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Exit-Strategie
Beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen und sein ganzes Vorhaben wäre dahin gewesen. Doch als er mit kerzengeradem Oberkörper im Bett sitzt, kann er noch gerade rechtzeitig an sich halten.
Zitternd lehnt er sich an die Wand, deren Kälte sich auf seinem ganzen Rücken ausbreitet. Schon wieder dieser Albtraum, denkt er. Er hat ihn in letzter Zeit ständig und er kann sich nicht mal wirklich einen Reim darauf machen. Irgendwas - oder irgendwer? - verfolgt ihn durch Straßen, die ihm recht bekannt vorkommen. Er läuft immer tiefer und tiefer in die Dunkelheit bis ihn etwas am Fuß packt. Dann wacht er auf. Stets im selben Moment. Manchmal hat er dabei schon Sophie, die neben ihm liegt, aufgeweckt. Er schaut kurz rüber zu ihrer Seite und sieht nur eine Fülle an Haar, die unter der Decke zum Vorschein kommt. Zur Sicherheit lehnt er sich über ihren Körper und schaut, ob sie wirklich noch schläft. Ihre Augen sind geschlossen, während ihre kleine, wohlgeformte Nase in regelmäßigen Abständen kleine Luftstöße von sich gibt. Es wundert ihn, dass ihr Gesicht nach wie vor so unberührt von allem scheint, was in der Vergangenheit passiert ist.
Nachdem er vorsichtig aufgestanden ist und sich ins Badezimmer geschlichen hat, betrachtet er sein Gesicht. Es könnte keinen größeren Kontrast zu Sophies unschuldigem Ausdruck geben. Seine Geheimratsecken haben schon den Großteil seiner Haare aufgefressen. Die, die noch da sind verblassen immer mehr zu einem hässlichen grau. Nicht die Art grau, die einen Mann reif und weltmännisch erscheinen lassen. Sondern die Art, die ihn bleich und verbraucht aussehen lassen. Im letzten Jahr sind so viele graue Haare dazugekommen, wie in den vorangegangen 41 Jahren zusammen. „Mein Vater hatte nie graue Haare“, murmelt er vor sich hin. „Das hat definitiv keine rein biologischen Gründe.“ Er guckt seinem Spiegelbild direkt in die Augen, als ob er nicht mit sich, sondern mit jemand anderem spräche. Für einen kurzen Moment vergisst er, dass diese traurige Gestalt er selbst ist. Mit den Händen stützt er sich auf dem Waschbecken ab und neigt seinen Oberkörper soweit nach vorne, dass er mit seiner Nase fast den Spiegel berührt. Er weiß, dass er es nicht tun sollte, aber er inspiziert erneut ganz genau sein Gesicht, das von Sorgenfalten durchfurcht ist, als ob ihn jemand mit einer Mistgabel zerkratzt hätte. Jede Falte kann er einer bestimmten Sorge zuordnen. Sein Gesicht ist wie ein Zeugnis des Scheiterns. Der tiefe Knick zwischen den Augenbrauen resultierte aus einem heftigen Streit mit Sophie vor einem Jahr. Danach war sie kurzzeitig ausgezogen. Die kleinen Kerben unter den Augen bildeten sich, als er den Fehler machte, nach Jahren alte Freunde wieder zu treffen, die den ganzen Abend von ihrem Leben berichteten. Sie schienen alle so glücklich, so genau dort zu sein wo sie sein wollten. Im Kontrast dazu manifestierte sich die Leere seines Daseins vor seinen Augen so massiv, dass es seitdem völlig unmöglich war, sie zu ignorieren. Als er nach Hause kam, heulte er die ganze Nacht. Er wollte eigentlich immer Fotograf werden. Oder Dokumentarfilmer. „Na, soviel dazu“, stöhnt er leise und denkt an seinen quälenden Job in der örtlichen Stadtverwaltung. Die Stirn ist konstant gekräuselt, seit ihm sein verschissener Boss bei der verschissenen Arbeit nicht ihm sondern seinem verschissenen Kollegen Andreas die Beförderung gab, von der jeder wusste, dass nur er sie verdient hatte. Davon abgesehen hatte er fest mit dem Geld kalkuliert, das er dringend brauchte, um die Schulden abzubezahlen, die er aufnehmen musste, um die Therapie für seinen kranken Vater zu bezahlen. Die ist am Ende natürlich nicht wie erwartet angeschlagen, sodass ein noch größeres Loch in die Haushaltskasse gerissen wurde, als die Beerdigung anstand. Das sind keine Falten, das sind Narben, sinniert er vor sich hin. Narben eines Lebens, das ihm alles abverlangt hat.
