich bereit bin, wenn du ..."
Er führte den Finger an die Lippen.
"Warum?", flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf, und sie begann zu heulen, wie jedes Jahr.
"Warum hast du mich damals überhaupt angesprochen? Warum nicht Martha oder Rosie?"
Er schwieg und schritt mit ihr über die ächzenden Planken bis zum Ende des Piers. Als sie an Land waren, blieb er stehen und sah ihr ins Gesicht.
"Weil du nicht besonders hübsch bist."
Ellis gaffte ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie war plötzlich ganz ernst, und doch lag ein Anflug von Freundlichkeit über ihrem Gesicht, als hätte sie ihn bloß nicht richtig verstanden.
"Es ist die Wahrheit: Ich habe dich angesprochen, weil du von den drei Mädchen das hässlichste warst." Harold warf seine Zigarette in das dunkle Wasser. "Ich dachte, die Chance zu scheitern, wäre bei dir am geringsten. Ich war betrunken. Und es war der letzte Messetag."
"Ist das dein Ernst?" Sie wankte. "Dann verschwinde aus meinem Leben. Sofort."
Er blieb stehen.
"Verschwinde!"
Sie hatte das Wort bloß gehaucht, doch beim zweiten Mal schleuderte sie es ihm ins Gesicht.
Er rührte sich nicht.
"Du bist … du bist Dreck", schluchzte sie und versuchte ihn über die Planken in das kalte Wasser zu stoßen, doch er stemmte sich ihr entgegen wie ein Mast. Sie stürzte, raffte sich auf, und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. Dann taumelte sie auf schwankenden Beinen zurück auf den Pier. Über ihrem Hut gellte das endlose Gelächter der Möwen, als wäre die Welt ein Scherz.

 

Servus baronsamedi,
ich werde in den nächsten Tagen vermutlich kaum Zeit finden, mich ausführlich zu deiner neuen Geschichte zu äußern. Aber zumindest will ich dir jetzt, unmittelbar nach dem ersten Lesen, gleich mal sagen, dass ich sie für wirklich großartig halte. Der Stil, die Dramaturgie, die Charakterisierung der Figuren, die Dialogführung - einfach perfekt. Für mich ist das eine Kurzgeschichte von nahezu klassischer Anmutung.

Das wollte ich dir jetzt einfach schnell sagen. Bei Gelegenheit werde ich mich sicher noch einmal zu Wort melden.


offshore

(Irgendwo fehlten das eine und das andere Komma. Wen juckst.)

 
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Hallo baronsamedi,

da Du Deine Kommentare immer knapp auf den Punkt bringst, will ich Dich auch nicht vollschwallen (ich werds zumindest versuchen). Das ist ein Klassetext, ein klasse Text und ein Text mit Klasse. Der hat was recht Altmodisches, aber diese atmosphärischen Beschreibungen haben auf mich echt einen Sog entwickelt. Ich war da voll drin und das ist komisch, weil mir beide Figuren als Typen recht fremd sind. Sehr skurril auch, wie die einander von ihren Ehepartnern vorschwärmen. Man glaubt ihnen auch, dass sie die lieben. Also ein sehr seltsames Gefühl aus Nähe und Distanz, dass ich jetzt mal nicht weiter analysieren möchte, oder kann. Es hat dem Text für mich aber was ganz Besonderes gegeben, was ich sehr mochte. Und es passt auch zu den Figuren, die sich gleichzeitig nah und fern sind, auch in ihren Blicken aufeinander. Da ist auch so ne zähe Langsamkeit drinne, als schwömmen die durch Honig. Und irgendwie passt das auch. Die scheinen ja nicht mehr ganz jung zu sein und sie kommen da aus der Klebrigkeit nicht heraus, wiederholen jedes Jahr dasselbe, obwohl sie es nicht so richtig wollen, bis, ja bis er da so gewaltmäßig reinhackt, bzw. es wäre ja eh zuende gewesen. Also mit dem Ende war ich ehrlich gesagt nicht so zufrieden, zu pointenhaft vielleicht für diesen Text. Aber ich dachte mir auch, was für ein billiger Trick. Die kennt den doch, die muss doch sofort durchschauen, dass da was nicht stimmt, dass er lügt, um sie abzuschrecken. Und auf die Ebene des Autors bezogen dachte ich mir: schon son bisschen melodramatisch, dieses selbstlose Ofer. Auch son klassisches Motiv, obwohl mir jetzt partout kein Beispiel einfallen will. Ich seh da so einen Clarke Gable-esken Typen vor mir, der seine Liebe leugnet, damit die Frau ihn verlassen kann, damit ihr schlimmere Schmerzen erspart bleiben. Und dann sein Schmachtblick hinterher.
Auch dass die Ausrede Häßlichkeit ist. Ich mein, klar wär das mies sowas gesagt zu bekommen. Aber es passt auch so wenig zu ihm und zu ihr, zu ihrer Beziehung. Und es ist so eine plumpe und oberflächliche Beleidigung. Das ist doch nichts, was ins Mark trifft, was auf genau diese Person und genau diese Beziehung zielt.

