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Rot zu Grau

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16.11.2014
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Rot zu Grau

Wir blicken in den Himmel einer kühlen Novembernacht. Unser Blick wird durch düstere Wolken verdeckt, von denen nur wenige kurz aufbrechen, um einen Blick auf ein Fleckchen Schwarz freizugeben, in dem einige weiße Sterne leuchten. Wenn wir nach unten schauen, sehen wir eine schlafende Kleinstadt, die in das orangene Licht von Straßenlaternen gehüllt ist. Wir schweben über sie hinweg und unter uns ziehen dunkle Häuser vorbei, die in ordentlichen Reihen angeordnet sind und in unregelmäßigen Abständen von einer kleinen Wiese oder einem Spielplatz getrennt werden. Die Fenster der Häuser sind dunkel und die Straßen sind menschenleer. Durch das trübe und schwere Licht der Laternen wirkt die Stadt wie verlassen, allerdings zeugt der Rauch, der aus den Kaminen steigt, von Menschen, die in ihren Betten schlafen, um Kraft für einen weiteren Tag zu sammeln.
Doch nicht alle schlafen. An einer Straßenkreuzung sehen wir einen Jungen, der vor einer hohen Hecke steht. Seine hellblaue Daunenjacke hebt sich von dem dunklen Hintergrund ab. In der linken Hand hält er eine Schnur, die zu einem runden, roten Ballon führt, der über seinem Kopf schwebt und auf den ein kleines Strichmännchen mit lächelndem Gesicht gemalt wurde. Er steht einsam in diesem trostlosen Licht und schaut mit ängstlichen Blick zu seinem Ballon auf. Wir wollen uns ihm nähern.

Der Name dieses Jungen ist David. Er hat heute seinen achten Geburtstag gefeiert, obwohl feiern nicht ganz zutrifft. Er saß mit seinen Geschenken auf seinem Bett und hörte die gedämpften Schreie seiner Eltern durch die geschlossene Tür. Diese Situation ist nichts Neues für ihn, so ist es schon seit er sich erinnern kann. Doch heute wurde es ihm zu viel. Als seine Eltern ihren Streit in die Küche verlegt hatten, schlich er sich kurzerhand aus dem Haus. Das Einzige, das er mitnahm, war sein roter Ballon, der bereits den ganzen Tag über sein Freund und Gesprächspartner war. Er nennt ihn Patrick, wie der rosa Seestern aus seiner Lieblingsfernsehsendung “Spongebob”.
Im Freien war es kalt, aber das störte ihn nicht. Er lief seine Straße entlang und als das Haus, in dem seine Eltern sich wahrscheinlich immer noch anschrien, hinter einer Kreuzung aus seinem Blick verschwand, überkam ihn ein überwältigendes Gefühl der Zufriedenheit, welches ihn seine Sorgen vergessen ließ. Davon angetrieben lief er weiter durch die Straßen und war dabei so unbekümmert, wie jeder andere Junge in seinem Alter. Nachdem er schon an mehr Häusern vorbeigekommen war, als er zählen konnte, begann das Gefühl zu verfliegen und er dachte wieder daran, warum er abgehauen war. Nach und nach drehten sich seine Gedanken erneut um die Dinge, die ihn unglücklich machen. Er blieb stehen, um zu überlegen, was er tun soll.

