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Federleichtes Kettenkleid

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18.11.2014
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Federleichtes Kettenkleid

„Wenn die Sterne in der dunkelsten Nacht am hellsten strahlen, was kümmert einen dann noch der Mond?“
Der Mann mit dem schwarzen Zylinderhut und den roten Handschuhen macht eine einladende Bewegung auf dem kleinen Podest, während die grellen Scheinwerfer die funkelnden Augen der Zuschauer enthüllen. Ein breites Grinsen befindet sich auf den Lippen des Zirkusdirektors, dessen ersten Worte das Publikum lieblich in ihren Bann einfangen. Die gehobenen Mundwinkel wirken nicht pathetisch oder freundlich, sie schauen ganz natürlich aus, als wäre solch ein Gesichtsausdruck die normalste Norm aller Normen der Mimik. Sie verführen an einen verlorenen Ort, der nicht gefunden werden will.
„Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute bei uns willkommen heißen zu dürfen. Ich werde Ihnen Dinge zeigen, die Sie vermutlich noch nie in Ihrem Leben gesehen haben, schöne und auch unschöne Dinge präsentieren, bei denen Sie nicht die Wahl haben werden. Fliehen Sie, solange Sie noch können, denn Sie werden nicht mehr zurückkommen wollen. Sie werden benebelt von mir sein, Gefangene Ihrer selbst und doch frei sein. Sie werden Zuhause ankommen.“
Es klingt nach einer süßen Melodie, die man damals gehört, vergessen und Jahrzehnte später wiedererkannt hat. Sie legt sich sachte wie eine Decke, aber unentrinnbar wie Fesseln um den Verstand des Auditoriums. Das Gewicht könnte die ahnungslosen Zuschauer erdrücken, denn sie glauben dem Mann, der in diesem langen Mantel vor ihnen steht und sein Gesicht halb unter der schwarzen Hutkrempe verbirgt, nicht – sie denken, es wäre reine Rhetorik. Das haben sie nie anders getan.
„Mein Name ist Hypno.“
Für einen kurzen Moment hebt er den Kopf, graue Murmeln blitzen aus den Augenhöhlen auf. „Wir schreiben das Jahr 1898. Ich begrüße Sie noch einmal herzlichst an diesem Ort. Genießen Sie die Show!“

Die leblosen Pupillen und die versteinerten Glieder tangierten ihn jedes Mal nach der Vorstellung aufs Neue. Einige Körper haben eine starre Haltung auf den Sitzbänken eingenommen, andere wälzen sich noch zuckend wie in Agonie auf dem Boden und geben gurgelnde Geräusche von sich, als würden sie gerade erwürgt werden. Der Anschein bestätigt sich durch die sichtbar blauen Geschwüre am Hals derjenigen mit kornblumenblauem Kleidungsstück. An einem Holzmast lehnt ein junger Mann mit blutigen Extremitäten, die an den Knöcheln angeknabbert oder teilweise herausgerissen wurden, sodass weiße Knochen aus dem rötlichen Gewebe herausragen. Ein abgetrennter Kopf, dessen verbrannte Haut und Haare die Schönheit der einst attraktiven Gesichtszüge nur mühevoll erahnen lassen, baumelt von der Zirkusdecke an einem Seil herunter. Nackte Leiber mit geöffneten Bauchhöhlen, aus denen wenige Eingeweide quellen, stapeln sich wie groteske Fleischspieße auf Pfählen.
Es ist schwer zu sagen, ob die Menge tot ist oder unmittelbar davorsteht.
Mittlerweile bewegen sich die Menschengestalten nicht. Ihre Positur ist so unterschiedlich und facettenreich wie Skulpturen, die sich spontan dazu entschieden haben, die Stellung einer Tee trinkenden Dame oder die Fortsetzung eines billigen Horrorfilms einzunehmen. Tatsächlich ist es wahr. Man hat sie wohl in den Zustand, in welchem sie fern jedweder Logik waren, versetzt und ihnen den Bezug zu Wirklichem geraubt. Welches Motiv sie zum Handeln gebracht hat – darauf konnte kein Außensteher Einfluss nehmen. Wie die primitivsten Tiere sind sie mit Brachialgewalt aus dem Käfig unterdrückter Triebe, Ängste und Vorstellungen ausgebrochen, um unter den hellsten Sternen der dunkelsten Nacht ihre Freiheit zu tanzen.
Das Rascheln der zerfetzten Vorhänge und das Bild der Masse und der grellbunten Eintrittskarten, die überall verstreut liegen, mag obszön anmuten, jedoch geht von diesem eine nicht zu verleugnende Wirkung auf den Zirkusdirektor aus. Es beruhigt ihn auf eine Weise, nicht anstößig oder obsessiv. Es erfüllt ihn mit einem Gefühl des Lebens, als wäre er dem Lastwagen, der auf ihn zufährt, knapp entkommen und er würde nun eine Erleichterung verspüren - dass den Leuten etwas geschenkt wurde, das unbezahlbar und einzigartig ist. Etwas, das sie von dem federleichten Kettenkleid aus Lügen und Oberflächlichkeiten getrennt hat:
ihre wahre menschliche Natur.