Aber egal. Der Rest des Textes ist auf jeden Fall 1a. Da verzeih ich das Ende mal.

lg,
fiz (immer noch mittelgeschwätzig)

 

Oh Mann, oh Meter - das ist ja eine Story! Eigentümlicherweise hat sie mich nicht erreicht. Es gibt Köche, die kochen beeindruckend, oft phänomenal - aber das akribisch Aufbereitete will mir nicht so recht schmecken. Ich habe beim Lesen Deiner Geschichte den Eindruck, dass Du beinahe verschwenderisch mit edlen Zutaten umgehst, oft auch noch, wohl des Effekts wegen, weiße oder schwarze Trüffeln darüber hobelst. Ein Koch- oder Wortartist würde m.E. so agieren. Vielleicht sind die Fotografen und die Reporter ( und die Karriereförderer) in der Nähe und du hast - völlig verständlich - nichts anderes im Sinn, als "bella figura" zu machen.
Jetzt schmolle nicht! Wir wollen alle "bella figura" machen. Das ist schon in Ordnung. Joséfelipe

 

Hallo baronsamedi,

ja, mir hat sie auch sehr gut gefallen, deine Geschichte - klassisch und auf beeindruckend hohem Niveau. Vieles hat mich an Hemingway erinnert.

Was die Motivation der Figuren angeht ..., ich bin mir noch nicht sicher, ob mir die Anspielung, Harold sei krank, zusagt. Ich glaube, mir hätte der Konflikt Familie-Ehe-Betrug ausgereicht, zudem die ganze Beziehung ja ohnehin enorm angespannt wirkt, sie es vermutlich von Anfang an schon war. Dass du meine Gedanken in eine neue Richtung lenkst, finde ich im Nachhinein nicht verstärkend, sondern eher störend. Würde ich also weglassen, obwohl es das Verhalten Harolds natürlich erklärt und dramatisch ausschmückt. Trotzdem, Projektionsfläche ist ausreichend vorhanden.

Das Ende finde ich zu laut - "Du bist Dreck", schluchzte sie, dann der Punkt, hätte mir besser gefallen, auch weil das Ende für mich passend offen geblieben wäre und sich für mich nahtlos in den Nähe-Distanz-Konflikt eingefügt hätte.

Kleinkram:

Auf den Wellen schaukelte müde ein oranger Ballon.

orangefarbener

»Spürst du[Komma] wie es schwankt?«

In den feinen Hotels sprach ein jeder lupenreines Englisch.

Könnte weg.

»Wir sollten nicht über ihn reden«, sagte Ellis. »Aber irgendwie –«
»– aber irgendwie macht es dich scharf. Hab ich Recht?«

Also, seine Antwort passt da irgendwie nicht rein, die ist so plump, verstehe ich aus dem Kontext auch gar nicht.

... und sehe[Komma] wie er ruhig atmet.

Es war nur eine Variante, für die er sich entscheiden hatte.

entschieden

Toller Text, baronsamedi, danke fürs Hochladen.


hell

 
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Hallo liebe Leser!

Die Geschichte ist der Reflex auf einen Kommentar, den ich zu einer Geschichte von Ernst Offshore geschrieben habe (http://www.wortkrieger.de/showthread.php?54543-Noch-lebst-du/page4&p=624608#post624608). Ich habe Ernst irgendwie dafür bewundert, dass er so gradlinig auf melodramatische Höhepunkte zusteuert, und dass es einen meistens auch mitreißt.
Normalerweise bevorzuge ich bei meinen Geschichten eine Form der ironischen Brechung.
Hier habe ich mal versucht, die Tragik des Grundkonflikts voll zur Geltung zu bringen.
Vielleicht habe ich dabei für den einen oder anderen (feirefiz, josefelipe, hell) eine Geschmacksgrenze überschritten. Für mich Anlass genug, mir den Einsatz einiger Geschmacksverstärker noch mal durch den Kopf gehen zu lassen.

Was mir – glaube ich – wirklich gut gelungen ist, ist der Titel. Er zeigt die zwei Menschen als Paar, die ja eigentlich kein Paar sind, und das ist sehr wichtig. Und – der praktische Aspekt – er verankert die zwei Namen gut im Gedächtnis des Lesers, da man später ja noch die Namen der Ehepartner erfährt und die Gefahr entsteht, dass man durcheinander kommt.

Da ist auch so ne zähe Langsamkeit drinne, als schwömmen die durch Honig.

Das ist schon sehr gut gesehen, feirefiz.

Merci, auch für die Korrekturen von hell.

baronsamedi

 

Hallo baron,

"Spürst du, wie es schwankt?"
"Es schwankt nicht", sagte Harold.

