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Last Christmas
Am liebsten spiele ich Feliz Navidad. Ich weiß, ich weiß – der Song ist nicht besonders cool. Aber er transportiert mich ohne Umwege an einen palmenbewachsenen Strand in der Karibik, drückt mir ein kaltes Bier in die Hand und lässt das türkisblaue Meer meine Sorgen verschlucken. Leider scheint es den meisten meiner Zuhörer nicht so zu gehen, also spiele ich das Lied nur wenn ich außergewöhnlich schlecht drauf bin. Meine Zuhörer stehen dafür ganz besonders auf Rudolph, The Red-Nosed Reindeer. Nicht gerade mein Favorit, doch ich muss zugeben, der Song ist solide geschrieben und es lässt sich eine ziemlich lässige Blues-Nummer daraus zaubern. Auch dem alten Kracher von Wham will einfach kein Bart wachsen – aber da endet meine Kompromissbereitschaft.
Weihnachten finde ich eigentlich ganz okay. Verbringt man jedoch seine Dezember-Nachmittage überwiegend mit der Gitarre in der Fußgängerzone, kommt einem das vorweihnachtliche Feeling schon einmal abhanden. Menschenfluten pressen sich ungeduldig durch enge Gassen, Glocken läuten zu laut und Lichter scheinen zu grell. Neugierige Kinder grabbeln mit klebrigen Kakao-Fingern an meiner Hose, sich entschuldigende Eltern mit einem Becher Glühwein in der Hand fangen ihren Nachwuchs mit der anderen wieder ein. Letzte Woche hätte der als Weihnachtsmann verkleidete Häuptling eines Junggesellenabschieds beinahe eine Portion halbverdauter Weihnachtsplätzchen in meinem Gitarrenkoffer hinterlassen. Zu seinem Glück konnte einer seiner Freunde – verziert mit goldblonden Löckchen und glitzernden Flügeln – ihn noch rechtzeitig an die Seite zerren.
Als Musiker, dem der große Durchbruch abhandengekommen ist, muss man eben schauen wo man bleibt. Vor ein paar Jahren ging es unerwartet steil bergauf, dann floppte die Platte und ich stand kurz vor der Aufnahme in den Club 27. Ich versuche, das Beste daraus zu machen, und an kühlen Adventsnachmittagen lässt sich in der Fußgängerzone mit wärmender Musik gutes Geld verdienen.
Zumindest dann, wenn man sich geschickt zu positionieren weiß. Mein Platz befindet sich genau zwischen der Haupteinkaufsstraße und dem Weihnachtsmarkt, er ist nahezu windstill und weit genug entfernt vom Kinderkarussell mit der Schlagermusik. Perfekte Bedingungen. Das wissen leider auch alle anderen Künstler und Spendensammler, so dass ich regelmäßig die Konkurrenz verscheuchen muss.
So auch heute. Als ich am frühen Nachmittag meinen Platz erreiche hat ihn bereits eine adrett gekleidete Blondine eingenommen. Die Moralkeule schwingend hält sie eine Rede über das schwere Los eines Waisenkindes im Süden Afrikas und klimpert mit einer Spendenbüchse in der Hand. Von dem neben ihr stehenden Pappaufsteller blickt mich vorwurfsvoll ein dürres Mädchen mit traurigen Kulleraugen an, als wollte es mich ermahnen, auch endlich mal eine gute Tat zu vollbringen und meinen Platz aufzugeben.
Die aufkeimenden Gewissensbisse beiseite schiebend wende ich mich ab und baue mich mit meiner Gitarre direkt neben Blondie auf. Aus vollem Halse stimme ich Rudolph an, lasse meine Finger über die Saiten fliegen, flirte mit meinen Fans – ich gebe alles. Der letzte Akkord hängt noch in der Luft als die kleine Menschentraube um uns herum in Applaus ausbricht. Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Wie immer, denke ich, und bedanke mich überschwänglich bei der jubelnden Menge. Als jedoch die ersten meinen offenen Gitarrenkoffer ignorieren und Blondies Spendenbüchse zu füttern beginnen schwant mir Übles. Ich fühle wie mein Grinsen sich zur Grimasse wandelt. Blondie jedoch sieht ihre Chance gekommen, fängt wieder an von den armen Waisen zu plappern und schüttelt die Büchse. Ganz so einfach würde es also nicht werden.
