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Die Flucht

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22.03.2005
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Die Flucht

Nicht ein einziges Mal hatte der Zug angehalten.
Das Abteil war so langgezogen, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Keine Schiebetüren versperrten die Sicht.
Die Gäste tauchten einfach irgendwann in meinem Blickfeld auf, suchten sich einen freien Sitzplatz und versuchten unbeholfen, ihre Koffer in den Ablagen unterzubringen oder vor sich griffbereit aufzustellen.
Es gelang ihnen nie so ganz. Immer wieder rutschte ihr Gepäck aus der Ablage, und immer wieder fielen die Koffer um, so dass sie sie immer wieder von Neuem aufrecht hinstellen mussten. Ansonsten brüteten sie still und missmutig vor sich hin.
Ab und an stand einer abrupt auf und verschwand den Gang hinunter, kurz darauf setzte sich der nächste an seinen Platz, so als hätte es einen Zwischenhalt gegeben.
Die Strecke kannte ich nicht. Ich war einfach eingestiegen und losgefahren, weit weg, fort von allem, was mich belastete.
Der Zug war schnell wie ein moderner ICE, die Landschaft rauschte nur so vorbei, so dass kaum mehr zu erkennen war als helle und dunkle Schemen.
Ein seltsames Gefühl, sich auf einer rasenden Flucht zu befinden und trotzdem nicht von der Stelle zu rühren.
Keiner hatte sich die Mühe gemacht, die Wände des Abteils zu verkleiden. Überall das gleiche dumpfe Grau, selbst die ausklappbaren Sitze. Es schien, als würde etwas von dem Grau auf die Passagiere übergehen und ihre Präsenzen aufsaugen, bis ich sie kaum noch als Menschen wahrnehmen konnte.
Mein Koffer war zu groß für die Gepäckablage, deshalb hielt ich ihn eisern am Griff fest, damit er nicht umfiel. Er war unhandlich. Hielt ich ihn quer vor mir, waren meine Knie im Weg, und ich musste mich vorbeugen, um ihn zu halten. Längs zwischen die Beine klemmen ging nicht, denn dafür war der Sitz zu niedrig, und ich hätte mich auf ihn setzen müssen. Aber das ging auch nicht, er rutschte andauernd auf dem glatten Boden weg, wenn der Zug bremste oder beschleunigte.
„Entschuldigen Sie“, sagte eine Stimme neben mir. „Wissen Sie, wo der Zug hinfährt?“
Befremdet blickte ich auf. Die Passagiere sprachen nie miteinander. Genauso gut hätte plötzlich mein Koffer anfangen können zu reden.
Zu meiner Rechten saß ein anderer Mann, so durchschnittsgrau, dass er keinen zweiten Blick wert gewesen wäre.
„Was meinen Sie damit: ‚Wo er hinfährt‘?“, stammelte ich.
„Die Endstation auf dem Fahrplan. Ich habe ihn nicht gelesen. Aber vielleicht Sie.“
„Ach, und wieso sind Sie dann eingestiegen?“, blaffte ich. „Wenn Sie irgendwohin wollen, sollte man doch meinen, dass Sie genau wissen, wie Sie dorthin gelangen!“
Daraufhin sank der Mann in sich zusammen. Er wandte sein Gesicht ab, aber die Traurigkeit, die von ihm ausging, war so intensiv, dass es mich überwältigte. Noch nie hatte ein Passagier Emotionen gezeigt. Es war, als würde er plötzlich Farbe ausstrahlen, die ich unendlich vermisst hatte, ohne es zu merken.
„Hören Sie, es tut mir leid. Wissen Sie, ich habe den Fahrplan auch nicht gelesen. Ich bin einfach eingestiegen und losgefahren.“
Tränen liefen über seine Wangen, als er mich wieder anblickte. Ein Mann um die Vierzig, mit strähnigem blondem Haar, mit schmalem glattrasiertem Gesicht, das mir vage bekannt vorkam, ohne dass ich es einordnen konnte.
„Dann sind Sie auch geflohen?“
„Nein, ich … Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden, verstehen Sie? Ich will einfach nur weit weg.“
„Weg von was?“
Etwas in mir zuckte, wollte dem Mann ins Gesicht schlagen, ein anderes Etwas wollte sich in seine Arme werfen, sich ausweinen und alles hinausschreien. „Was geht Sie das an, zum Teufel? Hauen Sie ab und belästigen jemand anders!“