 
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Hola Hirnkrampf,
Dein Titel verführte mich zum Anlesen. Ungefähr in der Mitte konnte ich bereits nicht mehr - Hirnkrampf!
Pflichtschuldigst habe ich mich zum Ende durchgeekelt und stehe nun vor meiner Hausapotheke. Was nimmt man bei Hirnkrampf? Wenn ich das wüsste! Ich packe die Pillen wieder weg und ziehe weiter zur Hausbar. Es sollte irgendwas Scharfes sein.
Du hättest m.E. die Story unter 'Horror' einstellen sollen, da wäre sie vermutlich gut aufgehoben. Du hast sie mir jedoch unter "Alltag, Gesellschaft, Philosophisches' untergejubelt. I' m not amused. Trotzdem schreibe ich Dir, weil Du ein Talent bist. Du schreibst intelligent und fast fehlerfrei. Lediglich einige Formulierungen sind verunglückt, keine große Sache. Deshalb erhebe ich mein Glas auf das neue Mitglied und auf schaffens- und erfolgreiche Jahre!
Joséfelipe
PS: Der letzte Satz Deiner Geschichte macht beinahe alles wieder gut.

 

Mahlzeit!
josefelipe
Kommentar hat mir den ersten Lacher des Tages gebracht. Danke dafür!
Hirnkrampf
Warst Du in einer Körperwelten-Ausstellung mit Notizblock und Bleistift?

Wenn die Sterne in der dunkelsten Nacht am hellsten strahlen, was kümmert einen dann noch de[r]n Mond?
dessen verbrannte[r weg] Haut und Haare[n weg]
Ist mir jetzt mal so spontan aufgefallen. Ich such noch die Geschichte darin. Als hätte ich den Deckel einer Kiste aufgemacht, reingesehen, Chaos entdeckt, und wieder verschlossen. Ein Fragment aus einem größeren Zusammenhang, so kommt mir das vor. Deswegen fällt es mir sehr schwer, etwas Konstruktives zu schreiben.

Morphin

 

Josefelipe bringt es auf den Punkt, ich saß dabei mit einem Lachsbrötchen vor dem Rechner und es blieb mit fast im Halse stecken, damit hatte ich nicht gerechnet, aber umso bildhafter Dein Schreibstil, sensationell gut, mit wenigen Worten den Effekt zu erzielen, einfach nur klasse!

 

Hallo Hirnkrampf,

herzlich willkommen!

Ein bisschen Nietzsche, oder? Der Mensch ist eine Bestie, und die Moral nur eine Notlüge, damit wir von dem Tierischen in uns nicht zerfleischt werden.
Der Zirkusdirektor hat also die Moral, dieses federleichte Kettenkleid, irgendwie entfernt.

dass den Leuten etwas geschenkt wurde, das unbezahlbar und einzigartig ist. Etwas, das sie von dem federleichten Kettenkleid aus Lügen und Oberflächlichkeiten getrennt hat:
ihre wahre menschliche Natur.
Da würd ich nochmal nachschauen, das ist ein wenig missverständlich formuliert.

Hat mir gefallen!

 

Hej Hirnkrampf,

ich schreib mal beim Lesen mit:

„Wenn die Sterne in der dunkelsten Nacht am hellsten strahlen, was kümmert einen dann noch der Mond?“
Ich versteh das nicht. Bei Vollmond ist die Nacht ist bestimmt nicht die dunkelste.
Also auch als rhetorische Figur versteh ich das nicht.

dessen ersten Worte das Publikum lieblich in ihren Bann einfangen.
Für mich klingt das, als hättest Du dir Mühe gegeben, eine andere Formulierung für "einlullen" zu finden.

Die gehobenen Mundwinkel wirken nicht pathetisch oder freundlich, sie schauen ganz natürlich aus
Freundlich bedeutet idR nicht automatisch unnatürlich. Sag ich mal.

normalste Norm aller Normen der Mimik
Ich find normalste Norm ja schon ungünstig.

Sie verführen an einen verlorenen Ort, der nicht gefunden werden will.
Sie führen an einen verlorenen Ort, der nicht gefunden werden will.

schöne und auch unschöne Dinge präsentieren, bei denen Sie nicht die Wahl haben werden.
Wer will das? Wer will nicht die Wahl haben, bei unschönen Dingen.
Was ich meine: Du präsentierst diesen Zylindermann als eine Art Magier, aber seine Worte sind unmagisch und entlarvend. Wenn es Dir schwer fällt, ihm die richtigen Worte in dem Mund zu legen, würde ich ihn eben mehr agieren lassen.

Fliehen Sie, solange Sie noch können, denn Sie werden nicht mehr zurückkommen wollen.
Das ist herrlich unlogisch.

Es klingt nach einer süßen Melodie, die man damals gehört, vergessen und Jahrzehnte später wiedererkannt hat.
Das damals sollte raus, weil es keine Bezug zu irgendwas hat.

denn sie glauben dem Mann, der in diesem langen Mantel vor ihnen steht und sein Gesicht halb unter der schwarzen Hutkrempe verbirgt, nicht
Ich würd Dir hier vorschlagen:
... denn sie glauben dem Mann nicht, der in diesem langen Mantel vor ihnen steht und sein Gesicht halb unter der schwarzen Hutkrempe verbirgt,

Ich hör hier auf.
Für mich liegt das oft so einen Ticken neben einer möglichen Bedeutung, dass ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und eine Interpretation versuchen will.
Ein federleichtes Kettenkleid ist ein Paradoxon, Lügen und Oberflächlichkeiten sind Konstruktionen, die in bestimmten Zusammenhängen sinnvoll oder zumindest als Strategie wirkungsvoll sein können und ganz verschiedene Ursachen haben.
Mir ist die Aussage am Ende zu pauschal. Trotzdem hab ich's gerne gelesen,

Gruß,
Ane

 

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