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Exit-Strategie

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29.10.2014
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Exit-Strategie

Beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen und sein ganzes Vorhaben wäre dahin gewesen. Doch als er mit kerzengeradem Oberkörper im Bett sitzt, kann er noch gerade rechtzeitig an sich halten.
Zitternd lehnt er sich an die Wand, deren Kälte sich auf seinem ganzen Rücken ausbreitet. Schon wieder dieser Albtraum, denkt er. Er hat ihn in letzter Zeit ständig und er kann sich nicht mal wirklich einen Reim darauf machen. Irgendwas - oder irgendwer? - verfolgt ihn durch Straßen, die ihm recht bekannt vorkommen. Er läuft immer tiefer und tiefer in die Dunkelheit bis ihn etwas am Fuß packt. Dann wacht er auf. Stets im selben Moment. Manchmal hat er dabei schon Sophie, die neben ihm liegt, aufgeweckt. Er schaut kurz rüber zu ihrer Seite und sieht nur eine Fülle an Haar, die unter der Decke zum Vorschein kommt. Zur Sicherheit lehnt er sich über ihren Körper und schaut, ob sie wirklich noch schläft. Ihre Augen sind geschlossen, während ihre kleine, wohlgeformte Nase in regelmäßigen Abständen kleine Luftstöße von sich gibt. Es wundert ihn, dass ihr Gesicht nach wie vor so unberührt von allem scheint, was in der Vergangenheit passiert ist.
Nachdem er vorsichtig aufgestanden ist und sich ins Badezimmer geschlichen hat, betrachtet er sein Gesicht. Es könnte keinen größeren Kontrast zu Sophies unschuldigem Ausdruck geben. Seine Geheimratsecken haben schon den Großteil seiner Haare aufgefressen. Die, die noch da sind verblassen immer mehr zu einem hässlichen grau. Nicht die Art grau, die einen Mann reif und weltmännisch erscheinen lassen. Sondern die Art, die ihn bleich und verbraucht aussehen lassen. Im letzten Jahr sind so viele graue Haare dazugekommen, wie in den vorangegangen 41 Jahren zusammen. „Mein Vater hatte nie graue Haare“, murmelt er vor sich hin. „Das hat definitiv keine rein biologischen Gründe.“ Er guckt seinem Spiegelbild direkt in die Augen, als ob er nicht mit sich, sondern mit jemand anderem spräche. Für einen kurzen Moment vergisst er, dass diese traurige Gestalt er selbst ist. Mit den Händen stützt er sich auf dem Waschbecken ab und neigt seinen Oberkörper soweit nach vorne, dass er mit seiner Nase fast den Spiegel berührt. Er weiß, dass er es nicht tun sollte, aber er inspiziert erneut ganz genau sein Gesicht, das von Sorgenfalten durchfurcht ist, als ob ihn jemand mit einer Mistgabel zerkratzt hätte. Jede Falte kann er einer bestimmten Sorge zuordnen. Sein Gesicht ist wie ein Zeugnis des Scheiterns. Der tiefe Knick zwischen den Augenbrauen resultierte aus einem heftigen Streit mit Sophie vor einem Jahr. Danach war sie kurzzeitig ausgezogen. Die kleinen Kerben unter den Augen bildeten sich, als er den Fehler machte, nach Jahren alte Freunde wieder zu treffen, die den ganzen Abend von ihrem Leben berichteten. Sie schienen alle so glücklich, so genau dort zu sein wo sie sein wollten. Im Kontrast dazu manifestierte sich die Leere seines Daseins vor seinen Augen so massiv, dass es seitdem völlig unmöglich war, sie zu ignorieren. Als er nach Hause kam, heulte er die ganze Nacht. Er wollte eigentlich immer Fotograf werden. Oder Dokumentarfilmer. „Na, soviel dazu“, stöhnt er leise und denkt an seinen quälenden Job in der örtlichen Stadtverwaltung. Die Stirn ist konstant gekräuselt, seit ihm sein verschissener Boss bei der verschissenen Arbeit nicht ihm sondern seinem verschissenen Kollegen Andreas die Beförderung gab, von der jeder wusste, dass nur er sie verdient hatte. Davon abgesehen hatte er fest mit dem Geld kalkuliert, das er dringend brauchte, um die Schulden abzubezahlen, die er aufnehmen musste, um die Therapie für seinen kranken Vater zu bezahlen. Die ist am Ende natürlich nicht wie erwartet angeschlagen, sodass ein noch größeres Loch in die Haushaltskasse gerissen wurde, als die Beerdigung anstand. Das sind keine Falten, das sind Narben, sinniert er vor sich hin. Narben eines Lebens, das ihm alles abverlangt hat.
Wenn er sich so im Spiegel betrachtet, ist die Jämmerlichkeit seiner Existenz allgegenwärtig. Sie lacht ihm ins Gesicht. Überall wird sie reflektiert: In seinen eigenen vier Wänden, im Büro, ja manchmal sogar in Sophies Augen, wenn er sieht, wie sie versucht sich zu einem Lächeln zu zwingen, doch er ihre tiefe Verzweiflung spürt. Verzweiflung, die er zu verantworten hat, weil er sie ihn sein Leben reingezogen hat.