Darauf seufzte der Mann und widmete sich wieder seinem Koffer, und das Grau kehrte zurück.
Mein Koffer schien mit einem Mal noch unhandlicher zu sein. Ich hob ihn an und schlug ihn hart auf den Boden, immer wieder, um meiner Verärgerung Luft zu machen. Wie zum Hohn rutschte er weiter ständig weg. In meiner Wut ließ ich ihn los und trat ihn, und er schlitterte das Abteil entlang über den Boden. Ausgerechnet jetzt musste der Zug eine Steigung hinauffahren.
Fluchend rannte ich ihm nach, vorbei an all den grauen Passagieren, die meine Hetzjagd nicht einmal aufblicken ließ. Das Abteil schien kein Ende zu nehmen und die Steigung auch nicht. Als ich mich schließlich auf den Koffer warf und mich an ihn klammerte, verlor sich der Gang immer noch in weiter Ferne. Wenigstens hörte die Steigung jetzt auf.
Es gab keine freien Sitzplätze auf dem Weg zurück, und auf einem Stehplatz hätte ich den Koffer tragen müssen.
Zum Glück war mein eigener Platz noch frei. Mein Nachbar war leider auch noch da.
„Ein Glück, dass Sie ihn wiedergefunden haben. Ohne Koffer kann man nicht aussteigen.“
Ich ging nicht darauf ein. Trotzdem redete er weiter.
„Eisenbahnen haben mich früher fasziniert. Als Kind. Wie unbeschwert bin ich damals durchs Leben gegangen. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Eisenbahn?“
Meine Kindheit. Ja, ich erinnerte mich. Ich wollte nicht mit diesem Mann reden, ich wollte vergessen. Ich wollte jemanden zum Reden haben, um das Grau zurückzuhalten. Ich wollte reden.
„Ein Geschenk meines Vaters“, antwortete ich. Dieses Thema war unverfänglich. „Eine elektrische, die aber so aussah wie eine von ganz alter Bauart, sogar mit Pfeiftönen.“
„Standen Sie Ihrem Vater nahe?“
Das Unbehagen kehrte zurück. Reden tut gut. Reden ist nicht gut, es lässt alles zurückkommen. Reden tut gut. „Er schenkte mir nicht oft etwas. Je älter ich wurde, desto weniger. Oft hat er gesagt, einem würde im Leben nichts geschenkt. Und wenn er schenkte, dann hatte das immer so eine Botschaft. Bei der Eisenbahn hat er gesagt, die stehe für den Fortschritt, aber auch für das Vorankommen im Leben. Ich müsse auch so etwas wie eine Eisenbahn sein. Aber später, als ich ihn verließ, um wirklich voranzukommen, hat ihm das nicht geschmeckt.“
„Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“
„Nein.“
„Aber wie ist es mit der Mutter? Standen Sie ihr nicht wenigstens nahe?“
Das Unbehagen verstärkte sich. „Doch. Ich glaube schon. Aber wir haben schon ewig nichts mehr voneinander gehört.“
„Das ist doch schade. Ist es denn nicht möglich, das alte Verhältnis wiederherzustellen?“
Ein bitteres Lachen drang aus meiner Kehle. Es wiederherstellen
„Würde ich gern. Aber ich kann ihr nicht mehr unter die Augen treten. Bitte, es ist mir unangenehm …“
„Gibt es denn Fehler, die eine liebende Mutter nicht verzeihen würde?“
Mir platzte der Kragen. „Oh ja, die gibt es. Fehler, die nicht einmal die Mutter einem verzeiht. Oder die Frau. Oder die Tochter oder der Sohn. Fehler, die du niemals jemandem beichten darfst, denn wenn du es tust, bist du für alle Ewigkeit ein Ausgestoßener! Alle, die du liebst, werden dich ansehen, als wärst du der letzte Dreck!“
Meine gebrüllten Worte hallten durch den Gang. Bis auf meinen Nachbarn nahm niemand meinen Ausbruch wahr. Nicht der geringste Schock war seiner Miene anzusehen. Nur Trauer und Verständnis.
„Manchmal tut man Dinge, die schlimme Folgen haben, auch wenn man diese nicht beabsichtigt hat. Es war doch nicht Ihre Absicht, jemandem Schaden zuzufügen? Wie kann es dann unverzeihlich sein?“
Mein Fluchtreflex zuckte wieder, aber seine Worte lösten etwas in mir aus, das ich nie zuvor gespürt hatte.
