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Blau

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29.10.2014
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Blau

Ich betrete mein Zimmer und greife reflexartig zu meinem Handy, das auf meinem Schreibtisch liegt. Meine Leute waren heute schon unterwegs. Dass ich nicht mit ihnen gehen konnte, habe ich nur kurz bedauert. Vielleicht ist es auch besser so, dann spare ich mir meine Kräfte für morgen. Trotzdem muss ich wissen, wie es gelaufen ist. Ein Anruf in Abwesenheit, eine neue Nachricht. Der Anruf ist von Donnie. Ich klicke auf seinen Namen und rufe zurück. Donnie hebt sofort ab:
„Hey Pete, schön, dass du anrufst. Ist alles klar bei dir?“
„Ja, alles klar. Und bei dir? Wie ist es gelaufen?“
„Nicht so prall. Mir geht’s gut, aber sie haben Felix einkassiert. Völlig grundlos. Mann, der Junge hat noch nicht mal was gemacht. Im Eifer des Gefechts haben sie einfach gegriffen, wen sie kriegen konnten.“
„Diese Schweine, verdammt! Hast du noch was von ihm gehört?"
„Ne, nichts mehr. Müssen wir abwarten. Aber wir sehen uns morgen auf alle Fälle, ne?“
„Auf jeden Fall. Das können wir so nicht auf uns sitzen lassen.“
Ich lege auf und denke an Felix. Er ist so ziemlich der umgänglichste Mensch, den ich kenne. Was immer er gemacht haben soll rechtfertigt auf keinen Fall, dass diese Penner sich auf ihn stürzen und einfach mitnehmen. Beim Gedanken, dass er jetzt in irgendeiner Zelle versauert, bahnt sich ein Gemisch aus Wut und Rachelust langsam seinen Weg durch meinen Körper. Und die Leute fragen mich, warum ich nicht zur Polizei gehe, wenn mein Fahrrad geklaut wurde. Als ob ich die um Hilfe bitten würde. Ich kriege Anfälle, sobald ich nur eine dieser blauen Karren irgendwo sehe, geschweige denn, jemanden in seiner scheiß blauen Uniform.
Die neue Nachricht ist von Hannah. Innerhalb von Sekundenbruchteilen ist jeglicher Hass und jegliche Wut wie weggeblasen. Ich brauch nur ihren Namen lesen und schon überkommt mich ein so intensives Glücksgefühl, dass ich mich total benebelt fühle. Worte wie Hass und Wut verlieren völlig ihre Bedeutung. Dopamin-Overkill. Meine Mundwinkel ziehen sich so hoch, dass ich das Gefühl habe, sie treffen sich gleich oben auf der Mitte meiner Stirn, als ich ihre Nachricht öffne und diese einfache Frage auf meinem Bildschirm erscheint: hey, sehen wir uns heute abend? X Hannah. Klar, was für eine Frage. Ja, aber klar, wann magst du vorbeikommen? Bitte so früh wie möglich.
Kurz nach sieben steht sie vor der Tür. Ich mache auf und bin die erste Sekunde genauso erschlagen von ihrer Schönheit wie als wir uns das erste Mal trafen. Ich merke, dass sie das merkt und versuche mich wieder zu sammeln und ganz lässig zu wirken. Ich küsse sie und helfe ihr aus der Jacke. Tja, sowas sehen die Journalisten nicht. „Randalierer“, „Unruhestifter“, „Chaoten“. Da scheine ich ja ein sehr gut erzogener Randalierer zu sein.