Ich räuspere mich laut bis Blondie mich ansieht. „Also, Kleine, hör mal zu“, setze ich an, „du siehst ja – das hier ist mein Platz, man kennt mich hier. Das konntest du natürlich nicht wissen. Aber jetzt solltest du dir lieber deine eigene Ecke suchen.“
Blondie verzieht den Mund und schaut mich einen Moment lang ungläubig an. Dann fängt sie an schallend zu lachen. „Klar, gar kein Problem“, prustet sie. „Hast du sonst noch einen Wunsch?“
„In der Tat“, schnaube ich. „Zum Beispiel würde ich ganz gern mal deine Genehmigung sehen. Werbung für politische Anliegen in der Fußgängerzone, da schaut die Polizei gern genauer hin. Ganz besonders vor Weihnachten! Du hast doch sicher eine Genehmigung, oder?“ Ich tanze auf dünnem Eis, ich weiß, aber über die Schiene konnte ich schon so manchen Konkurrenten vergraulen.
Leider lässt sich Blondie nicht so leicht beeindrucken und strahlt mich an. „Die zeig ich dir gern. Aber erst will ich deine sehen. Na?“ Erwartungsvoll zieht sie die Augenbrauen hoch. Selbstverständlich habe ich keine Genehmigung, die ich ihr zeigen könnte, und so starre ich einfach leicht belämmert zurück.
„Das dachte ich mir.“ Blondie zuckt mit den Schultern, lässt mich links liegen und widmet sich wieder ihrer Ansprache. Klappernd schüttelt sie die Spendendose.
Als ich meine Fassung wiedergefunden habe spiele ich noch zwei, drei erfolglose Songs bevor ich für den Rest des Tages das Handtuch werfe. Ich packe meine Gitarre in den gähnend leeren Koffer. Das letzte Wort ist noch nicht gefallen, Schätzchen, denke ich, mache einen Schnappschuss von Blondies Pappaufsteller und rausche von dannen.
Auf dem Heimweg habe ich mir bereits einen Schlachtplan bereitgelegt und klemme mich zuhause angekommen direkt hinter meinen Computer. Studenten für Afrika lese ich auf dem Schnappschuss des Pappaufstellers. Die Internetseite der Truppe ist schnell gefunden. Wir leisten Hilfe für Kinder in Südafrika und Namibia und fördern den aktiven Kulturaustausch. Wieder meldet sich mein schlechtes Gewissen und ich klicke schnell weiter zu den Teammitgliedern, worunter Blondie jedoch seltsamerweise nicht aufgeführt wird. Dafür finde ich die Daten des Projektleiters, Ethnologie-Professor Vogt. Er hat graue Haare und ist glatt rasiert, auf dem Foto wirkt er selbstsicher und agil. Ich atme tief durch, dann wähle ich die angegebene Telefonnummer. Vogts Sekretärin nimmt ab und ich lasse meinen Anruf durchstellen.
„Vogt.“ Seine Stimme ist unerwartet hoch und kratzig.
Ich räuspere mich. „Guten Tag, Polizeioberkommissar Kühn hier.“
„Polizeioberkommissar Kühn, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
„Sie sind verantwortlich für Studenten für Afrika, bin ich da richtig informiert?“ Hoffentlich kann Vogt mir meine Nervosität nicht anhören. Reiß dich zusammen, man.
Der Prof wirkt verdutzt. „Ja, das ist richtig. Warum fragen Sie?“
„Bei uns ist eine Beschwerde wegen einer übereifrigen Spendensammlerin in der Fußgängerzone eingegangen. Eine ihrer Studentinnen, blond, mittelgroß, hat ihren Namen nicht verraten. Heute Mittag war sie in der Fußgängerzone unterwegs, hat aggressiv für Ihre Organisation geworben und dabei die Passanten belästigt. Es wäre schön, wenn sie ihre Teammitglieder etwas besser unter Kontrolle behalten könnten.“
Vogt macht eine Kunstpause, dann poltert er los: „Wovon zum Teufel reden Sie da überhaupt?“ Oh, oh, denke ich. „Unser letztes Projekt haben wir schon im November beendet und das nächste beginnt erst im neuen Jahr“, echauffiert er sich. „Keines meiner Teammitglieder hat heute Spenden gesammelt und schon gar keine Passanten angepöbelt!“ Ich setze zu einer Entschuldigung an, aber Vogt ist in Rage und nicht zu bremsen. „Wenn Sie mal in Ihre Akten schauen, fällt Ihnen sicher auf, dass wir vor Wochen einen Informations-Aufsteller als gestohlen gemeldet haben. Wissen Sie eigentlich was so ein Ding kostet? Vielleicht sollten Sie sich mal damit beschäftigen! Guten Tag!“
Vogt hat aufgelegt, das Telefon tutet und tutet laut in mein Ohr und ich starre mit offenem Mund Löcher in die Luft.