Nicht Ihre Absicht. Wie kann es unverzeihlich sein?
Mein Damm hatte bereits Risse bekommen, und jetzt wollte das Wasser hindurch.
„Es war ein Verkehrsunfall“, hörte ich mich sagen. „Ich hatte nach einem erfolgreichen Geschäftsessen mit den Kollegen gefeiert. Der Held des Chefs war ich, weil der Erfolg auf mein Konto ging. Statt mir ein Taxi zu rufen, setzte ich mich hinters Steuer. Ich wusste einfach, dass mir heute nichts passieren konnte. Zwischen hupenden Kleinwagen und Lastern bin ich durchgebraust, als gehörte mir die Straße. Dann ging es über eine Brücke. Und dann … Und dann …“
Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Ich war immer der Mann gewesen, der alles im Griff hatte und keine Schwäche zuließ. Der Mann, der seine Familie ernährte und beschützte. Der stark für seine Kinder war und ihnen beibrachte, in der Welt zu überleben.
Ganz besonders schlimm war es, die Kontrolle über meine Emotionen zu verlieren. Das Aufschluchzen, die Tränen, die hervorquollen, ein Gefühl, als müsste das Gemüt sich erbrechen.
Aber es ließ sich nicht zurückhalten. Es war der Preis des Erzählens.
Ich weiß nicht, wie lange ich zusammengesunken dasaß, die Hände an den Griff des Koffers geklammert, und mich in Weinkrämpfen schüttelte wie ein Kleinkind. Mein Nachbar hielt meine Schulter wie ein tröstender Vater, aber es machte mir nichts aus.
Schließlich versiegten die Tränen soweit, dass ich stockend weitererzählen konnte.
„Das Mädchen … sprang ganz plötzlich vom Gehwegstreifen der Brücke. Ich hatte es nicht einmal bemerkt. Ein zweites Kind war dort, mit dem es vielleicht gerade Fangen spielte, ich werde es nie erfahren. Was auch immer sie taten, sie bemerkten nicht, wie ich heranraste. Sie rannte vor meinen Wagen. Ich sehe ihren erschrockenen Gesichtsausdruck vor mir, als wäre es gestern gewesen. Und dann dieser Knall, dieser hässliche dumpfe Knall, ich krieg das nicht mehr aus dem Kopf …“
Die Weinkrämpfe begannen von Neuem, und diesmal legte er mir den Arm um die Schultern und ließ zu, dass ich mich an ihn lehnte, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
„Bist du dann sofort in den Zug gestiegen?“ Nur am Rande merkte ich, dass er die Anrede wechselte.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin stehengeblieben. Im Rückspiegel habe ich sie auf der Straße liegen sehen. Nach dem Aufprall war ich über sie hinweggerollt, sie war zwischen den Rädern. Deswegen habe ich mir eingeredet, sie wäre gar nicht schwer verletzt. Aber dann kam eine junge Frau angerannt, und da war etwas in der Art, wie sie kreischte, da wusste ich, was los war.
Ich hatte plötzlich Panik und fuhr einfach weg, ohne Nachdenken.
Am nächsten Tag habe ich gearbeitet wie ein Verrückter, sogar mein Chef fand das merkwürdig. Als ich nach Hause kam, erwähnte meine Frau eine Meldung aus den Lokalnachrichten, dass auf der Amalienbrücke letzte Nacht ein Mädchen totgefahren worden sei.“
„Und dann bist du in den Zug gestiegen?“
„Nein, nein, ich bin nicht weggelaufen. Ich durfte doch meine Familie und meine Verantwortung für die Firma nicht aufgeben, diese Dinge sind viel zu wichtig, um sie aufzugeben. Niemals durfte ich zulassen, dass mich das auffrisst, das tote Mädchen, das war doch nicht ich, das war ein Unfall, wie er jedem hätte passieren können. Zu Hause gab es eine Menge zu tun, die Wände mussten neu tapeziert werden, der Dachboden musste umgebaut werden, neue, größere Zimmer für die Kinder, ein Kamin im Wohnzimmer. Und in der Firma … da wäre alles den Bach runtergegangen ohne mich, ich musste doch den Deal mit dem Partnerunternehmen abwickeln, ich war der Einzige, der die Abläufe zusammenführen konnte, weil ich sie von meiner Zeit in der anderen Firma am besten kannte. Reingekniet habe ich mich, Überstunden gemacht bis zum Umfallen, und zu Hause ging es gleich weiter. Mein ganzes Leben war nur noch Arbeit. Selbst schlafen konnte ich fast nicht mehr. Egal wie kaputt ich war, ich wollte nicht die Augen zumachen. Denn dann kamen sofort die Bilder zurück.“
