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War Karl der Große ein Selfmade-Man?

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War Karl der Große ein Selfmade-Man?

War Karl der Große ein Selfmade-Staatsmann?

Vor achthundert Jahren verstarb am 28. Januar 814 zu Aachen der König der Franken, König der Langobarden (was oft unterschlagen wird) und Römische Kaiser Karl, dem die Nachwelt (um die Jahrtausendwende) das Attribut des Großen gab. Er setzte das Werk seines Vaters fort und zimmerte in 46 Jahre währender Regentschaft in blutigen Feldzügen das größte Reich des gesamten europäischen Mittelalters zusammen, wies Omajaden und Dänen in ihre Grenzen und ließ zur Sicherung des Reiches gegen Osten einen Kranz slawischer Tributstaaten legen. Er brachte den störrischen Sachsen das Christentum, wobei auch schon einmal exemplarisch bei Verden an der Aller an einem einzigen Tag 4.500 Sachsen hingerichtet wurden (so sein Biograf Einhard).

Zudem war Karl kein Frauenverächter. Zehn Frauen werden allein genannt und keiner weiß um verschwiegene Namen. Seine diversen Ehen mochten nun politisch oder aus Liebe begründet werden, Karl pflegte nebenher die eine oder andere Beziehung.

Es war buchstäblich ein bewegtes Leben: Karl regierte - wie alle seine Nachfolger im Mittelalter - buchstäblich vom Pferd aus, zog von Pfalz zu Pfalz und erst im Alter wählte er Aachen (nicht nur wegen der warmen Quellen) zu Wohnsitz und Residenz.

Aber Karl war nicht nur ein machthungriger und gewalttätiger Mensch: Er förderte nicht nur die christliche Mission, sondern vor allem kirchliche Reformen. Er zog Gelehrte an seinen Hof, dass sein Hof zum geistigen Zentrum Europas wurde. Karl zog nahezu erbarmungslos wie einen Feldzug eine Bildungsreform durch, die Wissenschaft und Künste nach dunklen Jahrhunderten aufblühen ließen (karolingische Renaissance). Vor allem aber erzwang die Hofkanzlei die einheitliche Schrift: Die karolingische Minuskel wurde fürs gesamte Reich geboren und gilt immer noch mit kleineren Änderungen wie etwa im Laufe des elften Jh., als Majuskeln für Eigennamen, Zeilen- und Satzanfänge entwickelt wurden, um das Lesen zu vereinfachen. Etwas später im Mittelalter wurden die groben karolingischen Buchstaben verschlankt (gotische Schrift).

Gleichwohl steht am Anfang unserer heutigen Schrift die karolingische Minuskel.

Aber wie seltsam beginnt das Buch, dem das alles entnommen ist: „Das folgende Buch ist kein Roman, dennoch eine Fiktion. Sie beschreibt das Bild, das sich der Autor von Karl dem Großen oder Charlemagne macht“, beginnt der Historiker Johannes Fried die Biografie des wohl bekanntesten Enkels Karl Martells.

Müht sich der Belletrist gemeinhin allzu selten, Archive aufzusuchen, um Handschriften zu lesen, die er vielleicht gar nicht entziffern und/oder erst recht nicht verstehen kann oder will, selbst wenn sie in einer alten Fassung seiner Muttersprache verfasst sind, verlässt er sich auf Spezialisten, die ihm das aufwendige Studium abnehmen (im anderen Falle wär er buchstäblich von allen guten Geistern verlassen). Und obwohl er nicht unbedingt sein Wissen erweitert, schmückt er Vorgekautes aus und deutet es nach seiner Interessenlage. Die Mühe des dokumentarischen Puzzles überlässt er dem/den Spezialisten – und Karl der Große (wie seine Vorgänger und Nachfolger) lässt wegen der begrenzten Datenlage der belletristischen Phantasie freien Raum bis hin zur Kaisersage, in denen Karl mit den beiden Friedrich’ der Stauferzeit konkurrieren muss und auf seine Wiederkehr wartet.

Zwar gibt es eine Biografie des bereits oben erwähnten Gelehrten, Einhard (+ 840), aber die „Vita Caroli Magni“ wurde 13 oder mehr Jahre nach dem Tode Karls niedergeschrieben und beginnt mit den Worten „Leben und Lebenswandel meines Herrn und Erziehers und einen Großteil seiner Taten zu beschreiben, habe ich gerne unternommen", also eher wohlwollend als kritisch – wie alle zeitgenössischen Aufzeichnungen mehr oder weniger das Hohelied der Monarchen singen.

Aber Einhard war auch Berater des dritten Sohnes und Nachfolgers des großen Karl, dem nicht nur wegen seiner anderen Sicht der Dinge der Zusatz „der Fromme“ zugesprochen wurde. Nicht zufällig brach im letzten Jahrzehnt Ludwig des Frommen ein blutiger Bruderzwist im Hause Karls aus, der mit der Reichsteilung geradezu wie zu merowingischen Zeiten endete, die Karls Vater – Pippin der Jüngere - 751 mit der Kahlscherung Childerich III. abgeschlossen hatte.

