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Nicht der Rede wert
Eines Morgens stapfte ich mal wieder die Treppe zur U-Bahn hinunter und stellte mich in die Reihe der anderen Wartenden. Links neben mir stand eine junge Frau, die vertieft auf ihrem Handy strich und tippte. Rechts ein Mann im Anzug. Dahinter stand die junge Mutter mit ihrem quengelnden Kleinkind an der Hand, wohl auf den Weg zur KITA - dort eine Gruppe Jugendlicher, die allesamt mundfaul und jeder für sich, auf ihren Handys daddelten. Ich selbst war geprellt von der viel zu kurzen Nacht und genervt vom grellen Licht. Besonders aber von dem Gedränge, wenn jemand anderes sich z. B. an mir vorbeischob oder die Frechheit besaß, sich direkt vor mich zu stellen. Eigentlich war es ganz ruhig. Nur das Genörgel des Kindes hallte ab und zu durch die Station. Die Mutter zischte ihrem Sohnemann hin und wieder etwas zu.
Dann durchbrach ein Geräusch die Stille. Das Kind verstummte. Zuerst noch weit weg kam das Klopfen, dieses regelmäßige Klacken, immer näher. Einige Köpfe drehten sich bereits in die Richtung des herannahenden Mannes. Auch ich sah ihn jetzt, diesen großen, blonden Mann mit seinem Rucksack, der sich recht zügig am Bahnsteig entlang „tastete“. Auffällig dabei, sein erhobenes Gesicht und der Stock mit dem er weit ausholend den Boden erkundete. Schon kam Bewegung in die Menge. Menschen wichen aus und verdrückten sich langsam aber sicher, in die zweite oder dritte Reihe. Die mit den Handys in den Händen strichen nach einem kurzen Blick auf dem Mann noch intensiver über ihr Display, einige, die ihr Handy noch in den Taschen hatten, zückten es spätestens jetzt. Der blinde Mann lief unterdessen unbeirrt weiter, orientierte sich jetzt an dem Kiosk, indem er seinen Stock gegen den Zeitungsständer dengelte. Dann blieb er stehen, mit dem Gesicht Richtung Gleis und wartete.
Die Bahn fuhr ein. Die Aussteigenden und Einsteigenden quetschten sich aneinander vorbei. Der Blinde "hangelte" sich klopfend mit dem Stock, an der Flanke des Wagens entlang. Abfahrbereit standen die Leute im Zug, hatten einen Sitzplatz oder einigermaßen guten Stehplatz ergattert und starrten zu Boden, zur Decke, aufs Handy oder in die Zeitung. Wartend auf den Mann, der jetzt auch endlich einstieg, sich den Platz an der Tür gesichert hatte und sich am Griff festhielt.
Einige Tage später, bekam ich in einer anderen U-Bahnstation die Gelegenheit etwas anderes für mich daraus zu machen. denn wieder schritt ein blinder Mann am Bahnsteig entlang an einem Pulk vorbei, die genauso reagierte wie Tage zuvor. Nämlich ängstlich und zögernd. Beim Einfahren des Zuges sprang ich tatsächlich über meinen Schatten und ging auf den Mann zu. Ich richtete meine Stimme an sein Ohr und fragte ihn:
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Der Mann nickte. Ich nahm ihn am Arm und führte ihn zur Tür.
Der Mann bedankte sich und ich entgegnete ihm:
„Nicht der Rede wert.“
Als eine Frau die Aktion bemerkte, unterstützte sie mich plötzlich, indem sie die andere Seite des Mannes ergriff und mit der ausgestreckten Hand versuchte, im Wagen etwas Platz zu machen. Aber das war gar nicht nötig, denn die allermeisten waren jetzt von selbst bemüht, dem blinden Mann Platz zu machen. Plötzlich sahen alle auf den Mann mit dem Stock. Sogar ein Sitzplatz wurde ihm angeboten. Das Herdenverhalten hatte eine Wendung genommen, weil jemand wie ich und die Frau anders reagierten als die Menge.
Als ich davon später den Kollegen und Bekannten erzählte, gab es dazu keinen Kommentar. Denn so etwas sei nichts Besonderes und selbstverständlich. So etwas ist einfach - Nicht der Rede wert. Da schämte ich mich.