Wenn er sich so im Spiegel betrachtet, ist die Jämmerlichkeit seiner Existenz allgegenwärtig. Sie lacht ihm ins Gesicht. Überall wird sie reflektiert: In seinen eigenen vier Wänden, im Büro, ja manchmal sogar in Sophies Augen, wenn er sieht, wie sie versucht sich zu einem Lächeln zu zwingen, doch er ihre tiefe Verzweiflung spürt. Verzweiflung, die er zu verantworten hat, weil er sie ihn sein Leben reingezogen hat.
Als er diese Dinge reflektiert, kommt ihm auf einmal ein Gedanke. „Vielleicht ist es das, wovor ich versuche in meinen Träumen zu fliehen“, flüstert er. „Die Jämmerlichkeit, der ich nicht entfliehen kann.“ Dieser Gedanke bekräftigt ihn noch mehr, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es ist ja auch alles vorbereitet. Der Koffer ist gepackt und steht oben im Schlafzimmer. Die Flugtickets sind gebucht (mit Sophies Kreditkarte, sodass sie bei der nächsten Abrechnung mitkriegt, dass er wirklich weit weg ist). Seinen Job hat er bereits Freitag gekündigt. Natürlich weiß sie nichts davon.
Es ist sechs Uhr morgens, als er das Haus verlässt. Niemand in Sicht. Meteorologisch ist heute Herbstanfang, aber es ist noch angenehm warm. Bevor er nach draußen geht, presst er beide Hände an die Seiten des Türrahmens und lehnt sich nach vorne. Sein Kopf dreht sich nach links, verharrt kurz und dreht sich dann nach rechts. Nachdem er festgestellt hat, dass die Luft rein ist, stellt er sein Gepäck vor die Tür und macht einen Schritt nach vorne. Behutsam schließt er die Haustür, packt den beige-braunen karierten Trolley mit beiden Händen und trägt ihn bis zum Tor an der Straße. Sie darf auf keinen Fall wach werden und Notiz von seiner Abwesenheit nehmen. Zumindest nicht, bis sie den Zettel auf dem Küchentisch findet.
Er macht sich Richtung Innenstadt auf. Sonnenstrahlen erwärmen seine Wangen und eher unbewusst formt sein Mund ein kurzes Lächeln, was aber abrupt von dem versteinerten und von Sorgenfalten gezeichneten Ausdruck verjagt wird, der in sein Gesicht eingemeißelt zu sein scheint. Den Versuch wenigstens nach außen hin freundlich zu wirken hat er schon vor langer Zeit aufgegeben. Kurz bleibt er stehen und dreht sich nochmal um, nur um sicherzugehen, dass ihn auch niemand von den Nachbarn gesehen hat. Als er an der Ampel der großen Kreuzung steht, wo er links zum Stadtzentrum abbiegen muss, spürt er einen leisen Zweifel in der entferntesten Ecke seines Verstandes. Irgendwo sagt eine Stimme ganz leise: „Ist es das, was du willst?“ Doch der Gedanke ist mittlerweile ganz verschwommen und abstrakt wie eine flüchtige Erinnerung. Viel präsenter sind Überlegungen in welcher Reihenfolge er die Liste abarbeitet, die er extra angelegt hat. Über die vergangenen Monate ging er tief in sich und überlegte, wie diese Stadt ihm in besseren Zeiten Freude bereitet hat. Oder zumindest von den Schmerzen ablenkte. Das war mittlerweile seine Definition von Freude: Eine Pause von der Frustration. Währenddessen klackern die Rollen des Trolleys unermüdlich im Gleichschritt mit dem Schlag seines Herzen. In dem Trolley befinden sich zwei Shorts, eine grüne Badehose, drei T-Shirts, zwei Hemden (kariert), ein paar Latschen und diverse Paar Socken sowie Unterwäsche. Klamotten, wie sie Leute tragen, die in Reisekatalogen dem Betrachter Trips nach Teneriffa oder zu den kanarischen Inseln schmackhaft machen sollen. „Komm in die Sonne und alle Sorgen sind vergessen!