Meine Stimme hatte sich immer mehr zu einem Flüstern gesenkt und zu zittern begonnen, aber die Weinkrämpfe setzten nicht mehr ein. Es war, als hätte ich einen Vorrat verbraucht.
Mein Tröster schaute mich wieder an. „Aber wenn du nur gearbeitet hast, was war dann mit deiner Familie?“
„Ich habe doch alles für sie gemacht. Und immer musste ich mir anhören, das wäre nicht genug. Auch vor dem Unfall. Ich sollte mir mehr Zeit für die Kinder nehmen, hat meine Frau gesagt. Sie hatte gut reden, sie hatte ja keine Karriere! Aber danach … Ich konnte keinem von ihnen in die Augen schauen, weil ich Angst hatte, sie könnten dort etwas sehen, was sie verwirrt. Das hätte ich nicht ertragen. Aber sie hat immer wieder davon angefangen, hat sogar gesagt, es wäre noch schlimmer mit mir geworden, dabei habe ich mehr für sie getan als jemals zuvor. Wie konnte sie das nicht sehen?“
Die alte, vertraute Wut fühlte sich etwas besser an als die Verzweiflung vorher. Dennoch war es ein hilfloses Gefühl.
„Was ist passiert?“
„Ich renovierte gerade den Dachboden und kleisterte die neuen Tapeten an. Da taucht meine Frau hinter mir auf und sagt mir unter Tränen, dass sie die Scheidung will.
Sie wisse nicht, was mit mir los sei, aber sie würde sich das nicht mehr länger mit ansehen und die Kinder auch nicht.
Ich kann mich nicht mehr an den nächsten Moment erinnern, aber irgendwie waren meine Hände plötzlich um ihren Hals geschlossen und drückten zu. Da war dieses Entsetzen in ihren Augen, ihr ersticktes Röcheln, das Gesicht, das lila anlief. Es war alles so … unwirklich. Irgendjemand schrie und zerrte an meinen Armen, und ich merkte, dass es mein Sohn war.
Dann ließ ich los und rannte weg. Und irgendwie bin ich in diesem Zug gelandet.“
Eine Weile blieb es still. Der Zug war ein bisschen langsamer geworden, schemenhaft rauschte ein Wohnviertel vorbei, dann eine Brücke.
Mein Begleiter räusperte sich. „Du kannst von Orten weglaufen, an denen dir Böses widerfahren ist. Du gewinnst Abstand, und deine Seele kann leichter heilen. Und irgendwann kannst du vielleicht dorthin zurückkehren und darauf blicken, ohne dass die Wunden wieder aufreißen.
Aber wie läufst du vor etwas davon, das du getan hast? Du lässt die Orte deiner Taten hinter dir, aber die Taten selbst begleiten dich für immer.“
Alles umsonst. Warum hatte ich angefangen, darüber zu reden? Ich war kurz davor gewesen, alles zu vergessen. Ganz bestimmt.
Ein Aufheulen entrang sich meiner Kehle, ein zorniger Schrei, der gegen alles und Niemanden, gegen das ganze ungerechte Universum gerichtet war. Keiner der anderen Passagiere blickte auch nur auf.
Jetzt schaute mir der andere tief ins Gesicht. „Wann, glaubst du, bist du in diesen Zug gestiegen?“
„Was ist das für eine blöde Frage? Ich sitze hier schon seit einer halben Ewigkeit und hantiere ständig mit diesem blöden Koffer herum!“
Es tat gut, ihn anzuschreien. Er konnte für das alles nichts, aber er hatte es aufgewühlt. Ich wollte, dass er errötete, den Blick senkte, sich schuldbewusst abwandte, oder besser noch, dass er kleinlaut und indigniert Protest einlegte, damit ich ihn in Grund und Boden brüllen konnte. Nichts von alldem geschah.
„Das habe ich nicht gemeint. Wann hat deine Flucht begonnen? Nachdem du deine Frau gewürgt hast? Oder vorher?“
Wie läuft man vor etwas davon, was man getan hat? „Vorher“, wimmerte ich. Seit dem Unfall.“