Ein Dialog wie bei Carver. Damit hattest du mich ja gleich.

Ist eine sehr gute Geschichte, mit vielen Details, die alles erst so richtig zusammensetzen. Fein austariert, jedes Wort abgewogen. Ich mag so was. Fast kein Plot, aber muss auch nicht. Leicht ingesamt, aber dennoch ernst. Irgendwie englisch. Vielleicht auch wegen den Namen. Also, weiter so, ist wirklich sprachlich das Beste, was ich seit Langem gelesen habe.

Gruss, Jimmy

 
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Hallo baronsamedi,


Harold grinste, doch ganz unvermittelt wurde daraus eine Grimasse. Am Abend kam der Schmerz, pünktlich wie ein Pendlerzug. Ihn zu ignorieren, war ein nicht unwesentlicher Teil der Übung.
"Wenn ich mir die Männer hier ansehe. Ich sehe keinen, der es auch nur entfernt mit ihm aufnehmen könnte."

Da redet Ellis, aber das hätte doch auch Harold sagen können, oder?
Ist das im ersten Moment klar? Das muss im ersten Moment klar sein. Die Arbeit muss man sich geben als Autor, finde ich.

So wirds klar:

Harold grinste, doch ganz unvermittelt wurde daraus eine Grimasse. Am Abend kam der Schmerz, pünktlich wie ein Pendlerzug. Ihn zu ignorieren, war ein nicht unwesentlicher Teil der Übung.
Ellis kniff die Augen zusammen. “Ich sehe hier keinen …”

Du hältst hier keine Perspektive ein in dem Text. Du erzählst mal aus Ellis Perspektive, dann wieder aus Harlolds, spingst wirklich absatzweise hin und her. Das ist sehr altmodisch, um nicht zu sagen falsch. Das weicht einfach sehr vom nomalen Leseverhalten ab mittlerweile. Wenn ich in den Buchladen gehe, finde ich nichts aus den letzten 20 Jahren, egal aus wechem Land, das in diesem Stil geschrieben ist, behaupte ich. Im englischsprachigen Raum, wenn du da in ein Schreibforum gehst, da zerfleischt man so einen Text wie diesen hier sofort. Da heißt es nur “POV Jump, “POV Jump”, Persepektive nicht eingehalten, und alles andere interessiert gar nicht.

"Vielleicht", sagte Ellis und wurde rot. Sie mochte es, wenn er so redete, und sie mochte es nicht. "Weißt du,

Das ist Ellis

Harold tat, als würde er es sich ernsthaft überlegen. Ellis lachte und tanzte ungelenk ein paar Takte mit ihrem unsichtbaren Partner. Er streifte indes das Tischtuch glatt und dachte an ihre weiße Haut zwischen den zerwühlten Laken. Es waren zwei Welten, die durch nichts verbunden waren.

Das ist Harald Innnenweit

Man muss sich entscheiden: durch wessen Augen sieht der Leser?

Persönlich finde ich das Moderne auch viel besser. Man kann natürlich kapitelweise die Perspektive wechseln, das ist interessant, aber absatzweise wechseln führt nur dazu, dass sich der Leser sich nie richtig in eine Figur hineinfühlen kann .. denn im nächsten Moment soll man sich ja gleich wieder in den nächsten hineinfühlen und hin und her. Man kommt da nicht wirklich zur Ruhe, die meisten Leser sind das auch nicht mehr gewohnt, sie sagen natürlich nicht: Da stimmt die Perspektive nicht. Sie fühlen bloß, dass der Text keinen Sog entwickelt, dass da irgenwie Distanz ist, dass man blinzeln muss.

Das gilt auch für so Kleinigkeiten:

Ein paar Matrosen kamen ihnen entgegen. Sie hatten getrunken, und Ellis schmiegte sich eng an Harold. Die Männer starrten auf Ellis Rock, und Harold griff um ihre Hüfte. Er war stärker als Arthur. Sein Oberarm spannte sich unter dem Griff ihrer Finger. Ellis wusste, dass er im Hinterhof Gewichte hob.

Da nicht jedes Mal “Ellis” sagen , sondern sie. Wenn man den Namen der Figur nennt – das distanziert den leser immer ein kleines bisschen vom Text, und wenn nur ein Tick, dann blickt man wieder von außen drauf, da ist man nicht in der Figur drin. Gut, dann hat man zwei Mal "ihre" - das sind echt so Abwägungen, schmeiß ich den Leser ein bisschen aus dem Text oder sage ich zwei Mal "ihre" - oder gehts auch ganz anders? Ich würde eher zwei Mal ihre sagen. Und da beim zweiten Mal muss es fast "sie" heißen ... sofern man an einer Perspektive interessiert ist und Nähe schaffen will.