Als er diese Dinge reflektiert, kommt ihm auf einmal ein Gedanke. „Vielleicht ist es das, wovor ich versuche in meinen Träumen zu fliehen“, flüstert er. „Die Jämmerlichkeit, der ich nicht entfliehen kann.“ Dieser Gedanke bekräftigt ihn noch mehr, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es ist ja auch alles vorbereitet. Der Koffer ist gepackt und steht oben im Schlafzimmer. Die Flugtickets sind gebucht (mit Sophies Kreditkarte, sodass sie bei der nächsten Abrechnung mitkriegt, dass er wirklich weit weg ist). Seinen Job hat er bereits Freitag gekündigt. Natürlich weiß sie nichts davon.
Es ist sechs Uhr morgens, als er das Haus verlässt. Niemand in Sicht. Meteorologisch ist heute Herbstanfang, aber es ist noch angenehm warm. Bevor er nach draußen geht, presst er beide Hände an die Seiten des Türrahmens und lehnt sich nach vorne. Sein Kopf dreht sich nach links, verharrt kurz und dreht sich dann nach rechts. Nachdem er festgestellt hat, dass die Luft rein ist, stellt er sein Gepäck vor die Tür und macht einen Schritt nach vorne. Behutsam schließt er die Haustür, packt den beige-braunen karierten Trolley mit beiden Händen und trägt ihn bis zum Tor an der Straße. Sie darf auf keinen Fall wach werden und Notiz von seiner Abwesenheit nehmen. Zumindest nicht, bis sie den Zettel auf dem Küchentisch findet.
Er macht sich Richtung Innenstadt auf. Sonnenstrahlen erwärmen seine Wangen und eher unbewusst formt sein Mund ein kurzes Lächeln, was aber abrupt von dem versteinerten und von Sorgenfalten gezeichneten Ausdruck verjagt wird, der in sein Gesicht eingemeißelt zu sein scheint. Den Versuch wenigstens nach außen hin freundlich zu wirken hat er schon vor langer Zeit aufgegeben. Kurz bleibt er stehen und dreht sich nochmal um, nur um sicherzugehen, dass ihn auch niemand von den Nachbarn gesehen hat. Als er an der Ampel der großen Kreuzung steht, wo er links zum Stadtzentrum abbiegen muss, spürt er einen leisen Zweifel in der entferntesten Ecke seines Verstandes. Irgendwo sagt eine Stimme ganz leise: „Ist es das, was du willst?“ Doch der Gedanke ist mittlerweile ganz verschwommen und abstrakt wie eine flüchtige Erinnerung. Viel präsenter sind Überlegungen in welcher Reihenfolge er die Liste abarbeitet, die er extra angelegt hat. Über die vergangenen Monate ging er tief in sich und überlegte, wie diese Stadt ihm in besseren Zeiten Freude bereitet hat. Oder zumindest von den Schmerzen ablenkte. Das war mittlerweile seine Definition von Freude: Eine Pause von der Frustration. Währenddessen klackern die Rollen des Trolleys unermüdlich im Gleichschritt mit dem Schlag seines Herzen. In dem Trolley befinden sich zwei Shorts, eine grüne Badehose, drei T-Shirts, zwei Hemden (kariert), ein paar Latschen und diverse Paar Socken sowie Unterwäsche. Klamotten, wie sie Leute tragen, die in Reisekatalogen dem Betrachter Trips nach Teneriffa oder zu den kanarischen Inseln schmackhaft machen sollen. „Komm in die Sonne und alle Sorgen sind vergessen!