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Schlaflied eines Engels

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22.12.2014
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Schlaflied eines Engels

Die alte Frau grüßte den Raben, so wie immer. Natürlich grüßte sie ihn nicht wirklich, das hatte sie in dem ganzen langen Jahr hier im Wald nicht erlernen können. Stattdessen nickte sie ihm zu und er krächzte, sein Gefieder spreizend, zurück. Es war wirklich eine Schande, dass sie es in all der Zeit nicht geschafft hatte, sich mit einem der Tiere zu unterhalten. Selbst die kleinsten der Tiere vollbrachten dies und spielten mit ihren Artgenossen. Nur ihr war das nie möglich gewesen. Wie auch?

Und an manchen Tagen, wenn die Vögel fröhlich untereinander zwitscherten, die jungen Füchse miteinander spielten und die Fische in riesigen Schwärmen unterwegs waren, fragte die einsame alte Frau sich, ob sie wirklich in diesen Wald gehörte.
An solchen Tagen des Zweifels und manchmal der Verzweiflung – und heute war ein solcher Tag – wanderte sie quer durch den schier unendlichen Wald an die Lichtung. Diese besondere Lichtung war eine der sehr seltenen im Wald; sie war sehr geräumig und sah gerade jetzt im Winter zauberhaft aus.

Doch weder der vereiste Fluss noch die von dort zu sehenden gewaltigen Berge machten die Lichtung so besonders für die alte Dame. Es war dieser Ort gewesen, an dem sie vor nun über einem Jahr ohne jede Erinnerung aufgewacht war.
Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war und sie wusste nichts von dem, was sie vorher je gemacht hatte. Sie sah die Rehkitze im Sommer aufwachsen und fragte sich, wer ihre Eltern waren. Sie sah Vögel im Herbst davonfliegen und fragte sich, ob es auch eine Welt außerhalb des Waldes gab. Sie sah Igel Futter für den Winter horten und fragte sich, warum sie nichts essen musste. Nichts von alledem wusste die Frau, aber eines war sie sich immer gewiss: Sie war alt – und sie war einsam.

Als diese alte einsame Frau sich also an dem heutigen Wintertage zu der Lichtung im Wald begab, an der für sie alles begann, da wurde ihr bewusst, dass es auch hier enden würde. Viele Tiere hatte sie sterben sehen und viele andere Tiere um sie trauern. Dies war ihr erster Winter hier und es würde auch ihr letzter sein, aber trauern würde niemand. Denn außer ihr gab es keine solchen Wesen in dem Wald.
Während die Frau nun alleine auf der großen Lichtung stand, wirkte sie im Vergleich zu den jahrhundertealten Tannen klein und jung. Dennoch war ihre Lebenszeit bald aufgebraucht und vielleicht war dieser Tag schon heute. Bei dem Gedanken schlang die Frau die Arme um ihren zitternden Körper, der von kaum mehr als einem Tierfell bedeckt wurde und eine brennend heiße Träne schlich sich ihre kalte Wange hinunter. Zu der Träne begab sich eine zweite und dritte, die geräuschlos auf den Schnee neben ihren nackten Füßen tropfte.

Schon bald musste ihre Sicht verschleiert gewesen sein, denn als sie aufblickte, sah sie etwas ganz und gar Unglaubliches.
Dort, am anderen Ufer des gefrorenen Flusses, stand ein Wesen, welches die Frau noch nie gesehen hatte. Es sah beinahe aus wie sie selbst, nur dass breite weiße Flügel aus seinem Rücken wuchsen und es ein seltsam magisches Licht umschien.
Plötzlich tauchte ein Wort in ihren Gedanken auf, das wie für dieses Wesen gemacht schien. Engel. Und dann noch ein Wort und ein vages Bild der Erinnerung, die wieder verschwanden, bevor sie diese greifen konnte.

Der Engel währenddessen breitete seine Arme aus und lächelte sie an. Es wirkte wie eine Einladung, zu ihm zu kommen und die Versuchung war groß. Doch der Fluss würde sie nicht tragen, sie hatte es bereits früher ausprobiert. Das Eis war zu zerbrechlich, der Fluss war tief und kalt und erstreckte sich fast durch den ganzen Wald. Es war unmöglich, den Fluss von hier zu überqueren.

„Ich kann nicht“, rief die alte Frau dem Engel mit brüchiger Stimme zu, die lange nicht benutzt worden war.

„Doch, du kannst“, antwortete der Engel.