Er nickte auf eine seltsam feierliche Weise. „Das ist naheliegend, nicht wahr? Aber sieh mal aus dem Fenster.“
Der Zug war noch langsamer geworden. Jetzt erkannte ich Einzelheiten: Da waren Häuser, die mir bekannt vorkamen. Eines sah aus wie das meiner Eltern, ein anderes wie der Block, in dem ich als Student gewohnt hatte. Ein Universitätsgelände, einige Bürogebäude. Mein Haus. Und die Brücke.
Sie fügte sich nahtlos zwischen mein Haus und den Büroblock, in dem ich gearbeitet hatte. Es war, als hätte irgendjemand alles zusammen entlang der Bahnstrecke umgesetzt. Die Landschaft dahinter verlor sich in ebenso grauer Düsternis wie der Himmel.
Ein Auto fuhr auf die Brücke, beschleunigte. Flüchtig erkannte ich ein Mädchen, das sich vom Geländer abwandte, dann war die Brücke vorüber. Nach dem Bürogebäude kam wieder das Haus meiner Eltern. Meine Mutter lag in Decken eingewickelt in einem Liegestuhl im Garten, mein Vater stand im Unterhemd am Zaun und starrte vorwurfsvoll herüber.
Dann wieder die Universität, meine alten Arbeits- und Wohnorte, wieder die Brücke. Mein Elternhaus mit meinen Eltern im Garten. Mein jüngst verlassenes Heim, mit meinen Kindern auf der Veranda und meiner Frau, die sich den Hals massierte, und alle schienen mich hinter der Glasscheibe sehen zu können. Wieder das Bürogebäude. Die Universität. Die Brücke. Ich wandte den Kopf zur rückwärtigen Fensterfront. Dort bot sich das gleiche Bild.
„Was ist das hier?“, flüsterte ich, so dünn, leise, brüchig, dass ich meine Stimme selbst nicht wiedererkannte. Das ist ein Traum. Natürlich ist es ein Traum, es kann nur ein Traum sein. Aber irgendwie spürte ich, dass es nicht stimmte.
„Dieser Zug fährt im Kreis.“ Mein Begleiter legte mir die Hand auf die Schulter. „Du hast den größten Teil deines Lebens hier verbracht.
Du liefst vor deinem Elternhaus davon, weil die Pflege deiner kranken Mutter dich Energie gekostet hätte, die du für deinen Aufstieg brauchtest. Auf der Uni hast du getrickst und betrogen, um dich nicht der Möglichkeit des Scheiterns stellen zu müssen. Deshalb bist du nicht stolz, dass du den Abschluss geschafft hast, sondern hast es als Episode betrachtet, die man möglichst weit hinter sich lässt. Du hast auf jedem Arbeitsplatz versucht, deine Kollegen mit Intrigen auszustechen, Erfolge für dich zu verbuchen und Misserfolge auf andere abzuschieben. Dich am Unfallort deiner Verantwortung zu stellen hätte das Scheitern deines Lebenswerks bedeutet, also hast du auch da getan, was du immer getan hast: davonlaufen. Dein ganzes Leben war eine Flucht vor dir selbst. Eine Flucht nach vorn, vor dem Menschen, als der du dich auf keinen Fall sehen wolltest.“
Meine Augen brannten, als ich meine Familie, das Mädchen, und jetzt auch einige geprellte ehemalige Kollegen immer wieder vorbeiziehen sah.
„Dein Koffer“, flüsterte mein Begleiter. „Öffne ihn.“
Mechanisch näherten sich meine Hände den Verschlüssen, die sofort aufschnappten. Im Inneren lag das Lenkrad meines Mercedes.
„Wir alle tragen unseren Koffer immer bei uns,“ sprach der andere mit sanfter Stimme. „Die Verantwortung für uns selbst und alles, was wir tun. Manchmal ist er lästig, und manchmal möchten wir ihn am liebsten irgendwo stehenlassen und vergessen oder über ein Brückengeländer treten. Das geht aber nun einmal nicht, denn er ist ein untrennbarer Teil von uns. Wenn wir ihn verlieren, verlieren wir uns selbst. Hättest du ihn vorhin nicht zurückgeholt, wärst du für immer in diesem Zug gefangen gewesen.“
Ich hatte Angst, die nächste Frage zu stellen. Aber jetzt, am Ende meiner Flucht, war sie unumgänglich geworden. „Was ist das hier für ein Ort?“
Der andere gluckste. „Das weißt du doch selbst. Was hast du als Letztes getan, bevor du hier gelandet bist?“