“ Wenn es doch so einfach wäre. Um nichts zu vergessen holt er die Liste aus seiner Jackentasche. Zuerst steuert er Lous Café an. Ein kleines, unscheinbares und schon ein wenig heruntergekommenes Gebäude über dem ein großes Schild prangt. Darauf steht in roten Lettern „Lou’s Café“. Ständig hat er ihn auf das grammatikalisch inkorrekte und somit völlig überflüssige Apostroph hingewiesen. Aber er wollte es nie ändern. Er geht zur Tür herein und zieht den Trolley über den schwarz-weiß karierten Boden. Ihm gefiel dieses Muster schon immer. Die Einrichtung würde mancher vielleicht als spärlich bezeichnen. Er findet es absolut passend. Lou macht sich Gedanken über seinen Kaffee und nicht über die Farbe seiner Sitzkissen. Seiner Meinung nach ist das die richtige Prioritätensetzung. Kurz nachdem er sich auf seinen Stammplatz am Tresen gesetzt hat, kommt Lou und grüßt freundlich. „So wie immer?“ fragt er. Ein Nicken genügt völlig als Antwort. Eine Minute später hat er seinen leicht hellbraunen Milchkaffee mit zwei Löffel Zucker vor sich stehen. Der letzte, den er hier trinken wird. Aber das braucht Lou nicht zu wissen. Nach dem Kaffee geht er der Reihe nach zu den weiteren Stationen, zu denen er ein letztes Mal gehen möchte, bevor er sich auf den Weg zum Bahnhof macht.
Während er den Hügel ansteuert, von dem man einen herrlichen Blick über die ganze Stadt hat - dort hat er ihr vor elf Jahren den Antrag gemacht – schlurft Sophie noch äußerst schlaftrunken zum Badezimmer. Sie steht immer später als Thomas auf. Der Tag ist eh schon lang genug, da versucht sie wenigstens ein paar Stunden einzusparen. Die Freiheit nimmt sie sich, seit ihr undankbarer Zeitungsverlag sie mit einer mehr als fadenscheinigen Begründung vor die Tür gesetzt hat. Im Spiegel betrachtet sie ihr zerzaustes Haar. Eine gelockte Strähne hängt ihr ins Gesicht. Sie versucht sie zur Seite zu pusten, aber sie fällt immer wieder zurück und hängt weiter schlaff zwischen ihren Augen herunter. Lustlos versucht sie das große schwarze Knäuel, dass sich auf ihrem Kopf in alle Richtungen ausbreitet mit einer kleinen, schwarzen, mit dieser Aufgabe völlig überforderten Bürste zu bändigen. Thomas liebt ihre Locken, sie jedoch ist manchmal kurz davor seinen Rasierer zu nehmen und kurzen Prozess mit ihnen zu machen. Das ist ihr dann aber doch zu klischeebeladen. Sich die Haare abzuschneiden, weil man Probleme hat, ist ihrer Meinung nach was für aufmerksamkeitsgierige B-Promis. Sie zieht sich ihren Bademantel über und geht kurz zurück ins Schlafzimmer, um ihr Handy zu holen. Nur aus reiner Gewohnheit schaut sie beim Hinabschreiten der Treppenstufen nach, ob irgendwelche Nachrichten gekommen sind. Sie weiß allerdings selber nicht vom wem. Die zwei, drei Freunde die sie und Thomas hatten, sind vor einiger Zeit schon weggezogen. Seitdem haben sie nie wieder richtig Anschluss gefunden. Sie erinnert sich, wie er einen Abend mit ein paar alten Schulkameraden verbracht hat, die er jahrelang nicht gesehen hatte. Als er nach Hause kam, wirkte er noch unglücklicher als sonst. Das hatte sie gar nicht für möglich gehalten. In der Küche geht sie erst direkt zum Kühlschrank ohne auf den Küchentisch zu sehen. „Scheiße!“, platzt es aus ihr raus, als sie zur Kenntnis nehmen muss, dass die Milch alle ist. Das erste Wort, das sie heute gesprochen hat und es wird vermutlich für lange Zeit das letzte bleiben. Sie schließt die Kühlschranktür, dreht sich um und lässt ihren Blick ziellos durch die Küche schweifen, als sie überlegt, ob sie sich nicht einfach wieder hinlegen soll. Dann fällt ihr auf einmal der kleine, gelbe Zettel auf, der auf dem Küchentisch liegt. Sofort zieht sich etwas in ihrem Magen zusammen. Ohne ein Wort gelesen zu haben, weiß sie, dass das nichts Gutes bedeuten kann. Mit leicht zitternder Hand nimmt sie das Blatt ihn die Hand und beginnt zu lesen:

Liebe Sophie,
wenn du das liest, bin ich längst fort. Mir erscheint es als der einzige Ausweg. Ich erwarte nicht, dass du es verstehst. Vor dem Unglück wegzulaufen mag keine reife Entscheidung sein. Ich habe vollstes Verständnis, wenn du das feige und egoistisch findest. Nur habe ich das Gefühl, dass ich deinem Glück immer im Weg stand. Ich meine, hat sich in den letzten Jahren denn irgendetwas zum Guten gewendet? Hast du dir dein Leben je so vorgestellt? Ich denke nicht. Wir haben nie offen darüber gesprochen, aber wir wissen beide, dass du mehr verdient hast, als ich dir bieten kann. Dies ist sowohl meine als auch deine letzte Chance noch mal neu anzufangen. Ich kann dir nicht sagen wo ich hingehe. Aber sei dir sicher, wo immer ich auch bin, ich werde an dich denken.
Alles Gute,

Dein Thomas

Mittlerweile hat Thomas die Liste abgearbeitet. Er war an jedem Ort, der ihm auf irgendeine Art und Weise etwas bedeutet. Er war auch kurz am Bahnhof und unterhielt sich mit der freundlichen Dame am Informationsschalter. Außerdem trank er noch einen Kaffee. Nur für den Fall, dass Sophie nach ihm suchen sollte und ihn als vermisst meldet. Dann gibt es zumindest ein paar Zeugen, die bestätigen können, dass er am Bahnhof war. Dass er nie vor hatte in einen Zug einzusteigen, ist da völlig irrelevant.
In diesem Moment hat er den Bahnhof schon längst hinter sich gelassen und vernimmt dessen Geräusche nur noch aus der Ferne. Als er seinen Blick von oben über die Gleise schweifen lässt, hat sich an der versteinerten Miene, mit der er das Haus verlassen hat, nichts geändert. Schon oft hat er sich in den vergangen Monaten diesen Moment vorgestellt und sich immer gefragt, was man wohl empfindet. Und tatsächlich scheint der Schmerz, der sich so hartnäckig in sein Herz eingenistet hat, der das einzig wirklich wahrhaftige in seinem Leben gewesen ist, langsam zu weichen. Er spürt, wie er kurze Zeit ebenso trivial erscheint wie alles andere.
Der Wind bläst kräftig und er muss sich an der massiven Eisenstange, an die er sich anlehnt, festhalten. Dieser Gedanke amüsiert ihn. Nun beugt er sich langsam nach vorne, während seine Arme weiterhin nach hinten ausgestreckt sind. Seine Hände werden kalt. Die Kälte fließt von seinen Fingern langsam in seinen gesamten Körper, als er von weit weg einen Zug herannahen hört. Hinter ihm. Mach dich bereit. Und unter ihm.