Du musst dich entscheiden, das erzähle ich aus Ellis Perspektive in der dritten Person oder aus Harrolds. Oder ich gestalte es so, dass ich in der Mitte einen Cut mache, das deutlich kennzeichen und dann ganz bewusst wechsele. Aber so wie du das machst geht das eig. nicht. Das ist auch kein "richtiger" allwissender Erzähler, der sich irgendwie hervortut, das ist so was Halbes.

Der Text hat mich insgesamt nicht so wahnsinnig zugespochen, mich haben die Formsachen auch häufig gestört. Da ist so ne melancholische Seestimmung drin, die schon archetypisch ist fast, Möwen-Literarizität könnte man fast dazu sagen … also ich bin schon auch mit so Sachen zu erreichen, je nachdem. Ich finds gut, wie du dir Zeit nimmst für die Dialoge, die find ich auch gut, den Spruch zum Schluß kommt so bisschen aus dem nix, ja … man muss es halt irgendwie beenden,hab ich das Gefühl, und dann war das nicht der unkreativste Weg, aber so ein Bruch mit dem Rest ist es schon, ob das ganz passt ach … schwierig. Im Grunde hätte ich es glaub besser gefunden, weil irgendwie ehrlicher, wenn sie einfach nach Hause gehen und schuldbewusst ficken. Von Treue handelt der Text eh nicht wirklich. Und dann hat man es auch durchgezogen, auch als Autor. Du hättest sogar den Sex beschreiben können, ein bisschen zumindest. Das kann man alles auch total melanchlisch gestalten. Ich sag das eig. immer, aber ich finde halt auch fast immer, man braucht bloß zwei Schritte weiter gehen um richtig zu punkten. Wenn Harold statt dessen sagt: komme gehen wir zu mir … und sie sagt "okay", da steigt dir doch kein Leser ab, da liest noch jeder bis zum Schluß. Aber gut, so ist das Ding nicht unrund.

MfG,

JuJu

 
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Hallo JuJu,

ich kann deine Einwände gut verstehen. Sehr gut sogar! Es nervt mich oft ungeheuer, wenn mich so ein Perspektivenwechsel anspringt, und ich zweimal überlegen muss, in welchem Kopf ich jetzt eigentlich bin. Aber ich habe hier viel Mühe reingesteckt, um die Übergänge so fließend zu machen, dass ich sie akzeptieren kann. Und ich glaube, dieser Ansatz trägt auch zu dem etwas altmodischen Flair bei, den der Text vermittelt, halt auf der formalen Ebene.

Ich habe mir einfach gedacht: Ich darf das. Oder: Ich versuche das. Mir fällt eine Geschichte von Julian Barnes ein, in der er zwei alte Literatur-Ladies auf einer Zugfahrt begleitet, da schafft er das ganz gut. Auch ist diese Zweiteilung irgendwie in dem Titel angedeutet: Es ist die Geschichte von Ellis und Harold, also von beiden. Es würde sich für mich falsch anfühlen, wenn ich es zu Harolds Geschichte mache.
Vielleicht liege ich hier ganz falsch, aber ich denke, dass sich für viele Leser, die nicht so stark auf der Metaebene lesen wie du als Autor, das Problem gar nicht stellt. Einzelne Schwachstellen vielleicht ausgenommen.

Danke aber für den sehr wichtigen Hinweis!

Hallo Jimmy,

danke! War irgendwie sehr erleichternd, deinen Eintrag zu lesen.


lg baronsamedi

 

Hallo Baronsamedi,
um’s kurz zu machen: well done! Ich hatte keine Probleme, den Dialogen zu folgen. Eine wunderbar geschriebene kleine Geschichte, die mich an Graham Greenes ‚Brighton Rock‘ denken ließ, und zu der ich Dir gratulieren möchte. Das ist jetzt vielleicht nicht das, was man als konstruktive Kritik bezeichnen würde, aber ich habe eben rein Garnichts daran auszusetzen, im Gegenteil.
Schöne Grüße
Harry

