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Ein Jahr
Eisblau. Die Farbe seiner Augen zog mich in ihren Bann. Ich hatte ihn schon oft gesehen, geheimnisvoll und still. Doch niemals hatten wir einander angesehen, wir waren beschäftigt gewesen mit unseren Leben und ich hatte nicht im Traum daran gedacht, dass unsere Wege sich einmal kreuzen würden. Doch ich war dort und er war es auch. So nahm unsere Geschichte ihren Lauf. Wir lernten uns am 1.März kennen. Unsere Blicke kreuzten sich und irgendetwas war da, etwas das uns beiden gefehlt hatte, wir hatten nur nichts davon gewusst. Normalerweise war mein Leben gegliedert und geplant. Normalerweise hatte ich keinen Platz für andere. Doch an diesem einen Tag hatte ich Platz für den fremden Jungen im Buchladen. Denn mit Vincent ist nichts normal, mit ihm ist alles ein wenig anders. Besonders.
Vincent
Sie war immer das Mädchen von nebenan gewesen. Sie wohnte ein paar Straßen weiter, ich hatte sie oft auf dem Fahrrad vorbeifahren sehen. Ich kannte weder ihren Namen, noch wusste ich sonst Etwas über sie. Bis zu diesem einen Tag, dem 1.März. Unsere Blicke trafen sich und sie lächelte mich an. Ich erwiderte ihr Lächeln. Und so kamen wir ins Gespräch, damals, an diesem Samstagmittag in einem kleinen Buchladen. Wir redeten einfach nur, eine Stunde zwischen Bücherstapeln und dem Geruch von frisch bedrucktem Papier in der Nase, zwei weitere in einem winzigen Café, einem Kakao nach dem anderen vor uns auf dem runden Tisch stehend. Ich glaube ich verliebte mich damals noch im Buchladen in Svea. Sie war einfach plötzlich da, in meinem Leben und ich liebte sie. Ich frage mich oft, was passiert wäre, wenn ich mich damals entschieden hätte, ihr Lächeln zu ignorieren. Oder wenn ich in einen anderen Buchladen gegangen wäre. Ich glaube, wir wären uns trotzdem begegnet, irgendwann. Svea und Vincent. Vincent und Svea.
Svea
Der Frühling begann und mit ihm unsere Zeit. Es dauerte nicht lange und wir kannten uns in- und auswendig. Bald kam ein Kuss. Unser Kuss. Unsere Liebe wuchs, langsam aber stetig. Und ich blühte mit ihr. Bei Vincent konnte ich sein, wie ich wirklich war. Ich musste nie nachdenken, was ich sagte oder tat, es gab kein Richtig und kein Falsch, kein Links und kein Rechts, kein Oben und kein Unten. Es gab nur Vincent und mich, scheinbar auf ewig. Manchmal stolperten wir, doch wir halfen uns immer wieder auf und reparierten, was zerbrochen war. Wir konnten kaum atmen ohne einander. Alles war intensiver mit ihm und ich war süchtig danach. Wir liefen barfuß durch den kühlen Tau am Morgen und tanzten lachend im Frühlingsregen. Überall wo wir zusammen waren ließen wir kleines Stück unserer Geschichte, unserer Seelen zurück. Wir waren der Prinz und die Prinzessin der Welt.
Vincent
Svea war meine Vorspeise, mein Hauptgang und mein Dessert in einem. Sie war die Erde auf der ich ging und die Luft die ich atmete. Wenn ich mit ihr zusammen war, dann fühlte ich. Sie zeigte mir die Welt aus neuen Blickwinkeln. Sie war das Stück, das gefehlt hatte. Natürlich war sie nicht das erste Mädchen, das ich küsste. Doch was war ein Kuss schon wert, wenn er nicht von Svea war? Wenn wir am See saßen und zu ihrer Gitarrenbegleitung sangen, lauschte uns die Welt und wenn wir abends fröstelnd mit Wolldecken den Sternenhimmel bestaunten, lauschten wir ihr. War unsere Liebe jemals lauwarm gewesen, so wurde sie langsam aber sicher glühend heiß. Ich war erfüllt von diesem wunderbaren Geschöpf, von meiner Nixe, meiner Piratin, meiner Schneekönigin. Meiner Seelenverwandten. Ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich.