Hier haben wir ihn getroffen. Ein kleiner Junge, der mit seinem roten Ballon durch die nächtliche Kälte wandert. Nun hält er, und als wir näher kommen, sehen wir, dass sein Blick nicht Angst sondern Trauer ausstrahlt. David hat keine Angst. Er hat den Entschluss gefasst weiterzulaufen, er denkt nicht daran, schon nach Hause zurückzukehren. “Wohin wollen wir gehen, Patrick?”, fragt er, während er noch zu dem Luftballon aufschaut. Seine Stimme klingt ungewöhnlich laut in dieser Stille. Er erhält keine Antwort, erwartete aber auch keine. Patrick spricht nicht, dennoch ist er für David ein guter Freund, mit dem er sich nicht einsam fühlt. Er schaut noch kurz in das lächelnde Gesicht des Strichmännchens, bevor er die Straße in die Richtung weitergeht, die ihn noch weiter von seinem Haus wegführt. Er hat den Spielplatz zwei Kreuzungen weiter als Ziel, dort schickt ihn Mama oft zum Spielen hin. “Wir gehen jetzt schaukeln, Patrick!”, sagt er mit Vorfreude in der Stimme. Der Luftballon schwebt jetzt träge hinter David her und wiegt sich mit jedem seiner Schritte, sodass das Strichmännchen zu Tanzen scheint. David ist noch immer bedrückt, aber die Aussicht alleine auf dem Spielplatz zu sein, hellt seine Stimmung auf. “Ich kann die ganze Nacht lang schaukeln und rutschen! Wir bauen eine Sandburg!”, seine Vorfreude wird größer und mit ihr erhöht sich auch sein Tempo. Er beginnt schneller zu laufen. Zu seiner Rechten ziehen Häuser vorbei, die er aber kaum wahrnimmt. Als er an einem grauen Haus mit großem Vorgarten vorbeiläuft, rast auf der Straße ein Auto vorbei, dessen Fahrer David ebenso wenig Beachtung schenkt, wie dieser ihm. Wir schauen ihm nach, doch sehen nur noch die roten Rückleuchten, die in der Dunkelheit glühen, wie die Augen eines Märchenungeheuers. Sollten noch mehr Autos vorbeifahren, wird eines sicherlich anhalten und der Fahrer wird als vermeintlich guter Samariter auftreten und diesen Jungen und seinen Ballon nach Hause bringen. Darum sorgt sich David aber gar nicht, er hat seine Gedanken auf den Spielplatz fokussiert, den er gleich erreichen wird. Von seinen Freunden hat er gehört, dass nachts Jugendliche auf dem Spielplatz sind und sie diese von ihrem Haus aus Reden und Lachen hören, aber David glaubt das nicht. Warum sollten Jugendliche auf einen Spielplatz gehen und das auch noch nachts?
Jedoch hat er ein bisschen Angst, auch wenn er sich das nicht eingesteht. Diese Angst verfliegt aber sofort, als er den Spielplatz dunkel und verlassen vor sich sieht. Er bleibt einen Moment stehen und wir hören ihn laut und schnell atmen. “Ich geh’ zuerst schaukeln! Komm mit!”, ruft er und zieht an der dünnen Schnur, die den Ballon festhält. Gefolgt von seinem tanzenden Begleiter rennt er über einen Schotterweg auf den Spielplatz zu, taucht in die Dunkelheit und ist nur noch als Silhouette vor dem Umriss einer windschiefen Schaukel zu sehen. Wir bleiben noch einen Augenblick an der Straße und schauen uns um. Vor uns sehen wir einen grünen Eisenzaun, den in der Mitte ein offenes Tor trennt, durch das der Weg, den David gegangen ist, zu einer Wiese führt, auf der sich im Dunkeln die Konturen einiger Spielgeräte erahnen lassen. Wir erkennen die Schaukel, eine Wippe, ein dunkles Rechteck, das wahrscheinlich ein Sandkasten ist, und ein großes Klettergerüst in der Form eines Leuchtturms, an dem sich eine lange Rutsche hinabschlängelt. Wenn man dem Zaun nach links folgt, kommt man an eine umzäunte Wiese, um die sich offenbar jahrelang niemand gekümmert hat. Auf der rechten Seite des Spielplatzes steht ein weißes Einfamilienhaus, das aber von einer blickdichten Baumreihe abgegrenzt wird. Wir schweben über den Weg durch das Tor und tauchen in dieselbe Dunkelheit ein, in die auch David verschwunden ist. Unsere Augen müssen sich erst an die Finsternis gewöhnen, aber nach einigen Sekunden sehen wir die Spielgeräte, die wir von außen nur erahnen konnten. Wir hören ein Knarren und erblicken David auf der Schaukel. Er schwingt langsam vor und zurück und der Ballon, dessen Schnur er noch in der linken Hand hält, wippt über ihm mit. Als wir ihn erreicht haben, hat er ganz aufgehört zu schaukeln. Er blickt auf seine Füße und denkt an seine Eltern. “Glaubst du, Mama und Papa haben schon aufgehört zu schreien? Ich mag das nicht, warum schreien sie sich immer an?”, fragt er ohne aufzublicken. Der Luftballon antwortet nicht. David zieht ihn an der Schnur vor sein Gesicht, nimmt ihn in beide Hände und schaut das fröhliche Strichmännchen an. Ein kurzes Lächeln huscht über seine Miene, gefolgt von einer einzelnen Träne, die ihm über die Wange rollt, um von da auf die rote Hülle des Ballons zu fallen und dort einen Punkt in dunkles rot zu tauchen.