 
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Also wenn du mich schon explizit quasi als Geburtshelfer dieser Story bezeichnest, baron, will ich mir jetzt doch noch einmal schnell Zeit dafür nehmen. (Scheiß aufs Arbeiten, ich bin eh schon unermesslich reich.)
Ich habe die Geschichte mittlerweile zwei weitere Male gelesen und jetzt auch die Kommentare, aber zu meiner gestrigen spontanen Begeisterung stehe ich nach wie vor. Auch wenn ich die Geschichte - vor allem aufgrund JuJus Anmerkungen - distanzierter und kritischer zu lesen versuchte, konnte ich einfach nichts entdecken, was mir missfiel. Das von JuJu angesprochene Persektivenkuddelmuddel zum Beispiel fand ich überhaupt nicht störend, im Gegenteil. Vielleicht weil ich die Geschichte von Anfang an beinahe wie eine Filmszene wahrgenommen habe (fiz fühlte sich an Clark Gable erinnert, ich hatte sofort Katharine Hepburn und Spencer Tracy vor Augen), ich also weniger Leser, als vielmehr Zuseher und Zuhörer war, das ganze tatsächlich vor mir sah - ob das nun vorwiegend an deiner bildhaften Sprache oder eher an meiner Imaginationskraft lag, sei mal dahingestellt - jedenfalls entsprachen diese zeitweiligen Perspektivenwechsel während des Dialogs für mich den entsprechenden Kamerapositionen, wie sie bei einer Aufnahme im Schuss-Gegenschuss-Verfahren angewendet werden. Und dieser quasi Kamerablick ermöglichte es mir, jeweils dem Gegenüber ins Gesicht zu sehen, ich als Zuschauer wurde förmlich ins Geschehen einbezogen, bzw. machte ich die diversen Schwenks mit. Das funktionierte wie von selbst, das hatte echt was Filmisches für mich. Obendrein sind die Dialoge so derart lebensecht, mit dem genau richtigen Maß an Informationsvermittlung und zwischen den Zeilen Ungesagtem, dass ich das Gefühl hatte, leibhaftigen Menschen zuzuhören. (Bzw. zwei Schauspielern, denen die Worte von einem begnadeten Drehbuchautor in den Mund gelegt wurden.) Dir gelingt es wirklich, mit diesen paar Gesprächsfetzchen zwei Lebensgeschichten entstehen zu lassen, die Geschichte zweier Ehen zu erzählen. Großartig.
Gestern Abend sagte ich, diese Geschichte habe eine beinahe klassische Anmutung für mich. Auch dazu stehe ich nach wie vor, und es sind weniger das Setting und auch nicht die Fünfzigerjahre-Atmosphäre, die beim Lesen wie von selbst entsteht, sondern deine überaus präzise, höchst ökonomische und gleichzeitig wunderschöne Sprache, die mich an so manche klassische Kurzgeschichte erinnerten. (Nicht von ungefähr erwähnte Jimmy Raymond Carver.)

Noch einmal allerhöchstes Lob von mir, baron.

offshore

PS
Darf ich mich in Hinkunft als deine Muse betrachten?
(Auch wenn ich zugeben muss, dass ich bei weitem nicht so hübsch bin, wie die Muse, die mir den Kopf verdreht mich inspiriert.)

 

Hallo baronsamedi

Ich habe vorab die Kommentare gelesen, eine Unsitte, die ich nur selten begehe. Dabei war mir aufgefallen, dass Du den Titel als gelungen hervorhebst. Ist er soweit schon, da Du Figuren als Paar mit andern als ihren Ehepartnern darstellst. Aber dieses Gefühl, ihre Namen dienten als Ausdruck der Hervorhebung, kam erst auf, als ich die Geschichte gelesen hatte. Vorher gab er mir keinen besonderen Anreiz, erinnerte mich vielmehr an „Harald und Maude“ von Colin Higgins, dessen Stück kaum eine Adaption erlaubt. So näherte ich mich dem Text mit dem Vorurteil an, es muss ein starkes Stück sein, mit eher schwachem Ausgang.
Beim Lesen wurde mir klar, weshalb es im Stil als veraltet wahrgenommen wurde. Über den abwechselnden Perspektivenwechsel hinaus, der mich persönlich nicht störte, ist es szenisch auch eher zeitlos und klassisch abgefasst.

Die Tränen kamen so unvermutete, dass Harold einen Moment lang dachte, sie wüsste Bescheid.

Hier stand ich neben den Schuhen, denn wer nicht Bescheid wusste, war ich als Leser. Auch ein nochmaliges Lesen der vorgehenden Zeilen enträtselte mir dieses Manko nicht. Einen Moment erwog ich, ob anstelle von sie nicht Arthur stehen müsste, dem Angetrauten von Ellis? Es gäbe Sinn, aber bleibt ungelöst, da zumindest vorläufig nur ein nicht näher verifizierbarer Gedanke von Harold vorliegt.

Die verrückte Idee riss Ellis aus ihren Launen.

Ich finde diesen Satz unglücklich formuliert. Statt Launen erschiene mir momentanen Gemütsstimmungen eleganter und dem Stil insgesamt angepasst.

"Wir sind das Letzte", präzisierte Harold und gab der Versuchung nach, seine Hand ein letztes Mal unter ihren Rock zu schieben.

Ach hier löst sich das Rätsel, gibt auch mir als Leser Bescheid. Einfach nebensächlich eingeschoben, als ein letztes Mal.

Ihr Kuss schmeckte eiskalt, doch der Lippenstift war nun im Licht der Kerze eine Spur zu grell.

Ich drehte den Satz hin und her, nach dem Sinn dieser Aussage suchend, ohne Erfolg. Die Satzteile, durch Komma getrennt, passen nicht zusammen. Wohl sind es beides Sinneswahrnehmungen, allerdings in der Handlung nur völlig getrennt voneinander erfahrbar. Statt dem doch, müsste da noch der Vorgang des Abrückens der beiden voneinander eingeschoben sein, um es als Zusammengehörendes zu definieren.