“ Wenn es doch so einfach wäre. Um nichts zu vergessen holt er die Liste aus seiner Jackentasche. Zuerst steuert er Lous Café an. Ein kleines, unscheinbares und schon ein wenig heruntergekommenes Gebäude über dem ein großes Schild prangt. Darauf steht in roten Lettern „Lou’s Café“. Ständig hat er ihn auf das grammatikalisch inkorrekte und somit völlig überflüssige Apostroph hingewiesen. Aber er wollte es nie ändern. Er geht zur Tür herein und zieht den Trolley über den schwarz-weiß karierten Boden. Ihm gefiel dieses Muster schon immer. Die Einrichtung würde mancher vielleicht als spärlich bezeichnen. Er findet es absolut passend. Lou macht sich Gedanken über seinen Kaffee und nicht über die Farbe seiner Sitzkissen. Seiner Meinung nach ist das die richtige Prioritätensetzung. Kurz nachdem er sich auf seinen Stammplatz am Tresen gesetzt hat, kommt Lou und grüßt freundlich. „So wie immer?“ fragt er. Ein Nicken genügt völlig als Antwort. Eine Minute später hat er seinen leicht hellbraunen Milchkaffee mit zwei Löffel Zucker vor sich stehen. Der letzte, den er hier trinken wird. Aber das braucht Lou nicht zu wissen. Nach dem Kaffee geht er der Reihe nach zu den weiteren Stationen, zu denen er ein letztes Mal gehen möchte, bevor er sich auf den Weg zum Bahnhof macht.
Während er den Hügel ansteuert, von dem man einen herrlichen Blick über die ganze Stadt hat - dort hat er ihr vor elf Jahren den Antrag gemacht – schlurft Sophie noch äußerst schlaftrunken zum Badezimmer. Sie steht immer später als Thomas auf. Der Tag ist eh schon lang genug, da versucht sie wenigstens ein paar Stunden einzusparen. Die Freiheit nimmt sie sich, seit ihr undankbarer Zeitungsverlag sie mit einer mehr als fadenscheinigen Begründung vor die Tür gesetzt hat. Im Spiegel betrachtet sie ihr zerzaustes Haar. Eine gelockte Strähne hängt ihr ins Gesicht. Sie versucht sie zur Seite zu pusten, aber sie fällt immer wieder zurück und hängt weiter schlaff zwischen ihren Augen herunter. Lustlos versucht sie das große schwarze Knäuel, dass sich auf ihrem Kopf in alle Richtungen ausbreitet mit einer kleinen, schwarzen, mit dieser Aufgabe völlig überforderten Bürste zu bändigen. Thomas liebt ihre Locken, sie jedoch ist manchmal kurz davor seinen Rasierer zu nehmen und kurzen Prozess mit ihnen zu machen. Das ist ihr dann aber doch zu klischeebeladen. Sich die Haare abzuschneiden, weil man Probleme hat, ist ihrer Meinung nach was für aufmerksamkeitsgierige B-Promis. Sie zieht sich ihren Bademantel über und geht kurz zurück ins Schlafzimmer, um ihr Handy zu holen. Nur aus reiner Gewohnheit schaut sie beim Hinabschreiten der Treppenstufen nach, ob irgendwelche Nachrichten gekommen sind. Sie weiß allerdings selber nicht vom wem. Die zwei, drei Freunde die sie und Thomas hatten, sind vor einiger Zeit schon weggezogen. Seitdem haben sie nie wieder richtig Anschluss gefunden. Sie erinnert sich, wie er einen Abend mit ein paar alten Schulkameraden verbracht hat, die er jahrelang nicht gesehen hatte. Als er nach Hause kam, wirkte er noch unglücklicher als sonst. Das hatte sie gar nicht für möglich gehalten. In der Küche geht sie erst direkt zum Kühlschrank ohne auf den Küchentisch zu sehen. „Scheiße!