Er denkt an seine Freunde, die er vom Spielplatz und aus der Schule kennt. Ihre Eltern spielen zusammen mit ihnen und nehmen sie mit in Freizeitparks oder ins Kino. David weiß das, er durfte seinen besten Freund Markus und dessen Eltern einmal in den Europa Park begleiten. An diesen Tag erinnert er sich, wann immer er in seinem Zimmer ist und seine Eltern wieder durch die Tür streiten hört. Nur die Hin- und Rückfahrt waren für ihn nicht schön. Markus Eltern erzählten während der Fahrt von ihren Familienausflügen, machten dabei Scherze und lachten. Sie wirkten so unbeschwert und glücklich, dass David immerzu an seine eignen Eltern denken musste, die ihn nie zu solchen Ausflügen mitnahmen, geschweige denn zusammen lachten und Scherze machten. Seine einzigen Unterhaltungen mit ihnen beschränken sich auf das Thema Schule, welche David in der zweiten Klasse wenige Probleme bereitet. Untereinander hört er sie nicht oft normal reden, sie geraten immer aneinander und werden laut. Er erinnert sich an seinen letzten Geburtstag. Er saß mit seinen Eltern am Esstisch, auf dem ein großer Schokoladenkuchen mit sieben Kerzen stand, die er alle in einem Atemzug ausblies. Mama und Papa lächelten sogar und redeten mit ihm über die Geschenke, die er noch bekommen würde. In diesem Moment war er glücklich, weil er ihm normal erschien. So sieht ein Geburstagsmorgen bei Markus zu Hause sicherlich auch aus. Doch nachdem er die Geschenke im Wohnzimmer ausgepackt hat, gingen seine Eltern in die Küche und er hörte, wie Papa wieder laut wurde. Mamas Reaktion blieb natürlich nicht aus und so begannen sie, aufs Neue, zu streiten. Worte türmten sich über Worte auf, ein jedes lauter als das vorherige. Er verstand nicht viel von dem, was sie sagten, aber konnte ‘böse Wörter’ wie “Arschloch” und “Schlampe” hören. Diese kannte er von seinen etwas älteren Freunden. Er weiß zwar immer noch nicht genau, was sie bedeuten, aber wenn sie jemand benutzt, muss er sehr wütend sein, das weiß David. Also ging er leise auf sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Das Interesse an den Geschenken hatte er verloren, der Spaß war für diesen Tag ruiniert. Dieses Jahr lief es fast genauso ab, nur dass seine Eltern sich die ‘bösen Wörter’ nicht für die Küche aufsparten, sondern schon am Tisch in einen heftigen Streit gerieten. Er wurde auf sein Zimmer geschickt, wo er den ganzen Tag verbrachte, bis er sich dazu entschied abzuhauen. Er hatte kein bestimmtes Ziel gehabt, wusste auch nicht wie lange er fort bleiben wollte, er wusste nur, dass es ihm besser gehen würde, wenn er aus dem Haus wäre. Diese Intuition erwies sich als richtig, auch wenn ihn die Unbeschwertheit rasch wieder verlassen hatte.
Den Ballon vor seinen Augen nimmt er nun nur noch durch einen verschwommenen Schleier wahr. Er versucht sie zurückzuhalten, doch er ist acht Jahre alt und schon bald ist sein Gesicht, wie auch das Gesicht seines gemalten Freundes nass von seinen Tränen, die große dunkelrote Punkte auf dem Ballon hinterlassen, als sie auf ihn fallen. Er sitzt minutenlang auf der Schaukel und weint auf seinen Ballon, den er fest an sich drückt. So gerne wir in diese Szene eingreifen möchten, sind wir doch nur Zuschauer und können nichts tun. Nachdem er aufgehört hat zu weinen sitzt er weiterhin auf der Schaukel und legt nun seinen Kopf auf den Ballon. Die Berührung des Ballons gibt ihm ein tröstliches Gefühl und hilft ihm gegen weitere Tränen anzukämpfen. Hinter sich hört er ein leises Rascheln. Wir haben es auch gehört und schauen in die Richtung, aus der es kam. Dort sehen wir aber nur einen blattlosen Busch und die Baumreihe, hinter der das Haus steht, das wir von der Straße aus noch sehen konnten. Auch David schaut nun auf und dreht den Kopf, um hinter sich zu sehen. Wie wir kann auch er nichts erkennen und sagt sich, es sei ein Windstoß gewesen, der das Gebüsch zum Rascheln brachte. Dennoch fühlt er sich nicht mehr wohl auf dem dunklen Spielplatz. Angst mischt sich langsam unter seine Traurigkeit und er will schnell wieder zurück auf die beleuchtete Straße. Als er von der Schaukel aufsteht, hört er abermals ein Rascheln. Wir schauen noch in dieselbe Richtung wie David und war da nicht eine kurze schnelle Bewegung hinter der Baumreihe zu sehen? Schwer zu sagen, es ist sehr dunkel. David hat nichts dergleichen bemerkt und läuft auf das Tor im Zaun zu, hinter dem er die leere aber helle Straße sieht, welche ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Er sieht sich auf dem Weg mehrmals nach der Baumreihe um und lauscht angestrengt, aber ein weiteres Geräusch bleibt aus und als er durch das Tor aus der Dunkelheit hinaus läuft, kommt ihm seine Angst dumm und kindisch vor. Wir beobachten die hohen Bäume noch ein paar Sekunden, aber auch uns fällt nichts mehr auf, also folgen wir David wieder auf die Straße.