Svea
Mit Vincent erlebte ich den schönsten Sommer meines Lebens. Wir waren Tag und Nacht zusammen. Wir redeten, lachten, küssten, stritten, liebten. Wir lebten. Was im Frühling lauwarm gewesen war, war nun glühend heiß. Ein „Ich liebe Dich.“ und ein Kuss zwischen süßer Eiscreme und sonnengebräunter Haut. Vincent nahm mich auf den Gepäckträger seines alten, roten Fahrrads und wir fuhren zusammen an den Strand. Wir suchten uns eine kleine Düne und saßen dort, wortlos, stundenlang. Unsere eigene kleine Welt aus Sand, Wind und dem Klang des Wassers und der Möwenschreie. Unsere Finger ineinander verschränkt saßen wir dort, während der salzige Wind mit meinen Haaren spielte und sie Vincent ins Gesicht wehte. Doch wir rührten uns nicht, bis die Sonne verschwand, wir hatten Angst, alles würde zerbrechen, wenn wir uns bewegten. Wir wollten nicht aufwachen aus unserem Traum. Vincent und Svea. Svea und Vincent.
Vincent
Im Sommer hatte ich Feuer gefangen. Unser Lachen perlte von den Dünen ab wie das Wasser von unserer sonnencremebeschmierten Haut. Wir redeten über Alles, worüber man reden konnte. Wir lachten über alles, worüber man lachen konnte. Wir dachten über alles nach über das man nachdenken konnte. Wir lebten so intensiv, wie man leben konnte. Und wir liebten so pur und bedingungslos, wie man lieben konnte. Der Sand, den die Gezeiten mit sich nahmen und weit wegtrugen, an Orte von denen wir träumten, trug unsere Namen. Wir liefen am Morgen los ohne Ziel, wir hielten uns an den Händen und waren überall und nirgendwo. Doch jeden Abend kehrten wir zurück und kamen zur Ruhe, zwei rastlose Wanderer, alleine zu zweit. Manchmal setzte Svea sich auf den Gepäckträger meines alten Fahrrads und ich fuhr so schnell, dass ihre Haare um ihr Gesicht züngelten und mir der Wind in den Ohren pfiff. Wir malten unser Leben in den schönsten Farben, die wir finden konnten. Künstler und Muse.
Svea
Zusammen mit der Kälte streckte auch der Tod seine Finger nach uns aus. Ich bekam die Diagnose an einem Samstagmittag. Meine Welt ergraute und meine Gedanken verschwammen. Es war nur noch ein Wort in mein Gedächtnis gebrannt. Ein Name. Sein Name. Vincent. Niemals durfte er mich leiden sehen, ich wusste, er wäre mit mir krank. Und plötzlich stand ich am Ende der Welt und um mich herum bröckelte alles. Meine Gefühle waren ausgelöscht. Es gab nur noch die kalte, schwarze Leere, die sich in mir ausbreitete. Ich schrieb die Worte in die Luft, die ich sagen würde, die mein letztes Glück verjagen würden. Ich sah Vincent in die Augen, als ich die Worte laut aussprach und unsere Glaskugel zersplitterte in winzige Scherben. Ende. Von der Krankheit durfte er nicht wissen, ich musste ihn von ihrer moderigen Schwärze fernhalten. Und so nannte ich ihm keinen Grund, nichts woran er festhalten oder worüber er nachdenken konnte, ich nahm einfach einen Hammer und zerschlug alles, was wir je hatten. Seine Tränen schimmerten und funkelten in seinem Gesicht. Ich wünschte, ich hätte alle unsere Augenblicke eingesammelt und sicher verstaut, damit ich sie jetzt wieder hervorholen könnte. Doch es war zu spät. Es war vorbei.