Sie setzt sich auf die Couch im Wohnzimmer, während ich eine Flasche Wein hole. Ich schenke uns beiden ein und versuche zu trinken und sie gleichzeitig zu betrachten. Dabei verziehe ich mein Gesicht so ungeschickt, dass mir ein paar Tropfen auf die Hose fallen. Aber ich kann nichts dagegen tun, meine Augen sind wie durch ein unsichtbares Band mit ihren verbunden. Zu sagen, sie sind strahlend blau, wäre die Mutter aller Untertreibungen. Es sind zwei Himmel. Zwei Ozeane, in denen ich regelmäßig versinke, wenn wir so dasitzen. Lange Zeit wusste ich nicht, dass Blau so schön sein kann. Bevor ich Hannah kannte, hatte ich die Farbe nur mit Einschüchterung, Machtdemonstration und Hegemonie verbunden.
Unsere Konversationen beschränken sich häufig auf wenige Worte, was mich überhaupt nicht stört. Ich könnte mich eh nicht richtig konzentrieren, wenn sie mich so anschaut. Oberflächlich betrachtet würde man sie als schweigsam bezeichnen. Meiner Meinung nach jedoch wirkt sie geheimnisvoll. Sie hat es nicht nötig, die ganze Zeit von sich zu reden. Das finde ich sehr erfrischend. Die meisten Leute könnten nämlich den ganzen Tag nichts anderes tun, als über sich zu reden. Ich rede, also bin ich. Vor allem stellt sie nicht die gleichen blöden Fragen wie alle anderen. „Willst du die Polizei abschaffen, oder was?“ „Hast du mal drüber nachgedacht, dass die auch nur ihren Job machen?“ Warum spielt ihr da draußen Krieg?“ Ich kann’s nicht mehr hören. Nachdem die zweite Flasche Wein geleert ist, gehen wir nach oben. Ich fühle mich ihr näher als ich mich je einem Menschen gefühlt habe. Mir fällt es schwer zu glauben, dass irgendjemand für irgendjemand anderen mehr empfindet als ich für Hannah in diesem Augenblick. Wir verschmelzen praktisch. Körperlich und seelisch.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt sie regungslos aber hellwach neben mir. Ihre blauen Augen starren an die Decke, wo ich ein großes Transparent befestigt habe. Sie betrachtet angestrengt das Logo, das darauf zu sehen ist. Eine rote Fahne, die umrundet ist von einem schwarzen Kreis. Hannah wirkt angespannt. Ihre makellose Haut wird von kleinen Sorgenfältchen durchzogen. Es sieht ein bisschen so aus, als müsste sie beim Anblick der Fahne eine Träne verdrücken. Sie bemerkt erst, dass ich wach bin, als ich mit der Hand durch ihr welliges, braunes Haar fahre. Die Anspannung in ihrem Gesicht verfliegt und sie lächelt mich an. „Ist alles ok?“, frage ich. „Ja, aber sicher“, antwortet sie bestimmt. Ich frage gar nicht nach, warum sie so gebannt das Transparent angeschaut hat. Sie würde eh nur versuchen das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Außerdem habe ich gerade keinen Mund frei.