“Patrick, wir laufen jetzt wieder nach Hause.”, sagt er und schaut dabei den Ballon an, der jetzt wieder, durch die Schnur in seiner Hand gehalten, über ihm schwebt. Auf ihm machen große, dunkle Stellen auf den Kummer eines Kindes aufmerksam, schreien ihn in die Nacht hinaus. Doch es ist niemand da, um es zu hören.
Das lächelnde Männchen beginnt wieder zu tanzen und wir begleiten David und seinen Ballon auf dem Nachhauseweg. Er fühlt sich müde und die Angst, die er als kindisch abgetan hatte, kehrt allmählich zurück. Sein Bett in seinem warmen Zimmer ist das einzige, woran er jetzt denkt. Nicht lange nachdem er den Rückweg angetreten hat, hört er wieder etwas in der Baumreihe, die jetzt schon einige Meter hinter ihm liegt. Er beschließt sich nicht umzuschauen und einfach weiterzugehen. Um die Angst zu vertreiben, beginnt er die Melodie eines fröhlichen Liedes zu summen, das er in der ersten Klasse oft während des Musikunterrichts gesungen hatte. Wir erkennen es als “3 Chinesen mit dem Kontrabass”, und dieses Lied summend läuft er durch die nächsten zwei Straßen. An der dritten Kreuzung angekommen hört er auf zu summen und bleibt stehen. Stand da nicht jemand hinter dem Baum im Vorgarten des kleinen Hauses zu seiner Linken? Er hat nur aus den Augenwinkeln einen Umriss wahrgenommen, der sich bewegt hat und dann verschwunden war. Als er jedoch abermals hinschaut, sieht er niemanden. Hat er das wirklich gesehen, oder es sich nur eingebildet? Er entschließt sich Letzteres zu glauben und etwas schneller zu gehen, jedoch bewirkt das schnelle Gehen, dass seine Angst sich noch weiter steigert. Er schaut sich immer wieder um und hofft dabei, nicht bei einem Blick nach hinten wieder einen Umriss in der Dunkelheit oder eine Bewegung zu sehen. “Patrick, da war niemand beim Baum, oder? Hast du auch was gesehen? Ich will nach Hause!”, seine Stimme zittert. Er ist wieder den Tränen nahe. Je schneller er läuft, desto größer wird die Angst in ihm, aber er kann nicht anders. Er will schnellstmöglich nach Hause und beginnt zu rennen. Warme Tränen laufen ihm über das Gesicht. Die Angst hat jetzt Überhand von David ergriffen. Sie hat sich zu der Panik eines Kindes gesteigert, das glaubt sich in einem schlimmen Albtraum zu befinden. Er schaut sich nach jedem noch so leisen Geräusch in den Vorgärten oder den Büschen am Straßenrand um, hält seinen Ballon wieder in den Armen und drückt ihn an sich, während er durch die vorletzte Straße rennt, die ihn noch von seinem Haus trennt. Als er ein Knacken hinter sich hört, kann er schon die Kreuzung zu seiner Straße sehen. Das Knacken war direkt hinter ihm und hat sich angehört, als würde jemand auf einen trockenen Ast treten. David sieht voller Schrecken über die Schulter und sieht nur den leeren Bürgersteig hinter sich. Er wird langsamer und dreht sich um, nachdem er schließlich zum Stehen gekommen ist. Außer Atem lässt er seinen Blick von links nach rechts wandern, aber sieht dabei nichts Ungewöhnliches. Hat er sich alles eingebildet? Das Geräusch, das er gerade eben gehört hatte, war unmittelbar hinter ihm. Wenn aber nun nichts zu sehen ist, waren sicher auch der Schatten und die Bewegung am Baum nicht wirklich da. Er lässt den Luftballon los, der aus seinen Armen wieder über seinen Kopf aufsteigt.