Nur schemenhaft kehrte die Erinnerung zurück. Warum fiel es mir so schwer? „Ich bin gerannt und gerannt, und dann war ich plötzlich …“
Ja, ein Bahnhof. Ich war halb von Sinnen gewesen. Ich war …
Der Bahnsteig einer U-Bahn. Warten auf den Zug. Quietschen. Scheinwerfer im Tunnel. Fallen lassen.
„Die meisten deiner Sorte können sich nicht gleich daran erinnern.“ Das Lächeln des anderen hatte nichts Spöttisches. Es mischten sich darin Verständnis, Trost, Aufmunterung.
„Ihr denkt immer, wenn ihr euch umbringt, hört ihr auf zu existieren. Deshalb ist es so verwirrend für euch, hier zu landen. Für manche ist es eine endlose Straße durch grauen Nebel oder ein schwarzer Tunnel, andere stolpern durch eine Vulkanwüste. Der Koffer ist für manche ein Beutel, den sie hinter sich her schleifen, für andere ein Buckel, der sie zwingt, gebeugt zu gehen. Jeder Geist findet eine andere Metapher für diesen Ort. Manche, so wie du, nehmen sogar die anderen Seelen wahr, aber sie kommunizieren nicht miteinander. Ihr alle benötigt Anleitung, um euch befreien zu können.“
„Heißt das, du bist ein … ein Engel?“ Ich kam mir furchtbar albern vor, als ich dieses Wort aussprach. Wie ein Kind oder ein abergläubischer Dorftrottel, und ich fürchtete einen absurden Moment lang, mein Begleiter würde in Gelächter ausbrechen.
„Es gibt viele Begriffe für meinesgleichen“, antwortete er, immer noch lächelnd, aber ohne die herablassende Belustigung, die ich selbst an den Tag gelegt hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen. „Letztlich sind wir nur Fremdenführer eurer eigenen Seele. Wir spiegeln die Empfindungen, die tief in euch schlummern, auf euch zurück, damit sie erwachen und euch wieder bewusst werden. Wir regen euch an, darüber nachzudenken, warum ihr hier seid. Ihr haltet euch selbst an diesem Ort gefangen. Dabei müsst ihr euch nur dafür entscheiden, ihn zu verlassen. Der Zug wird anhalten, wenn du es willst. Steig aus und stelle dich allem, was du verleugnet hast, jedem Leid, das du zugefügt hast, jeder Lüge, die du ausgesprochen oder gelebt hast. Dann bist du frei.“
Unschlüssig wog ich das Lenkrad in meinen Händen. Wenn ich den Zug verließ, musste ich durch die Hölle meines Gewissens gehen, und vielleicht würde ich unter den Qualen endgültig zerbrechen. Meine starrenden Geister würden nach mir greifen, das kleine Mädchen mir das Herz herausreißen, wieder und wieder …
Aber ich wusste auch, dass ich mich für den anderen Weg entscheiden konnte, ohne dass mir mein Begleiter es sagen musste. Ein Gedanke, eine Entscheidung, und der Zug würde wieder beschleunigen, bis vor den Fenstern nur noch graue Schemen zu sehen waren. Ein komfortabler Rückzug in den vertrauten grauen Fluchtzustand, und vielleicht hätte ich irgendwann den Mut, den Koffer wegzuwerfen und mich im Vergessen zu verlieren. Bestimmt war ich nicht der Erste, der diese Entscheidung traf, und ich wusste, der Engel oder was auch immer er war, würde sie kommentarlos akzeptieren und fortgehen.
Aber es würde bis in die Ewigkeit andauern. Ich würde hiernach niemals mehr die Kraft finden, den Zug zu verlassen.
„Ich steige hier aus“, verkündete ich. „Vielen Dank für alles. Und leb wohl.“
„Hab Vertrauen. Finde das Gute in dir. In dem, was jetzt kommt, kann ich dir nicht beistehen. Aber wir sehen uns auf der anderen Seite.“
Der Zug hielt, und eine Tür öffnete sich an der Seite. Die Brücke ragte vor mir auf. Das Mädchen lehnte mit ausdruckslosem, verschwommenem Gesicht über dem Geländer.
Ich warf noch einen Blick zurück, bevor ich den letzten Schritt tat. Jetzt fiel mir ein, warum mir das Gesicht des Engels so bekannt vorgekommen war: Es war jenes, das ich mir so lange nicht mehr im Spiegel hatte anschauen können.