Irgendwann sprang der Stundenzeiger nach vor, und die Musik hörte unvermittelt auf.

vorn [?]

Das Attest raschelte in seiner Brusttasche, und nur das dünne Flanell trennte sie in diesem Moment von dem Wissen um seine Lage.

Das Bescheid wissen als Leser, präzisiert sich augenscheinlich, man glaubt zu wissen, was im Attest steht.

Er konnte sich an Ellis’ Lachen nie satt sehen, vor allem heute nicht; das Leuchten eines toten Sterns, der viele Lichtjahre entfernt war, und dessen Strahl vom Verlöschen seiner Quelle nicht das Geringste ahnte.

Ein sehr schönes Gleichnis, dennoch meinte ich erst, es sei in der Aussage nicht wirklich stimmig. Doch im nachfolgenden Geschehen fügt es sich, auch wenn man es mehrfach lesen muss, um Gewissheit zu erlangen.

Er schüttelte den Kopf, und sie begann zu heulen, wie jedes Jahr.

Und wieder fühle ich mich als Leser wie ein Rätselrater, wieso: wie jedes Jahr? Oder habe ich etwas überlesen, das die Antwort gäbe?

Ein sarkastisches Ende, welches sich da zelebriert. Nicht unverständlich, wenn ich Harolds Situation bedenke, doch unnötig unversöhnlich, da Harold so Ellis unnötig mehr Schmerz zufügt, als es die Wahrheit täte. Doch es ist seine Vorstellung über den Ausgang, der ihn bestimmt. In der Betrachtung seines Charakters versunken, formte sich mir der letzte Satz, wie von seinen Lippen ergänzend verändert: Über ihrem Hut gellte das endlose Gelächter der Möwen, als wäre der Schmerz in der Welt nur ein Scherz.

Meine Erwartungshaltung, welche sich durch das Lesen der Kommentare vorab aufbaute, hat sich im Guten erfüllt. Die Vorurteile, welche mich beim Lesen kritisch begleiteten, beschwichtigten sich vor dem Real gegebenen. Desungeachtet bleiben natürlich diese Momente, welche ich als Leser anmerkte, die mir als etwas hemmend in der wirklich schön klassisch anmutenden Geschichte auftraten.

Danke für dieses Lesevergnügen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo Harry,

freut mich sehr, wenn es dir gefällt. Bin immer noch ein Fan der Eierschaukel! Ein kurzer Text, der mich lange amüsiert hat.

Hallo Ernst,

wenn du aus dem Titel kein Recht auf ähh … liebevolle Behandlung ableitest, darfst du gerne meine Muse sein!

Fiz fühlte sich an Clark Gable erinnert, ich hatte sofort Katharine Hepburn und Spencer Tracy vor Augen.

Das sind ehrenwerte Schauspieler, keine Frage. Ich möchte aber doch kritisch anmerken, dass Ellis vielleicht nicht die reflektierteste Frau der Welt ist, auch wenn ihr Hauptproblem wahrscheinlich bloß darin liegt, dass sie ein zu großes Herz hat. Und Harold ist eben auch das, was Arthur nicht ist: nämlich ein Draufgänger, mit allen Implikationen. D.h. er hat auch etwas Rohes. Auch sein Versuch, sie vor einem vermeintlich großen Schmerz zu schützen, indem er sich unmöglich macht, ist ja im Prinzip ziemlich rüpelhaft. Sie sind also nicht die Lichtgestalten, die Hollywood liebt.
Aber KH und ST hätten natürlich auch das hingekriegt, sie waren einfach gut.

Nicht von ungefähr erwähnte Jimmy Raymond Carver.

Weißt du, dass ich in meinem Leben nur eine einzige Geschichte von Carver gelesen habe, in einem Sammelband? Ich fand sie nicht mal besonders gut. Ich habe deinen und Jimmys Hinweis aber zum Anlass genommen, „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ beim Buchhändler meines Vertrauens zu bestellen. (D.h, du hast dich schon wieder als Muse betätigt!)

Hallo Anakreon,

Ihr Kuss schmeckte eiskalt, doch der Lippenstift war nun im Licht der Kerze eine Spur zu grell.