Vincent
Sie kam Samstagabend zu mir. Ihre Flügel, die vor kurzem noch strahlend und majestätisch waren, waren jetzt grau und gebrochen. Mein Engel war gefallen. Sie überbrachte mir die Nachricht, die ich so sehr gefürchtet hatte, dass ich mir nie erlaubt hatte sie für möglich zu halten. Mein Engel setzte das Paradies in Brand und nannte mir keinen Grund dafür. Sie ging so schnell und leise wie sie gekommen war und ließ mich zurück, inmitten der fliegenden Asche meiner eben noch perfekten Welt, den Geschmack salziger Tränen auf den Lippen. Ich spürte, wie ich fiel, doch ich kam nicht unten an.
Svea
Der Schnee fiel langsam und ich wünschte ich könnte mit ihm auf dem grauen Asphalt schmelzen. Ohne Schmerz und ohne Abschied. Doch viel mehr als das wünschte ich mir Vincent. Ich verzehrte mich nach ihm. Tag und Nacht verschwammen ineinander wie Wasserfarben auf dem Papier. Und dann war er da. Ganz plötzlich stand er vor mir, mein wunderschöner, gebrochener Krieger. Alles verloren Geglaubte kam zu uns zurück. Und so wie wir den Sommer hatten, hatten wir den Winter. Was im Sommer knallbunt gewesen war, war jetzt weinrot und golden. Wir konnten nicht leben ohne einander, dass wussten wir. Doch bald war es Zeit für mich zu gehen. Für immer. Doch diesmal sammelte ich die Sekunden, die unbezahlbaren Sekunden, denn ich wollte sie noch einmal hervorholen können. Wir waren jetzt König und Königin. Ich liebe Dich.
Vincent
Sie war zurück und sie hatte mein Herz mitgebracht. Ich konnte es wieder in meiner Brust schlagen hören. Und wenn wir dalagen, meine Lippen an ihrem Hals, dann schlugen unsere Herzen im gleichen Takt. Dann wollte ich wieder leben. Meine Königin war zurückgekehrt. Endlich.
Svea
Als der Schmerz in meinem Körper zu groß wurde, als dass ich ihn hätte verbergen können, wusste ich, dass es Zeit für mich war. Durch meinen tränenverschleierten Blick konnte ich Finger erkennen, die etwas schrieben. Ich glaube das waren meine Finger. Alle meine Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, Wünsche, Träume flossen durch den Stift auf das Papier. Das letzte war meine Liebe. Doch auch sie ließ ich gehen, sie mischte sich unter die anderen Dinge und bald konnte ich sie nicht mehr erkennen in dem Gemisch meiner Seele auf dem Papier. Auf meine letzte Reise nahm ich nichts mit außer unserer Augenblicke, die ich gesammelt hatte und diese waren nicht sehr schwer, sodass ich beinahe nichts zu tragen hatte. Ich war leer, denn selbst meine Seele hatte ich ihm geschenkt.
Vincent
Ich teile alles mit Dir, Vincent, nur nicht den Tod.
Ich liebe Dich
Ich rannte.
Svea
Hier stehe ich nun, am Rand der Klippe. Unter mir das Meer, grün und schmeichelnd. Es gurgelt meinen Namen. „ Ich komme sofort, ich bin gleich da.“ Und ich packe meinen Koffer aus, ich schließe meine Augen und lasse die Augenblicke frei, meinen gehüteten Schatz und der Wind packt sie und nimmt sie fort.
Vincent
Wehende Haare. Die Welt hält den Atem an. Nein. Nein.
Svea
Ich weiß, dass er da ist. Ich spüre ihn, wie er hinter mir steht. Endlich kann ich gehen. Endlich. Auf Wiedersehen, Vincent.
Vincent
Der Wind. Er erfasste alles und nahm es mit sich. Er griff sich meine Welt, meine Seele, mein Herz. Er zerrte auch an meinem Körper, an meiner Kleidung, meinen Haaren. Er wollte auch mich haben. Mein Verstand wollte mit ihm gehen, um jeden Preis. Doch mein Körper hielt stand, wehrte sich gegen mich. Salzige Tränen. Mehr nicht, mehr war nicht übrig geblieben. Der Wind hatte alles fortgetragen.