 
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Hallo Thomas,

und herzlich Willkommen hier.

Wie viele andere Neue hier hast du dir eine dramatische Handlung ausgedacht - aber das kommt bei mir überhaupt nicht an. Dummerweise erfahre ich als Leser bis zum Schluss nicht einmal, wieso sich der Protagonist das Leben nimmt - wenn ich die letzten missverständlichen Zeilen ummodle und interpretiere.

Dann würde ich in dem Zusammenhang brennend interessieren, wieso er denn überhaupt einen Koffer mitnimmt, wenn er sich umbringt. Oder lese ich da so vieles falsch?

Was mich auch - sorry - wirklich am Ende genervt hat, war der Fokus auf diesem letzten Mal. Das wurde überstrapaziert.
Klar kann es besonders sein, wenn man zum letzten Mal einen Kaffee trinkt - ja, aber bevor was?
Was ist das Unglück?
Schade auch, dass die Sophie so blass bleibt.

Viel lieber hätte ich erfahren, was der Arme denn für Probleme hat und wieso er auf die Idee kommt, sich umzubringen. (Wobei diese Suizid-Stories sowieso meistens nicht authentisch rüberkommen).

Also ich gebe dir denn Rat, über "normalere" Themen zu schreiben. Über Dinge, von denen du eine Ahnung hast. Und wenn Leute dann miteinander sprechen, ist sowieso schon mal besser als so eine beschreibende Sache. Die können sich auch nur mal intensiv in die Augen sehen und fast dabei heulen, vor Freude oder Schmerz, das ist alles möglich. Aber lass' Menschen miteinander agieren, dann wird das lebendiger.

Gib bitte nicht gleich auf - dann wirst du irgendwann hier merken, wie viel Spaß die Schreiberei auch machen kann.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Dekon

Willkommen hier im Forum.

Einmal mehr eine Geschichte, die sich um Lebensüberdruss oder präzis um den Akt von Suizid dreht. Ich gehöre nicht zu den Lesern, die ein Thema, das gebetsmühlenartig sich wiederholend auftaucht, deshalb als abgedroschen abtun. Aber meine Erwartungen keimen darin, dass es sich inhaltlich abheben mag, den Menschen, dessen Absicht ich als Leser miterlebe, als einzigartig wahrnehme. Sein Entschluss sei er nach eingehender Prüfung gefasst oder auch einzig einem momentan unerträglichen Leidensdruck entsprungen, mir nachvollziehbar wird. Dies gelingt aber nur, wenn der Hintergrund und seine Persönlichkeit sich ausleuchten.
Dein Protagonist blieb mir von dem her fremd, sein Gesicht ist wohl von Leid geprägt, doch kein Gedanke von ihm der dieses Unerträgliche ausformuliert.
Auch Sophie gewann hier nur die Rolle einer Statistin, noch schlaftrunken durfte sie seinen Abschiedsbrief lesen. Eine dürftige Notiz, kein Wort der Entschuldigung, dass er sich davonschleicht. Dass er an sie denken wird, wirkt mir mit den vorgehenden Sätzen kaum glaubwürdig, da seine Ansprache an sie nur ihr Unverständnis für ihn zum Ausdruck bringt. Eine Anklage, die sie vielleicht verstehen mag, doch der Leser nicht.
Ein Faktor, der mir auch fehlt und dazu beiträgt, dass eine Geschichte sich zu einer solchen entwickelt, ist die Wandlung, welche der Protagonist durchgemacht haben musste. Dieser Schlussakt ist für mein Empfinden, so dargestellt, nur eine Abhandlung. Ein Polizeirapport, dessen Recherchen die letzten Stunden des Suizidenten festhalten, könnte annähernd so ausfallen.