Ich drehte den Satz hin und her, nach dem Sinn dieser Aussage suchend, ohne Erfolg. Die Satzteile, durch Komma getrennt, passen nicht zusammen. Wohl sind es beides Sinneswahrnehmungen, allerdings in der Handlung nur völlig getrennt voneinander erfahrbar. Statt dem doch, müsste da noch der Vorgang des Abrückens der beiden voneinander eingeschoben sein, um es als Zusammengehörendes zu definieren.
Das ist richtig. Wenn ich heute inspirierter wäre, würde ich das sofort umschreiben. Was mich zusätzlich stört, ist, dass die Grellheit des Lippenstifts eigentlich vor den Kuss gehört, denn durch Küsse werden Lippenstifte ja nicht greller. Ich möchte aber auch, dass er nach dem Kuss ein kleines Distanzierungserlebnis hat, und das ist in dem Wörtchen „zu“ und eventuell „grell“ enthalten.
Es gibt noch zwei drei andere Stellen, die ich aus Tempogründen für überarbeitenswert halte.

Danke für eure Hinweise und Kritik!

baronsamedi

 

Er konnte sich an Ellis’ Lachen nie satt sehen, vor allem heute nicht; das Leuchten eines toten Sterns, der viele Lichtjahre entfernt war, und dessen Strahl vom Verlöschen seiner Quelle nicht das Geringste ahnte
liest sich wie die Prophezeiung i. S. des Dominators Harolds (hari/heri = Heer, aber auch der einzelne Krieger; uald/waltan/walten = herrschen, also der Kriegsherr = Dominator) und gibt in zwo weiteren Zitaten die Geschichte auf den Punkt,

lieber baron.

Soll ichs Dein Meisterwerk nennen, okay, mit dem Zusatz „bis itzo“ - für die Kleinen unter uns: so ließ mein alter Freund Fritz, der noch mit dem ollen Joethe durch den Stadtpark spaziert ist, in seiner Luise Millerin, heut auch als Kabale und Liebe unbekannt - „itzo“, so klangvoll ließ der Fritz noch „jetzt“ aussprechen. Wenn da nix mehr käme (warum sollte ich nicht den Konjunktiv irrealis in dieser Angelegenheit anwenden?) wär ich am meisten überrascht. Zum oberen gesellen sich die folgenden Zitate

"Siehst du die Möwen? Man sagt, sie bleiben sich ein Leben lang treu."
"Kein Kunststück, wenn alle gleich aussehen", …
& letztlich
Über ihrem Hut gellte das endlose Gelächter der Möwen, als wäre das Leben ein Scherz,
welche die Geschichte quasi moderieren. Der Himmel (für Ungläubige: Die unendlichen Weiten des Weltalls) als Zeuge und Möwen als Publikum … War Harold einer der Motzopas aus der Muppet-Show? Nein, die können gar nicht charmant ...

Mehr gäbe es nicht zu sagen, wenn nicht offshores Bemerkung zur Zeichensetzung wäre: Doch im Ernst: Was mag ernst gesehen haben? Oder hat er österreichischen Strohrum genossen, bis das Zäpfchen tanzte? Da is’ nix – find ich – bis auf

…, ein Lastenkahn.
Wie schon an anderer Stelle mit den Vorortbahnhöfen, nur dass diesmal die Last im Singular daherkommt. In der Schifffahrt (was freu ich mich, dass das f-Duo zum Trio geworden ist mit der neoteutschen Reformation 1998 bis 2006 und erst mal die Donaudampfschifffahrtscapitanos!) war die Last ein Vorratsraum. Zugleich wars ein Hohlmaß und gab die Tragfähigkeit des Schiffes an (inzwischen durch die Tonnage ersetzt). Also besser
…, ein Last[…]kahn.

Und noch ne Anregung
Über ihnen keiften die Möwen.
Lass den Artikel weg, Möwen ist Plural genug.

Wobei dann doch noch’n ganz anderer Schlenker herausspringt: Möwen leben wie die meisten von uns in Kolonien und gelten als „ziemlich“ treu. Also eher ein Abbild der Menschenwelt als die Sozialverbände bildenden Rabenvögel, von denen beim größten, dem Kolkraben, nachgewiesen ist, dass sie Treue bis zuletzt halten. Da ist also nix Menschliches … Insofern musste die Geschichte ja weit weg vom Alpenraum spielen …

Und’n lumpiges Möwenfüßchen wäre nachzutragen

"Es ist ein Verkaufstrick", sagte Harold. [„]Der Kunde soll glauben, es geht in der Küche so hygienisch zu wie in einem Spital."

Und nun dreh ich die Who (Gott nehme Keith & John gnädig auf und hüte Pete und Roger!, bevor’s nur noch Altenheime spielen) mit My Generation in einer ca. 15-minütigen Fassung auf … Bin ja eh halbtaub.

Gruß & schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

Mahlzeit baronsamedi,

warst nicht Du es, der schrieb, er wolle schreibtechnisch auch einen bestimmten Punkt erreicht haben? Du bist doch schon längst da. Das muss Dir mal jemand sagen. DU BIST SCHON DA! Vergiss die Schwankungen im Alltag des Schreibens, das ist üblich.