Als er das sagte, da machte das Herz der Einsamen einen Hüpfer. Nicht wegen dem, was er gesagt hatte, sondern weil er mit ihr sprach. Da überwog die Freude und die Hoffnung so sehr, dass sie es wagte, einen Fuß aufs Eis zu setzten. Ihr Herz schlug aufgeregt, vielleicht schneller, als es für ihr Alter gut war, aber das Eis brach nicht. Erleichtert setzte sie auch den zweiten Fuß auf das Eis.

„Nicht! Lass mich dich holen“, rief der Engel entsetzt, doch er war zu langsam.

Unter den Füßen der Frau krachte es und bevor sie reagieren konnte, hatte die Strömung sie bereits bis zu ihren Schultern unter Wasser gezerrt. Schlimmer als tausend Stiche schlug das bitterkalte Wasser auf ihren zerbrechlichen Körper ein und sie stieß einen Schmerzensschrei aus.
Innerhalb von Sekunden war der Engel zu ihr geflogen und packte sie. Doch anstatt sie aus dem Fluss zu ziehen, schloss er die Augen und legte eine Hand an ihre Wange. Erst war sie entsetzt darüber, dass der Engel sie nicht vor dem sicheren Tod retten wollte, doch dann packte sie plötzlich Schwindel. Der Wald um die beiden herum schien sich rasend schnell zu drehen, bevor er auf einmal verschwand und an seiner Stelle fremde Bilder in den Kopf der Frau traten.

Es waren Bilder von Menschen, die genauso aussahen wie sie, Bilder von Menschen. Menschen, wie sie in Kind in den Armen hielten, Menschen bei der Arbeit und Menschen in ihren Häusern. In rasanter Geschwindigkeit sah sie, wie das Kind aufwuchs. Sie beobachtete es lachen und weinen, spielen und leben. Als es immer älter wurde, die Haare grau und das Gesicht faltig, da begriff die Frau auf einmal, dass sie dieser Mensch war. Dieser Mensch mit seiner Familie, seinen Freunden, seinem Leben und auf einmal verstand sie.
Es war, als würde eine unsichtbare Hand die ihre ergreifen und sie durch ihre Erinnerungen führen, dabei auf alle Puzzleteile zeigend, sodass sich am Ende ein Bild ergab. Und als sie dieses Bild in seiner Gänze sah, da wusste sie auf einmal. Nicht nur, wer sie war und wo sie herkam, nein. Es gab so viel mehr, so viel Großes, Unglaubliches auf der Welt und Anna wusste es in diesem Moment alles. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie meinte, ihr Herz müsse platzen.
Da schien der Engel zu merken, dass es genug war. Er nahm seine Hand von ihrer Wange, wisperte „Leb Wohl“ und die Welt wurde schwarz. Doch es war kein beängstigendes Schwarz, denn Anna hörte liebevolle Stimmen singen und sie wusste, dass es die Stimmen der Menschen aus ihren Erinnerungen waren. Sie klangen tieftraurig und gleichzeitig so sanft, als würden sie jemanden in den Schlaf singen.

Verlässt du uns heute Nacht,
geben wir auf dich Acht.
Legst du dich heut zu Ruh,
machen wir deine Augen zu.

Und doch sind wir noch nicht bereit,
es ist Weihnachtszeit ...
Ist es wirklich schon so weit?
Es ist Weihnachtszeit ...

Darum beten wir,
dass Unmögliches geschieht.
Darum stehn wir hier
Und singen dir ein Lied.

Als die letzte Silbe des Liedes verklungen war, wurde Anna klar, warum ihr der Engel jene Bilder gezeigt hatte. Ihr wurde klar, was sie tun musste. Es war so simpel und doch war es ein ganzes Jahr lang vor ihr verborgen geblieben. Heute endlich, einen Winter später, hatte der Weihnachtsengel sie aus ihrem langen Schlaf wahrhaftig aufgeweckt. Denn heute war Weihnachten und es war auch Weihnachten gewesen, als Anna vor einem Jahr ins Koma fiel. Hoffnungslos, war gesagt worden. Aber weil Wunder immer wieder geschehen - ganz besonders an Heiligabend - und weil es Weihnachtsengel vielleicht wirklich gibt, schlug Anna in diesem Moment ihre Augen auf und lächelte freudig ihre Familie an.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Akirma, herzlich Willkommen hier auf der Seite.
Ich fang mal mit deinem Stil an. Er ist, wenn auch etwas blumig, so doch angenehm und flüssig zu lesen. Was mir positiv auffällt, ist, dass du relativ wenige Rechtschreibfehler machst. Ich kann mir gut vorstellen, dass du da locker noch ein zwei Schippen drauflegen kannst im Laufe der Zeit.