Aber Karl der Große war mehr als das, was er selbst, Einhard oder andere Zeitgenossen hinterlassen haben. Wie beim historischen Roman gilt die Annäherung an gänzlich fremde Zeit und erst recht an uns nur scheinbar fremd (muss man heute wohl so sagen unter fundamentalistischen Wahrheiten) gewordene Charaktere. Wie sollte dem Historiker ein solches Unterfangen nicht möglich sein, fragt sich zu Recht die Zeit [vgl. Die Zeit Nr. 2, 14.01.2014 und http://www.zeit.de/2014/02/karl-der-grosse-biografie-johannes-fried], das Geschäft mit den Biografien – das derzeit boomt – wäre sonst dem Dichter zu überlassen. Tatsächlich gibt es eine wie auch immer geartete „biografische Illusion“ (Pierre Bourdieu), kommt doch die Geschichtswissenschaft und jewede Lebensbeschreibung so wenig ohne theoretische Vorannahmen aus wie alle andere schreibende Zunft. Das schreibende Subjekt kann gar nicht zum beschriebenen Objekt „mutieren“[ebd.], selbst wenn das Mündel Vormund werden will … es bleibt ein anderes Leben, das man nie erreicht, aus dessen Puzzleteilen man aber ein Näherung zusammensetzen kann, ohne dass man vergessen darf, dass es nur Stückwerk bleibt.

All das weiß Fried, und Biografen wie er sind nicht nur Historiker, sondern auch großartige Autoren. Das Verfahren aber steht dem historischen Roman näher als die meisten Historiker zugeben würden. Nicht aber Fried. Seine Lebensbeschreibung „ist subjektiv geformt und gefärbt, auch wenn es die Zeugnisse jener Zeit gebührend heranzieht. Die Tiefe eines Lebens vor 1200 Jahren ist heute nicht mehr auszuloten. So bleibt nur die eigene Imagination. […] Eine objektive Darstellung des großen Karolingers ist schlechterdings nicht möglich.“

Ob man nun in Jubel ausbrechen muss wie die FAZ am 15. 1. d. J. oder auch die SZ schon zuvor, es ist ein großartiges Alterswerk, welches das Zeug zum Standardwerk hat wie Ende des vergangenen Jahrtausends Herwig Wolframs Gotenmonographie oder auch dessen „Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter“. Zu Zeiten Karls kannte man noch keine Selfmade-Männer, wie sie nur ein rezensierende Journaille schafft.

Zitate, so weit nicht gekenntzeichnet aus:

Johannes Fried:
Karl der Große
Gewalt und Glaube
Eine Biographie,
München 2013, 2. Auflage 2014, ca. 740 Seiten

 

Hallo Friedel,

deine Zeilen machen echt Lust darauf, dies Buch zu lesen!
Und schön, dass es mal ausgesprochen wird: Auch der intensivste Umgang mit Quellen erspart nicht die Imagination - inklusive all' ihren Grenzen.
Also, demnächst werde ich der von dir gelegten Spur folgen und mich auf Zeitreise begeben!

Gruß,

Eva

P.S. Nicht Karld ...

 

P.S. Nicht Karld ...

deine Zeilen machen echt Lust darauf, dies Buch zu lesen!
Was mich freut. Weniger freut mich dann der (VER)Tipper oben in der Themenleiste, die ich beim Durchlesen nicht mehr reparieren konnte.

Aber vielleicht haben die Götter ja ein einsehen und löschen den fehlgeschlagenen Buchstaben.

Dank Dir fürs Lesen und Kommentieren, aber auch für den Hinweis


Tschüss und bis bald

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Diese Neigung, sich dadurch zum Ideologen seines eigenen Lebens zu machen, dass man im Dienste einer allgemeinen Intention gewisse signifikante Ereignisse auswählt und zwischen ihnen eine Beziehungen stiftet, um ihnen Kohärenz zu geben ..., findet die natürliche Komplizenschaft des Biographen, der alles, angefangen von seinen Dispositionen des professionellen Interpreten, dazu beiträgt, diese artifizielle Kreation von Sinn zu akzeptieren.
(Pierre Bourdieu)
lieber Friedel,
dank dir für den Hinweis auf dieses Buch, das an Ehrlichkeit nicht überboten werden kann.

Eine objektive Darstellung des großen Karolingers ist schlechterdings nicht möglich.
Was ja nicht nur für Karl, sondern auch für den Rest der Menschheit gilt. Objektivität ist sowieso nur Schein, denn schon die Umsetzung von Wirklichkeit in Sprache birgt ein enormes Informationsdefizit in sich. Das Wichtigste, so möchte ich fast behaupten, steht ja auch nicht in Dokumenten und ist auch oft nicht überliefert. So scheint Geschichts- und Geschichtenschreiben dem Ritt über den Bodensee ähnlich oder der Rettung Münchhausens aus dem Sumpf, man muss nur irgendwie an was glauben, dann geht es schon.
Fröhlichst
Wilhelm
Schau doch mal rein: https://iversity.org/en/courses/karl-der-große-pater-europae

 

Dank Dir,

lieber Wilhelm,

fürs Lesen & Kommentieren. Alles korrekt, was Du sagst, und Habermas' Modell der Intrasubjektivität ist ein kleiner Ersatz für die unerreichbare Objektivität.

Aber ich hätte einen äußerst trivialen Wunsch (Du ahnst es): Könnte das aufgrund eines vorschnellen Fingerschlages zu viel ins Thema hineingeratene lausige "d" beseitigt werden? Der Friedel würde ein glücklicher Mensch ...

Dank Dir und ein schönes Restwochenende vom

Friedel,

der jetzt noch in die vorgeschlagene Adresse schaut ....

 

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