Prinzipiell könnte ich den ganzen Tag hier liegen bleiben. Sie fesselt mich mit ihren Augen. Ich versinke wieder in den tiefsten Ozeanen. Eigentlich muss ich los. Na, ja auf die paar Minuten kommt es nicht an...

Nach einer halben Stunde ist es Hannah, die das Ende dieses traumartigen Zustands herbeiführt und mich wieder ins Hier und Jetzt zurückholt, indem sie sich recht unvermittelt und ruckartig aufrichtet und aus dem Bett steigt. Sie sagt, sie habe noch einen Termin. Den habe ich auch: 13 Uhr Treffen am Hauptbahnhof. Wochenlang haben wir uns auf diesen Tag vorbereitet. Route planen, Transparente beschreiben, Fahnen basteln, Poster kleben und Flyer verteilen. Wir gehen von ca. 3000 Menschen aus, die heute durch die Innenstadt ziehen werden. Davon sicherlich 500-600 sogenannte „gewaltbereite“ Demonstranten. „Gewaltbereit“, noch so ein Wort, wo ich quer durch den Raum kotzen könnte, wenn ich es in der Zeitung lese. Actio und Reactio; Gewalt wird es nur geben, wenn wir keinen anderen Ausweg mehr sehen.
Hannah und ich müssen uns beim Frühstück und im Bad beeilen, damit ich nicht zu spät komme. Sie wird mich nicht begleiten. Zwar respektiert sie meine Einstellung, aber sie zeigt kein großes Interesse, sich persönlich damit auseinanderzusetzen und sich ein Bild zu machen. Was ich wiederum respektiere. Ein langer, intensiver Kuss auf dem Gehweg vor meiner Haustür und dann trennen sich unsere Wege. Sie geht nach rechts, ich nach links.
20 Minuten später komme ich am Bahnhof an. Ich setze mein Cap und die Sonnenbrille auf. Unter dem schwarzen Kapuzenpulli wird mir ziemlich heiß. Die Sonne strahlt ohne Unterlass und ich ziehe den Reißverschluss herunter, sodass der Aufdruck meines T-Shirts zum Vorschein kommt. Antifascista siempre. Ich lasse meinen Blick über die Szenerie schweifen. Köpfe über Köpfe, egal wo man hinsieht. Ein Ozean aus Menschen. Verschiedenste Gruppen geben sich durch ihre Fahnen zu erkennen. Links stehen die Gewerkschaftler, daneben die gemäßigten linken Parteien und überall verteilt einzelne, gemeinnützige Vereine. Ganz vorne, wo der Wagen mit dem riesigen Lautsprecher auf der Ladefläche steht, sehe ich meine Leute. Von oben sähen wir aus wie ein großer, schwarzer Tintenkleks im bunten Ozean. Zuerst gehe ich auf Donnie zu, dessen breites Grinsen unglaublich weiße Zähne zur Schau stellt. Wahrscheinlich wirken sie so durch den Kontrast zum Rest seiner Kleidung. Unsere ausgestreckten Hände klatschen aneinander gefolgt von einem kleinen Stoß mit den Fäusten. Er berichtet mir, dass Felix sich bei ihm gemeldet hat. "Sie haben ihn wieder gehen lassen. Er ist mit einem blauen Auge davon gekommen, im wahrsten Sinne des Wortes." Alle anderen der Gruppe begrüße ich per Handschlag. Nun suche ich mir einen Platz in der vordersten Reihe, um das lange Transparent hochzuhalten, das wir vorneweg tragen werden. Die Stimmung ist ausgelassen. Noch.
Langsam aber sicher rücken die Hundertschaften der Bereitschaftspolizei an. Die Kennzeichen der Transporter offenbaren, dass sie wieder aus dem ganzen Bundesland zusammengetrommelt wurden. Wir machen ein paar Witze über die sich formierende, blaue Wand, aber beim Anblick dieser spüre ich, wie mein Puls schneller schlägt und das Adrenalin sich bereit macht, in die Höhe zu schnellen. Kein Individuum ist zu erkennen. Nur Helme, Visiere und Schlagstöcke. Dies habe ich schon viel zu oft gesehen, als dass ich noch Angst haben würde. Aber die Wut über dieses unverhältnismäßige Schaulaufen ist präsent wie am ersten Tag, als mich die Abenteuerlust zu meiner ersten Kundgebung trieb.
Die Demonstration setzt sich in Gang. Wir laufen ein ganzes Stück auf der Hauptstraße, bis wir vor Erreichen der Innenstadt rechts abbiegen. Alles von Beamten, teilweise mit Kameras ausgestattet, flankiert. Über uns kreist ein Helikopter. Umso länger wir laufen, desto heftiger werden die Auseinandersetzung zwischen einzelnen Cops und Demonstranten. Wir laufen weiter durch verkehrsberuhigtere Bereiche bis wir schließlich links wieder auf die Hauptstraße abbiegen wollen. Die blaue Wand verdichtet sich. „Was ist los da vorne? Wir wollen durch!“ schreit einer von hinten. Mehr und mehr Menschen brüllen Beleidigungen in Richtung Polizei. Die lapidare Antwort eines Beamten per Megafon lautet, dass sich die Pläne geändert hätten und wir aus Sicherheitsgründen nicht weiterlaufen dürfen. Keine besonders überzeugende Begründung. Das findet auch die Menge hinter mir und drückt uns weiter nach vorne. Wir fallen den Cops fasst in die Arme, was sich nicht jeder von denen gefallen lassen will. Plötzlich schlägt einer zu, um die Leute zurückzudrängen.

Actio und Reactio.