 

Hallo Megabjörnie,

Das wird wieder so eine Kritik, wo ich mir nicht sicher bin, wie ich die am besten auf den Punkt bringen kann. Ich versuche es mal.

Handwerklich und sprachlich habe ich hier kaum etwas auszusetzen. Man merkt, dass das jemand mit Schreiberfahrung produziert hat. Es gibt ein paar Stellen, die vielleicht gestrafft werden könnten und ein paar Formulierungen, die ich nicht hundertprozentig passend fand, aber im Großen und Ganzen ist das ein sehr gut lesbarer Text.
Auch die Idee finde ich gut, und die Beschreibung des endlosen Zugs bringt die trostlose Situation des Protagonisten gut rüber.

Trotzdem fehlt mir irgendwas an der Geschichte, aber es ist nicht so einfach, den Finger darauf zu legen. Ich sage mal, irgendein unkonventionelles Element. Es gibt ja viele Geschichten, die sich mit Jenseitsvorstellungen auseinandersetzen und damit, dass Schuld, die man auf sich geladen hat, einen Menschen über den Tod hinaus verfolgt. Und auch wenn sich moderne Varianten davon nicht mehr an alte religiöse Vorstellungen halten, gibt es doch gewisse Konventionen, die man da oft wieder entdeckt. Zum Beispiel, dass dem Protagonisten anfangs nicht klar ist, dass er tot ist. Dass er sich davor fürchtet, auf sein Leben zurückzublicken. Dass es diesen Begleiter gibt, der ihm weiterhilft. Das sind alles so Dinge, die ich wieder erkannt habe, und die mir auch ziemlich schnell klar gemacht haben, worum es hier geht. Auch die Art, wie der Mann sich schuldig gemacht hat - Unfall mit Fahrerflucht, das Opfer ein Kind - wirkt geradezu "klassisch" auf mich. Also die Idee mit dem Zug ist neu, zumindest habe ich die noch nie gesehen, aber das ist halt ein bisschen wie eine neue Tapete - das Zimmer kommt mir trotzdem irgendwie bekannt vor. :)
Es gab in der Geschichte nicht viel, was mich in irgendeiner Art herausgefordert, zum Nachdenken angestachelt hätte. Das erste Mal, dass ich überrascht war, das war als der Erzähler sagt, dass der "Engel" sein eigenes Gesicht hat. Das ist aber eben ganz am Schluss, ich hätte mir gewünscht, dass vorher schon so etwas kommt.

Ich fand irgendwie, dass die Aussage der Geschichte sich sehr stark in den Vordergrund drängt. Der Protagonist wird nicht so richtig lebendig, und ich finde das ist ein Problem, obwohl er ja schon tot ist. :) Der funktioniert hier so ein bisschen als Vehikel für die "Botschaft". Er scheint er stellvertretend für einen bestimmten Typ Mensch zu stehen, ich sehe den nicht als Individuum mit eigener Persönlichkeit. Vielleicht auch, weil alle Menschen in seinem Leben so archetypisch sind - der Vater, die Frau, die Kinder - die haben alle keine Namen und kaum individuelle Details. Da kann man argumentieren, dass seine Erinnerungen verschwommen sind, weil er sich ja den schmerzhaften Details auch nicht stellen will, aber so sieht man als Leser halt auch alles sehr distanziert und entwickelt wenig Mitgefühl.

Und ich hatte auch das Gefühl, die Aussage wird irgendwie überdeutlich. Es gibt hier keinen Interpretationsspielraum, alles steht quasi schwarz auf weiß. Das ist so eine Sache, wo das Pendel auch leicht zu weit in die andere Richtung ausschlagen kann. Also wenn hier alles subtil und rätselhaft und symbolisch wäre, dann würde ich dir vielleicht schreiben: Was ist das denn, ich weiß überhaupt nicht, worauf du hinaus willst, das ist mir zu geschwurbelt :D
Aber eine Art Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen würde ich der Geschichte wünschen ... ich hoffe das klingt halbwegs sinnvoll. :shy:

Ein paar Sätze noch, die aus meiner Sicht eine Kürzung oder Vereinfachung vertragen könnten:

Das Abteil war so langgezogen, dass ich mit dem Auge das Ende nicht sehen konnte
womit denn sonst? :) Das kann weg.

Mein Koffer schien noch unhandlicher geworden zu sein.
Das ist so sperrig, gefällt mir gar nicht ... lässt sich das nicht irgendwie einfacher formulieren? "Mein Koffer schien mir jetzt noch unhandlicher" oder von mir aus "unhandlicher zu sein", dann ist wenigstens das geworden weg.

Ich wollte nicht mit diesem Mann reden, ich wollte vergessen. Ich wollte jemanden zum Reden haben, um das Grau zurückzuhalten. Ich wollte reden.
Es wird schon klar, dass er widerstreitende Gefühle hat und deshalb der direkte Widerspruch da drin ist. Aber es wirkte beim Lesen trotzdem komisch auf mich. Eventuell noch einen Satz mehr, der vielleicht deutlich macht, warum er seine Meinung ändert, so dass es nicht ganz so abrupt kommt.

Das Aufschluchzen, die Tränen, die hervorquollen, als müssten Augen und Gemüt sich erbrechen.
Kann man drüber streiten. Aber ich würde zu dem Vergleich sagen: Kill your darlings. :)

Wie ein Kind oder ein abergläubischer analphabetischer Bauer, und ich fürchtete einen absurden Moment lang, mein Begleiter würde in Gelächter ausbrechen.
drei Adjektive? Ich finde, das ist zuviel für einen Satz.