Ich weiss, es ist unschön gleich bei seiner ersten Geschichte mit solch konfrontierender Nüchternheit durchleuchtet zu werden, statt Positives vorab zu hören und dann erst die Schwächen ausgelotet auf dem Präsentierteller zu erhalten. Doch nützt es Dir wenig, würde ich Dir mein Empfinden als Leser vertuschen. Das Positive welches mir auffiel war, ich konnte es ohne jegliches Zögern lesen, was eine gute Voraussetzung ist, wenn man mit Schreiben von Geschichten Leser in seinen Bann ziehen will.

Vielleicht machst Du Dir nochmals Gedanken zu Deiner Intention, vergleichst die Handlung, wie sie wohl von einem erfolgreichen Autor dargestellt worden wäre, und ziehst Rückschlüsse. Sicherlich wirst Du auch noch anderes Echo erhalten, schau daran was den Lesern und Kritikern gefällt oder aneckt und überlege für Dich, wie es sich im Sinne Deiner Vorstellung verbessern lässt. Dann arbeite daran, bring eine Wandlung ein, die es als Geschichte erfüllt.

Noch zwei Anmerkungen, die Dir für die Aufmerksamkeit von Lesern die Tür einen Spalt weiter öffnen könnte:
Die ersten Sätze sind wichtig, sollten den Leser neugierig machen, ihn quasi in die Geschichte locken. Hier vergibst Du im ganzen ersten Absatz viel, da es langatmig eher Allgemeinheiten eines morgendlichen Beobachters wiedergibt.
Im weiteren kann der Titel ein einladender Anreiz sein, wenn er ansprechend wirkt. Wichtig ist dabei, dass er nicht etwas verspricht, das er nicht halten kann. Bei dem gewählten Titel widerspiegelt er mir den Inhalt nicht, da die Handlung sich weder ausgeklügelt noch diplomatisch präsentiert, noch ist sie strategisch aufbauend. [Titel können entgegen den andern Inhalten übrigens nicht vom Autor selbst geändert werden. Solltest Du einen andern wählen wollen, müsstest Du diesen einem Moderator mitteilen, der die Änderung dann vornimmt.]

Lass Dich von meinem Eindruck nicht abschrecken, ein Autor muss sich eine dicke Haut zulegen, wenn er sich zu Erfolgen schreiben will. Aber arbeite daran, ringe darum, das Beste darzulegen, was Dir möglich ist, dies bedingt es schon.

Noch viel Freude hier beim Lesen, kommentieren und schreiben.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hi,

erstmal danke für das ausführliche Feedback! In weiten Teilen kann ich die Kritik nachvollziehen. Das soll keine Entschuldigung sein, aber ich bin noch nicht so lange dabei zu schreiben. Auf ein paar Dinge, die ihr angemerkt habt, würde ich aber schon gerne eingehen.

Bernadette, du meintest, du würdest gerne die Gründe für den Suizid erfahren. Diese habe ich bewusst im Dunkeln gelassen, da sie meiner Meinung nach in diesem speziellen Fall keine große Rolle spielen. Es soll mehr um die letzten Gedanken von jemanden gehen, der komplett mit dem Leben abgeschlossen hat, aber doch nicht den Mut aufbringt, den Menschen, an dem ihm was liegt, damit zu konfrontieren. Darauf soll der Fokus liegen.

Anakreon, du hast angemerkt, dass ich die Wandlung des Protagonisten mehr erklären müsse. Aus meiner Sicht macht er aber gar keine Wandlung durch. Der Entschluss steht von vornherein fest, aber der Leser erfährt das eben erst am Ende. Bezüglich des Anfangs habe ich gedacht, dass ich bewusst eine recht harmlose Szenerie schaffe, damit das Ende umso dramatischer wirkt. Vielleicht habe ich mich damit verkalkuliert. Mit dem Titel habe ich mich ebenfalls lange schwer getan, da hatte ich schon befürchtet, dass den nicht jeder positiv aufnehmen wird.