Als ich am nächsten Nachmittag mit meiner Gitarre an meinem Stammplatz erscheine ist Blondie schon da. „Schön dich zu sehen, Kleine“, begrüße ich sie gut gelaunt, aber sie antwortet nur mit einem skeptischen Blick.
„Ich habe gestern mit deinem Prof gequatscht“, plaudere ich drauf los. „Witzige Geschichte. Der wusste gar nicht, dass du unterwegs bist und sammelst.“
„Ich habe keine Ahnung wovon du redest“, antwortet Blondie salopp und klingt doch längst nicht mehr so souverän wie zuvor.
„Wie auch immer.“ Ich zucke mit den Achseln. „Frohes Sammeln noch“, wünsche ich ihr und ziehe weiter. An einem annehmbaren Fleckchen in Sichtweite – etwas zu windig, etwas zu nah am Karussell, aber was soll's – packe ich meine Gitarre aus und starte mein Unterhaltungsprogramm.
Ich mache erst Feierabend als es längst schon dunkel ist. Anstatt nachhause zu gehen setze ich mich in ein nahegelegenes Café und stärke mich mit wässrigem Kaffee und Kuchen. Durch die große Glasfront beobachte ich Blondie. Beflissen und wild gestikulierend klärt sie gestresste Großstädter darüber auf, dass es nicht alle so glücklich getroffen hat wie sie. Im blassen Funkeln der bunt beleuchteten Schaufenster wirkt sie irgendwie weihnachtlich.
Erst als die Menschenströme zu dünnen Rinnsalen werden und die ersten Geschäfte ihre Türen schließen beendet auch Blondie ihren Arbeitstag. Sie klappt den Pappaufsteller zusammen, hängt sich ihre Tasche um und stiefelt los. Hastig trinke ich den letzten Schluck Kaffee aus, werfe einen Geldschein auf den Tischen und sprinte los. Mit einigen Metern Abstand folge ich ihr. Wir ziehen am Weihnachtsmarkt und dem gewaltigen Tannenbaum vorbei durch bunt dekorierte Straßen und Wege bis wir den Hauptbahnhof erreichen. Blondie geht geradewegs hinein, und ich hinterher. Es fühlt sich surreal an einer Unbekannten durch die hell ausgeleuchtete Bahnhofshalle hinterher zu schleichen. Vogt hatte Recht, denke ich, was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Plötzlich biegt Blondie um eine Ecke und macht an den Schließfächern halt. Hinter einer Säule versteckt beobachte ich, wie sie aus einem der Fächer einen kleinen Koffer zerrt und den Pappaufsteller sorgfältig darin verstaut. Sie schließt ab und lässt den Schlüssel in ihrer Tasche verschwinden.
Mir ist alles andere als wohl zumute, dennoch schaffe ich es nicht, einfach nachhause zu gehen. Stattdessen folge ich Blondie aus dem Bahnhof heraus bis in eine schäbige Wohngegend, wo sie im Hinterzimmer eines kleinen Kiosks verschwindet.
Ich weiß nicht mehr so recht, wie ich danach nachhause gekommen bin. Möglicherweise habe ich einen Umweg über meine Stammkneipe gemacht. So komme ich heute später als üblich an meinem Stammplatz an. Blondie ist natürlich schon da und klimpert eifrig mit der Dose. Als sie mich kommen sieht verfinstert sich ihr Blick.
Ich gehe an ihr vorbei, weiter zum Weihnachtsmarkt. Mit zwei Bechern Glühwein komme ich wenig später zurück. Blondie blickt mich fragendend an.
„Wir hatten vielleicht nicht den besten Start“, murmele ich und biete ihr einen Becher Wein an. „Ich bin Oliver.“
Zögernd nimmt sie mir den Wein aus der Hand. „Danke“, sagt sie. „Ich bin Lexa.“
Dann stelle ich mich neben sie, stelle meinen Gitarrenkoffer hinter mich und fange an Last Christmas zu spielen. Irgendwie ist mir danach.