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Nudelsuppe
Es war unüblich, den Beschuldigten während der Untersuchungshaft zu sehen, doch sie hatte sich eine Stunde erkämpft. Noch saß sie alleine in dem Raum, der eigentlich als Verhörzimmer genutzt wurde. Er war kalt und unpersönlich; die Wände nicht verputzt, Tisch und Stühle zweckmäßig – leicht abwaschbar. Sie schloss die Augen, atmete tief, zog jeden Atmenzug in die Länge – streckte die Zeit. Nun wollte sie fliehen vor dem Treffen, das unmittelbar bevor stand. Aber sie bewegte sich nicht. Denn der Teil von ihr, der seit Tagen nichts essen konnte, weil ihm beständig übel war, wollte sich nicht bewegen.
Die Luft war schlecht, die Wände dreckig. Die Gummisohlen vieler Schuhe hatten Streifen am Linoleum hinterlassen. Unter der Zimmerdecke sah sie einen Handabdruck. Dieser weckte eine Erinnerung: Vater hatte ihr immer seine Hand auf den Kopf gelegt, stark und warm. Das gab ihr Ruhe und Sicherheit, wies ihr eine Richtung. Diese Angewohnheit hatte er nie aufgegeben, und sie war froh drum.
Dann wurde er hereingeführt und sie dachte: In dem orangenen Einteiler sieht er alt und klein aus. Demütg schien er das Urteil seiner Tochter zu erwarten; doch deswegen war sie nicht gekommen. Er setzte sich und wurde fixiert, während sie im Nebel ihrer Gedanken nach den richtigen Fragen suchte. Doch sie verwarf jede sogleich wieder und suchte nach der nächsten, der besseren. Dieser innere Kampf beschäftigte sie so sehr, dass sie beinahe erschrak, als die Wärter zurück traten und der Blick ihres Vaters sie traf.
Papa, wollte sie sagen, doch sie tat es nicht. Statt dessen musterte sie ihn still. Was war mit ihm passiert? Wer war dieser Mann? Er sah aus wie ihr Vater; doch dieser hätte niemals etwas so abscheuliches tun können. Er hatte sie aufgezogen; war immer liebevoll und geduldig gewesen.
Sie bewegte die Finger, um den Zeitungsausschnitt zu spüren, den sie in der Faust hielt. Das Fitzelchen Papier, das sie mit der Wirklichkeit verband.
Stimmt das, was hier steht?, wollte sie fragen, fürchtete sich aber zu sehr. Er kannte sie, deutete den Blick richtig und nickte. Warum?, wäre die nächste sinnvolle Frage gewesen. Diese könnte man nicht mit einer Geste beantworten, denn ein Achselzucken hätte sie ihm nicht durchgehen lassen. Vater und Tochter saßen sich gegenüber – angespannt und zum ersten Mal ratlos, wie sie miteinander umgehen sollten.
Er könnte sagen, dass es ihm leid täte. Könnte ihr eine Erklärung geben, eine Gelegenheit, die Schuld auf den Toten zu schieben. Dieser muss ihn doch bedroht, angegriffen oder wenigstens provoziert haben? … Wie sehr sie sich eine Rechtfertigung wünschte.
Der Artikel verriet nichts zum Tatmotiv. Der Streit um einen leeren Stuhl in einem vollen Restaurant schien Grund genug.
Mit einem Mal ekelte sie sich vor dem Stück Papier und warf es auf den Tisch. Als ginge von dem verschwitzten Fetzen schlechte Luft aus, hatte sie plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. Sie stand auf, und mit der Bewegung wurde sie von Wut überschwämmt, als brächen über ihr die Mauern eines gewaltigen Staudammes. Aus Angst, mitgerissen zu werden, lief sie im Raum umher. Wenn sie ihrem Vater dabei zu nahe kam, stellte sich einer der Beamten zwischen sie. Das Gehen half nicht, es stachelte die Wut nur an.
„Nudelsuppe?!“, schrie sie plötzlich. Der Angesprochene zuckte zusammen und sah zu ihr hoch, als hätten ihn die scharfen Kanten des Wortes geschnitten.
„In dem Artikel steht, du hättest dir eine Nudelsuppe bestellt … nachdem du den Mann erschlagen hast.“ Noch bevor er sich zu einer Reaktion entschließen konnte, fuhr sie fort, noch lauter jetzt: „Weil du im Gefängnis eh nichts Gutes mehr zu essen bekommen würdest. Scheiße!“, und dann setzte sie nach, verzweifelt, fast flüsternd: „Papa.“ Erst dieses kleine Eingeständnis der Liebe ließ ihn in sich zusammenfallen. Er begann zu weinen. Ihn leiden zu sehen schmerzte – und war doch so gut.
Warum? Wieder sprach sie die Frage nicht aus. Dabei hätte dieses eine Wort so viel klären wollen: Warum du? Warum so? Warum er? Warum hast du es getan?
Sie fragte nicht, denn sie fürchtete, die falsche Antwort zu bekommen. Keine Möglichkeit, die Tat hinter einer dicken, weichen Schicht aus Entschuldigungen zu verbergen. Das Böse läge überall unsichtbar auf der Lauer; fähig, jederzeit und unerwartet zuzuschlagen. Es bräuchte weder Auslöser noch Verbrecher. Nur einen ganz normalen, netten Kerl – wie ihren Vater.
Sie sahen sich in die Augen und nahmen wortlos Abschied voneinander. Dann erhob sie sich und verließ den Verhörraum. Verließ ihren Vater und das letzte Bisschen Kindheit.
Seither wartet sie auf einen Brief mit der Antwort auf die Frage, die sie nicht zu stellen gewagt hatte. Und wenn die Sehnsucht nach dem Vater übermächtig wird, legt sie sich eine Hand auf den Kopf und wartet, bis der Schmerz nachlässt.