Grüße von Perdita

 

Hi Perdita!

Erst mal sorry für die lange Rückmeldezeit. ;)

Diese Story war wieder einer von diesen Wettbewerbsbeiträgen ( "In der Bahn" :D ), wo die Ideen immer in einem Spannungsfeld mit der Zeichenbeschränkung stehen.

Kurz vor der letzten Überarbeitung ( in der ich den inneren Konflikt des Prots zwischen Ignoranz und Sehnsucht nach Aufarbeitung stärker zu betonen versuchte ) ließ ich den Text von einem Freund kritisieren, der ebenfalls nicht mitfühlen konnte, weil er die Erzählerfigur "extrem unsympathisch und bösartig" fand, trotz seiner Aufopferung für die Familie.
Das scheint ein Problem vieler meiner Texte zu sein, vielleicht weil in meinem Kopf erst die Themen und Motive Gestalt annehmen, dann erst die Figuren.

Wenn ich aber will, dass dieser Protagonist dem Leser nahegeht, ohne dass die KG zu einem Roman wird ( der z. B. den Prozess zum Inhalt haben könnte, wie der Protagonist seinen Sünden begegnet und sie aufarbeitet ), wird es nicht leicht.
Eine gute Idee wäre vielleicht die Einführung von Namen. Dass man sich vor persönlichen Fragen erst mal vorstellt, ist ja schon eine Höflichkeitsregel. ;)
Dann vielleicht einige detalliertere Episoden aus dem Leben des Protagonisten, die dann aber ihrerseits nicht zu "archetypisch" sein dürfen, sondern individuelle Züge offenbaren.
Harte Nuss, aber es könnte sich lohnen.

Die mangelnde Doppelbödigkeit des Textes werde ich nicht so einfach beheben können. Die Aussage war von Anfang an die zentrale Idee, deshalb ihre Vordergründigkeit. Ich will auch den Text nicht zum reinen Selbstzweck verrätseln. Es sollte die Komplexität des Themas sein, die den Leser herausfordert, nicht das Bemühen um Verständnis des Autors. Die Thematik lässt aber wenig Spielraum für eine Erzählung, in der der Leser selbst einen langen Erkenntnisweg beschreiten muss ( wenngleich das einen großen Reiz für mich als Autor hat ).

Ich geh erst mal mit dem Korrekturbügeleisen drüber und seh dann weiter.

Lg, Megabjörnie

 

Die Jenseits Idee und auch das Fahren in einem Zug nach dem Tod sind ja nicht neu. (siehe. z.B. "Die andere Seite" von Kubin) aber gut fand ich die Idee, dass der Zug für die, die sich nie ihrer Vernatwortung und ihrem Leben wirklich stellen wollten, immer im Kreis fährt. Im Grunde hat Perdita schon alles gesagt und die Auschreibung ist sicher auch längst gelaufen. Trotzdem möchte ich noch hinzufügen, dass durch winziges sichtbar machen der Gesichter des Hauptprotagonisten, und des kleinen Mädchens. Ich finds schade, dass das Mädchen am Ende mit ausdruckslosem, verschwommenem Gesicht an der Brücke steht. Das ist für mich eine verschenkte Möglichkeit, Emotionen beim Leser auszulösen. Warum sehen sie sich nicht an? Es könnte etwas in ihrem Blick liegen. Ein Erkennen, eine Erlösung für beide. So in der Art. Ich würde dann an der Stelle auch nicht schreiben, dass er sich erinnert, wieso im der Begleiter so bekannt vorkam, sondern dass er ein Gesicht in den Augen des Mädchens gespiegelt sah, das seines Begleiters und das, das er solange nicht im Spiegel angesehen hat. Viele Aussagen kommen so belehrend rüber. Der Engel sagt, so und so ist es. Und der Protagonist es so an. Da würde mir eine Abfolge aus zweifelnden Fragen und eigenen Erkenntnissen des Protagonisten, die der Engel bestätigt, besser gefallen.
Am Schluss, wenn er darüber nachdenkt, was er jetzt alles tun könnte, ist mir das etwas zu abgeklärt. Es geht um eine Entscheidung für alles oder nichts. Entweder endlos im Kreis fahren oder sich dem eigenen Wesen und seiner Geschichte endlich stellen. Das ist der zentrale Konflikt der Geschichte, der da über eine unspektakuläre Gedankenabfolge ausgetragen wird. Na ja, ich hab gut reden. bin neu hier und habe noch nict mal etwas eigenes hochgeladen. LG Gabi

 

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