“Da war nichts”, diesmal klingt seine Stimme erleichtert, “Patrick, wir sind gleich zu Hause, du musst keine Angst mehr haben.” Mit tränennassem Gesicht setzt er seinen Weg langsam fort, aber er weint nun nicht mehr. Er hat seine Angst mit einer Mühelosigkeit verdrängt, wie sie nur Kindern zu eigen ist. Sein Denken wird nun ganz von Gedanken an sein warmes Zimmer ausgefüllt. Er lächelt, als er an der Kreuzung links abbiegt und sein Haus und das Ende dieses Abenteuers am Ende der Straße sieht. Wir wollen ihm noch bis dorthin folgen und ihn dann dem wohlverdienten Schlaf überlassen, den er nach diesem Erlebnis sicher schnell finden wird. Auf halber Strecke schauen wir zurück und sehen Scheinwerferlicht, das aus der Straße kommt, aus der auch wir gekommen sind. Ein Auto biegt auf die Straße ein und fährt in unsere Richtung. Nun hört David es auch und dreht sich kurz um. Vor einigen Minuten hätte er alles dafür gegeben, dass ein Auto in der Dunkelheit an ihm vorbeifährt und ein freundlicher Nachbar ihn nach Hause fährt. Jetzt aber schaut er dem Auto mit Gleichgültigkeit entgegen, er ist nun schon fast daheim und braucht keine Hilfe mehr. Er läuft weiter und versinkt wieder in Gedanken. Vielleicht haben seine Eltern nicht bemerkt, dass er fort ist und er kann sich unbemerkt wieder in sein Zimmer schleichen. Er kommt an dem Haus seiner Nachbarn vorbei und hört leise Rockmusik aus einem offenen Fenster. Wir hören das Auto beschleunigen. Als es näherkommt erkennen wir einen dunkelgrünen Passat Kombi, der mit mehr als der erlaubten Geschwindigkeit auf uns und David zurast. Wir hören das Quietschen der Bremsen noch bevor der Wagen direkt neben uns zum Stehen kommt. Schneller als David registrieren kann, was passiert, öffnet sich die Fahrertür und zwei kräftige Arme schießen aus der Dunkelheit des Autos hervor. Eine Hand hält ein weißes Tuch, das David ins Gesicht gedrückt wird, die andere umgreift seine Taille und zieht ihn in Richtung der Schatten. Davids Augen schließen sich. Seine linke Hand öffnet sich und der nun befreite Ballon schwebt nach oben, während die Autotür sich mit einem Knall schließt und der Wagen beschleunigt, um so schnell aus unserem Blickfeld zu verschwinden, wie er aufgetaucht war.