Prinzipiell nochmal eine Frage, die möglicherweise ein bisschen naiv erscheint: Im Allgemeinen vermisst ihr beide mehr Details (zu den Charakteren, zu den Hintergründen etc.). Das verstehe ich, aber ist es in einer Kurzgeschichte nicht legitim, diese offen zu halten? Beziehungsweise muss man nicht auch aufpassen, dass man einen kurzen Text nicht mit Details überfrachtet?

Nochmals vielen Dank für die Hinweise! Ich werde versuchen sie bei den nächsten Texten zu berücksichtigen.

Gruß,
Dekon

 

Prinzipiell nochmal eine Frage, die möglicherweise ein bisschen naiv erscheint: Im Allgemeinen vermisst ihr beide mehr Details (zu den Charakteren, zu den Hintergründen etc.). Das verstehe ich, aber ist es in einer Kurzgeschichte nicht legitim, diese offen zu halten? Beziehungsweise muss man nicht auch aufpassen, dass man einen kurzen Text nicht mit Details überfrachtet?

Es geht nicht um ausführliche Beschreibungen, sondern um kleine, aber feine Charakterisierungen.
Als Leser möchte ich doch in die Geschichte gezogen werden, dazu brauche ich aber ein Bild, einen roten Faden oder wie immer man es nennen mag, besonders auch zu den Protagonisten, damit ich bei ihnen bleiben will.
Wenn eine Person kein Leben eingehaucht bekommt, interessiert sie mich nicht. Entweder schafft man das durch eine sehr gut beobachtete Personenbeschreibung, die in mir ein Bild des Menschen aufkommen lässt. Ich zitier mal aus einer alten Geschichte von mir, so als Beispiel, was ich damit meine.

Seine grünen Augen blitzen, die blaue Baskenmütze kaschiert vorteilhaft die Geheimratsecken des sonst wuscheligen Schopfes. Um seine rauen Lippen zuckt ein Lächeln. [...] Seine Gesichtszüge sind weich und offen, dadurch verliert die schmale, große gebogene Nase ihre Dominanz. Der Leberfleck über der Lippe scheint etwas gewachsen zu sein.

Vier Sätze, die doch einiges an Äußerlichkeiten preisgeben.

Oder man skizziert den Menschen durch ansprechende Wortbeiträge in Dialogen. Das alles muss nicht allumfassend sein, aber als Autor muss man einige Leitplanken setzen, damit der Leser auf der Spur bleibt.

Nochmals vielen Dank für die Hinweise! Ich werde versuchen sie bei den nächsten Texten zu berücksichtigen.

Wieso erst beim nächsten? Wir sind hier, um an aktuellen Texten zu arbeiten. Also los, Ärmel hochkrempeln und an dieser Geschichte ackern :)

Viel Spaß damit,
bernadette

 

Ich habe den Text nun ein bisschen überarbeitet. Vor allem hat er jetzt einen ganz neuen Einstieg, der ein bisschen mehr von dem Protagonisten und seinen Beweggründen preisgibt. In einer späteren Passage schreibe ich ebenfalls etwas mehr zu Sophie.
Das vorher recht präsente Motiv "Zum letzten Mal..." habe ich nun komplett gestrichen. Es kam mir nach erneutem Lesen ebenfalls etwas gezwungen vor.
Durch ein paar Andeutungen im Verlaufe des Textes und durch die explizite Erwähnung am Ende, wird nun hoffentlich klar, dass Thomas Sophie bewusst in die Irre führen will. Ursprünglich wollte ich das etwas verdeckter halten, aber da in euren Reaktion doch Konfusion darüber zum Ausdruck kam, habe ich das nun verdeutlicht.
Ihr habt zwar beide angeregt, mehr Dialog miteinfließen zu lassen, aber dafür sah ich nach wie vor keinen Raum. Beide Charaktere sind meinem Empfinden nach nicht in der Stimmung viel zu reden.

Über erneutes Feedback würde ich mich sehr freuen!

 

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