Hier also ein wahres Kunstwerk an Form und Sprache. Den Klassikern ähnlich, ein wenig erkenne ich die Manns dazwischen und auch hie und da mal ein Beckett. Aber hauptsächlich formt sich Deine Sprache zu baronsamedi. So was tut der Seite auf jeden Fall gut.

Auf Rechtschreibung hatte ich keine Acht. Wie auch? Sehr gut das, weitermachen.

Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin!

Das muss Dir mal jemand sagen.

Danke! Das ist sehr nett von dir. Aber dann schickt man irgendwas irgendwo ein und kriegt nicht mal eine ordentliche Absage. Solche Erlebnisse haben natürlich auch einen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung, wenn sie öfter eintreten.
Aber es ist umso erfreulicher, wenn hier der eine oder andere Gefallen daran findet.

lg

baronsamedi

 

Servus baron,

einschicken, erwarten, hoffen, das ist alles im Großen und Ganzen Hühnerkacke. Kurzgeschichten oder gar lyrische Kurzprosa oder Gedichte braucht man schon gar nicht einschicken. Kurzgeschichten sind in diesem Land eh das Stiefkind der Literatur. Nun steht die Literatur ohnehin auf des Kapitals Tablett. Immer mehr kleine Verlage verschwinden in den börsennotierten Auffangbecken der Großen. Wer sich noch als Verlag im Sinne von "Verleger eines Autors" und damit auch als sein Schutzpatron versteht, ist handverlesen und wenn die sich einen Schnitzer erlauben, sind sie weg vom Fenster.

Grundsätzlich nicht schlecht ist eine sehr gute Literaturagentur. Aber da eine unter den Haien zu finden, ist auch selten. Die müssen sich für dein Werk stark machen über einen längeren Zeitraum. UND sie sollten Dir auch als Berater zur Seite stehen, also die Markterfordernisse beobachten (Krimi, Horror, Kinderbuch, regionale Geschichten etc.) und Dich fragen, ob nicht so ein Thema in Deinem Können liegt.

Du musst für den Markt schreiben. Dazu nimmst Du viele Buchkataloge und schaust Dich in Buchhandlungen um. Auf den Titel hast Du sowieso keinen Anspruch, den wählt der Verlag unter dem Aspekt: Kurz, knapp, emotional, verkaufsstark.

Natürlich gibt es viele kleine Verlage, die aber oft spezialisiert sind. Da den richtigen zu finden, der auch noch Geld aufbringen kann, ist selten.

Dann kämpfst Du auch oft gegen Dich selbst. Disziplin, Romane raushauen, Themen wählen, die nicht unbedingt Dein Fall sind, dran bleiben, Agentur suchen ... das kostet alles endlos Zeit. Ne Literaturagentin sagte zu mir: Coming of Age ist in. Hab ich geschrieben. Aber wie ich fertig war und sie es versuchte, gab es schon 30 andere Coming of Age-Romane. Die Verlage haben wieder dicht gemacht.

Dein Text ist wirklich sehr gut, er hat intellektuelle Tiefe, aber nicht mehr viele Menschen verstehen das heute, Leseverständnis und so. So ein Roman wird es schwer haben. Wenn Du sehr gut Englisch kannst, schreib 20 Kurzgeschichten in amerikanischem Englisch, Umgangssprache, und schick sie an US-Verlage.

Jedenfalls solltest Du weiterhin solche Texte schreiben, alleine schon der guten Sprache wegen, um das Licht einer schönen Sprache hochzuhalten. Der Literatur wegen ...

Gruß
Morphin

 

Friedel am 24.10. schrieb:
Mehr gäbe es nicht zu sagen, wenn nicht offshores Bemerkung zur Zeichensetzung wäre: Doch im Ernst: Was mag ernst gesehen haben? Oder hat er österreichischen Strohrum genossen? Da is’ nix – find ich ...

... weil baronsamedi in der Zwischenzeit offenbar das eine oder andere fehlende Komma ergänzt hat.
(So besoffen kann ich gar nicht sein, dass ich ein fehlendes Komma übersehe. Frag meinen Psychiater, Friedel.)

 

Hallo Friedel,

danke für die Hinweise! Du siehst, ich habe die Anregegungen gleich umgesetzt. Mit dem Lastkahn hast du auch Recht gehabt. Wir Österreicher sind (seit nunmehr hundert Jahren) ja doch ziemliche Landratten, was soll man noch mehr dazu sagen.

Hallo Morphin,

ich nehme an, deine Sichtweise bringt die Lage auf den Punkt. Ich habe ja spät mit dem Schreiben angefangen, deswegen meine etwas naive Sichtweise des Betriebs, der dahinter steht. Aber wie sagt Wagner so schön: Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun! Das trifft auch in meinem österreichischen Fall den Nagel auf den Kopf.

Hallo Ernst!

... weil baronsamedi in der Zwischenzeit offenbar das eine oder andere fehlende Komma ergänzt hat.
So ist es.

schönen Sonntag noch!

baronsamedi

 

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