Wir folgen dem roten Luftballon auf seinem Weg in den wolkenverhangenen Himmel. Die Schnur, die von keiner Hand mehr festgehalten wird, flattert im sanften Wind. Die Stellen des Ballons, die noch feucht von Tränen sind, nehmen im orangenen Licht der Straßenlaternen die Farbe von frischem Blut an. Das Strichmännchen wirkt nicht mehr freundlich, es scheint uns höhnisch anzugrinsen.
Je höher wir steigen, umso finsterer wird es, und bevor wir den stummen Freund eines kleinen Jungen in den dichten Wolken aus den Augen verlieren, sehen wir nur noch schwarze Punkte auf einem grauen Ballon.

 

Hola Chenault,
Deine Geschichte habe ich mit Spannung gelesen.
Allein die ungewohnte Perspektive - tolle Idee. Kompliment! Schöne Passagen sind dabei und die schönste für mich: "Patrick, wir sind gleich zu Hause, du musst keine Angst mehr haben." Klasse.
Ich freue mich schon auf Deine nächste Geschichte.
Joséfelipe

 

Hallo josefelipe,
ich danke dir für dein Kompliment. Es freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat.

 

Hallo Chenault,

allein die ungewohnte Perspektive - tolle Idee.
ich muss gestehen, dass ich die Perspektive nicht so gelungen finde, sollen das Engel sein?
Ich finde es etwas schade, denn die Geschichte hat auch so viel Potential und braucht meiner Meinung nach nicht auch noch eine ungewöhnliche Perspektive, um zu wirken.
Sehr bedrückend, wie Du die häusliche Situation mit den ständig streitenden Eltern aus der Perspektive des vernachlässigten Jungen beschreibst.
Dieses Jahr lief es fast genauso ab, nur dass seine Eltern sich die ‘bösen Wörter’ nicht für die Küche aufsparten, sondern schon am Tisch in einen heftigen Streit gerieten.

Ja, gute Geschichte, die ich gerne gelesen habe. Schade um die Perspektive...

Gruß Kerkyra

 

Ich finde die Perspektive ziemlich genial. Erstmal sie weckt vom ersten Satz weg Interesse weiter zu lesen. Des Weiteren reflektiert sie gelungen die "Hilflosigkeit" mit der man als Leser die Ereignisse verfolgt, da man am liebsten eingreifen würde, es aber nicht kann. Du zeichnest ein ziemlich gutes Bild von der Szenerie, was durch die Wortwahl wie in "Wir blicken in den Himmel einer kühlen Novembernacht" etc. noch besser zur Geltung kommt.

 

Hallo Kerkyra

sollen das Engel sein?

Es ist ein teilnahmsloser Zuschauer. Wer genau den Jungen nun beobachtet, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.
Ich habe diese Geschichte für meinen Literaturkurs geschrieben und wollte mich von den übrigen etwas abheben. (Was mir gelungen ist)
Danke für deine Kritik.



Hallo Dekon,

danke fürs Lesen und Gefallen.


Grüße
chenault

 

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