“, platzt es aus ihr raus, als sie zur Kenntnis nehmen muss, dass die Milch alle ist. Das erste Wort, das sie heute gesprochen hat und es wird vermutlich für lange Zeit das letzte bleiben. Sie schließt die Kühlschranktür, dreht sich um und lässt ihren Blick ziellos durch die Küche schweifen, als sie überlegt, ob sie sich nicht einfach wieder hinlegen soll. Dann fällt ihr auf einmal der kleine, gelbe Zettel auf, der auf dem Küchentisch liegt. Sofort zieht sich etwas in ihrem Magen zusammen. Ohne ein Wort gelesen zu haben, weiß sie, dass das nichts Gutes bedeuten kann. Mit leicht zitternder Hand nimmt sie das Blatt ihn die Hand und beginnt zu lesen:
Liebe Sophie,
wenn du das liest, bin ich längst fort. Mir erscheint es als der einzige Ausweg. Ich erwarte nicht, dass du es verstehst. Vor dem Unglück wegzulaufen mag keine reife Entscheidung sein. Ich habe vollstes Verständnis, wenn du das feige und egoistisch findest. Nur habe ich das Gefühl, dass ich deinem Glück immer im Weg stand. Ich meine, hat sich in den letzten Jahren denn irgendetwas zum Guten gewendet? Hast du dir dein Leben je so vorgestellt? Ich denke nicht. Wir haben nie offen darüber gesprochen, aber wir wissen beide, dass du mehr verdient hast, als ich dir bieten kann. Dies ist sowohl meine als auch deine letzte Chance noch mal neu anzufangen. Ich kann dir nicht sagen wo ich hingehe. Aber sei dir sicher, wo immer ich auch bin, ich werde an dich denken.
Alles Gute,
Dein Thomas
Mittlerweile hat Thomas die Liste abgearbeitet. Er war an jedem Ort, der ihm auf irgendeine Art und Weise etwas bedeutet. Er war auch kurz am Bahnhof und unterhielt sich mit der freundlichen Dame am Informationsschalter. Außerdem trank er noch einen Kaffee. Nur für den Fall, dass Sophie nach ihm suchen sollte und ihn als vermisst meldet. Dann gibt es zumindest ein paar Zeugen, die bestätigen können, dass er am Bahnhof war. Dass er nie vor hatte in einen Zug einzusteigen, ist da völlig irrelevant.
In diesem Moment hat er den Bahnhof schon längst hinter sich gelassen und vernimmt dessen Geräusche nur noch aus der Ferne. Als er seinen Blick von oben über die Gleise schweifen lässt, hat sich an der versteinerten Miene, mit der er das Haus verlassen hat, nichts geändert. Schon oft hat er sich in den vergangen Monaten diesen Moment vorgestellt und sich immer gefragt, was man wohl empfindet. Und tatsächlich scheint der Schmerz, der sich so hartnäckig in sein Herz eingenistet hat, der das einzig wirklich wahrhaftige in seinem Leben gewesen ist, langsam zu weichen. Er spürt, wie er kurze Zeit ebenso trivial erscheint wie alles andere.
Der Wind bläst kräftig und er muss sich an der massiven Eisenstange, an die er sich anlehnt, festhalten. Dieser Gedanke amüsiert ihn. Nun beugt er sich langsam nach vorne, während seine Arme weiterhin nach hinten ausgestreckt sind. Seine Hände werden kalt. Die Kälte fließt von seinen Fingern langsam in seinen gesamten Körper, als er von weit weg einen Zug herannahen hört. Hinter ihm. Mach dich bereit. Und unter ihm.