Innerhalb von Sekunden eskaliert die Situation. Der schwarze Tintenfleck löst sich aus der Menge und bewegt sich unbeirrbar auf die blaue Wand zu. Die Cops treten uns entgegen. Sirenen heulen auf. Von irgendwoher schreien Menschen. Vor Wut? Vor Schmerzen? Ich kann es gerade nicht erkennen. Einige versuchen abzuhauen, doch aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die ersten zu Boden gerissen werden. Das bestärkt mich nur noch, die Wand durchdringen zu wollen. Ich laufe weiter. Das können wir nicht so auf uns sitzen lassen. Jedoch steigt mir auf einmal ein sehr vertrauter, dennoch abstoßender Geruch in die Nase. Meine Augen füllen sich unaufhaltsam mit Tränen, meine Nase läuft und läuft und ich habe das Gefühl so heftig zu husten, dass sich meine Lunge gleich durch meinen Brustkorb presst. Ich kann die Augen nicht mehr geöffnet halten und torkele blind durch die Menschenmenge. Wie aus dem Nichts spüre ich einen Schlag und krümme mich unweigerlich. Kurz darauf noch einer und ich sacke zu Boden. Ich merke, wie ich über den Grund geschliffen werde und die Geräuschkulisse sich langsam entfernt. Ein paar Minuten später finde ich mich angelehnt an ein Polizeiauto wieder. Vorsichtig versuche ich meine Augen zu öffnen. Einer der gesichtslosen, blauen Gestalten kommt auf mich zu und geht in die Knie, sodass der große Helm genau auf Höhe meines Gesichts ist. Die Gestalt klappt das Visier hoch und völlig unvermittelt überkommt mich ein wohliges Gefühl. Zwei unwahrscheinlich blaue Augen schauen mich an. Zwei Ozeane. Zwei Himmel. Reflexartig lächele ich und empfinde das selbe Gefühl wie heute Morgen. Das Gefühl, dass ich ewig hier sitzen und in diese Augen blicken könnte. Alles ist ganz weit weg. Das Gebrüll. Die Sirenen. Der Lärm. Meine Freunde. Meine Feinde. Schwarz. Blau. Nichts von alledem nehme ich noch wahr. Alles ist still.
Doch die Stille wird vehement durchbrochen. Zunächst vernehme ich ein leichtes Schluchzen, das abrupt stoppt, bevor es ein Weinen werden kann. Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Arme hinter meinen Rücken fixiert sind. Plötzlich vernehmen meine Ohren eine vertraute Stimme. In einem unerträglich neutralem Tonfall sagt sie: „Sie haben das Recht zu schweigen. Sie sind verhaftet, alles was sie sagen kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sollten Sie sich keinen leisten können, stellt Ihnen das Gericht einen zur Verfügung.“ Mir wird schlagartig klar, dass dies die letzten Worte sind, die ich je wieder von ihr hören werde.

 

Hallo Dekon,
die ganze Thematik, die du beschreibst finde ich interessant, wobei mir dein Protagonist mit seinem geschlossenen Weltbild schon ziemlich auf die Nerven ging. Was ich aber wirklich schade fand war, das die Geschichte in dem Moment endet, als schwarz zu weiß wird (oder umgekehrt). Sie haben sich vorher nicht auseinandergesetzt, sie werden es jetzt nicht mehr tun. Tja. Die "große" Liebe entpuppt sich als Luftblase. Er hat sich nicht mal dafür interessiert, was sie beruflich macht. Spannender hätte ich es gefunden, wenn es einen Entwicklungsprozess gegeben hätte.
Aber immerhin, was lernt man aus der Geschichte? Es gibt keinen besseren Weg seine Vorurteile aufrecht zu erhalten, als den Gegner möglichst wenig zu kennen. Und das geht offenbar auch dann, wenn man zusammen ins Bett steigt.

LG Chutney

 

Hey Chutney,

danke für dein Feedback! Eine Entwicklung der Geschichte hätte sicher auch Potential, aber eigentlich wollte ich die Story bewusst mit dem Schockmoment für den Protagonisten enden lassen. Ein abruptes Ende fand ich in diesem Fall spannender als die Beziehung noch irgendwie abzuwickeln.
An Petes Weltbild kam man sich durchaus reiben. Ich habe es absichtlich etwas plakativ herausgestellt, damit sich jeder klar dazu positionieren kann und somit recht unterschiedliche Lesearten entstehen können. Die Lehre, die daraus ziehst, ist zum Beispiel eine davon. Ich wiederum hatte eine ganz andere Idee bei der Entwicklung der Geschichte. Viele "Vorurteile", die Pete hat, werden in der Geschichte ja auch bestätigt. Nur jetzt kommt er eben in ein tragisches Dilemma. Das wird aber nicht seine Meinung über die Polizei ändern.

 

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