Du schreibst eine Geschichte über ein aus dem Koma erwachtes Mädchen, das die Zeit ihres Komas als alte Frau in einem Wald verbringt und dort sehr einsam ist. Es ist eine Weihnachtsgeschichte, die du schreiben wolltest. Aber so ganz klar ist mir nicht, was Weihnachten mit ihrem Erwachen zu tun haben soll.
Überhaupt machst du es dir mit dem Erwachen amS ein bisschen leicht. So ein Engel ist ja für vieles gut, und entsprechend holt der auch die Komatösen aus ihrer Betäubung recht locker raus. Aber in der Frau/dem Mädchen gibt es eigentlich kein Probleme oder keinerlei Widerstände, sondern sie will sofort zu dem Engel hin, als sie ihn sieht.
Ich weiß nicht, vielleicht wäre es eine Idee, wenn der Engel nicht ganz so herkömmlich weihnachtlich wäre, wie du ihn schilderst, vielleicht sieht er ganz anders aus, als die Frau sich das vorstellt und sie will erst gar nicht mit. Vielleicht ist sie ja misstrauisch.
Warum ich das schreibe, das ist, dass du dich nicht mit einer recht herkömmlichen Weihnachtsgeschichte zufrieden gibst, sondern den Leser so ein bisschen an deine Hauptfigur ranbringst und dich traust, mit den herkömmlichen Engelsvorstellungen so ein bisschen wenigstens zu brechen.
Viele Grüße von Novak.

 

Hallo akirma,

Ich kann zwar nicht allzuviel mit mysthischen Themen anfangen, sehe hier aber dennoch, dass sich hier jemand Satz für Satz viel Mühe gemacht hat, gefühlvolle Formulierungen für eine gefühlvolle Geschichte zu finden. Und ich finde, das ist schon mal gar nicht so schlecht gelungen. In Teilen wirkt sie auch sprachlich recht geübt.

Mir persönlich plätschert die Geschichte nur etwas zu glatt dahin. Denn Koma heißt für mich, sich in einer Art "Zwischenwelt" zu befinden, die man irgendwann einmal verlassen muss. Von hier aus geht man entweder auf eine "dunkle" Seite (der Tod) oder eben auf eine "helle" Seite (das Leben). Koma ist gewissermaßen eine Gratwanderung.

Vielleicht gelingt es dir, diese Bedrohlichkeit mit aufzunehmen. Ich meine damit natürlich keine Horrorpassagen mit bösen Fratzen aus der Dunkelheit und dem Engel im hellen Licht, sondern mehr darin, dass irgendwas passiert, was deutlich macht, dass der Zustand, den du jetzt in deiner Geschichte beschreibst, nicht mehr länger so bleiben wird.

Vielleicht ändert sich vor oder mit dem Erscheinen des Engels die Traumwelt um sie herum? Macht deutlich, dass aus dem Verweilen in der Orientierungslosigkeit nun aktive Auswegsuche gemacht werden muss. Der Engel hilft dabei, nimmt aber der alten Frau/dem Mädchen nicht "alle Arbeit" ab. Wie Novak schon sagte, dann "mach dem Engel mehr Mühe" dabei sie zu retten:

Vielleicht braucht der Engel ihre Unterstützung
Vielleicht hat die Frau/das Mädchen ja Angst vor ihm.
Vielleicht lässt du sie mehr miteinander reden, bevor die Frau Vertrauen fasst.
Vielleicht muss sie sich für etwas entscheiden. Ich meine damit nicht für oder gegen das Weiterleben, denn da sie ja nicht weiß, wo sie ist, wie und warum sie hierherkam, könnte sie das ja gar nicht.

Und da mir der Titel sehr gefällt, schlage ich vor, Weihnachten außen vor zu lassen, um das Schlaflied deines Engels nicht mit dem "Geist der Weihnacht" konkurrieren zu lassen.

Das sind jetzt ein paar Ansätze, mit denen du deiner Geschichte noch mehr Tiefe verleihen könntest.
Und bitte nicht missverstehen: ich meine damit keineswegs, dass du irgendwelche Horroszenarien einbauen sollst, sondern vielmehr etwas wie "Vergänglichkeit".

Ich hoffe du findest in meinem Kommentar ein paar verständliche Ansätze, mit denen du was anfangen kannst. Würde mich freuen, wenn du dran bleibst

Viele Grüße
oisisaus

 

Danke Novak und oisisaus für die konstruktiven und hilfreichen Kommentare! Es freut mich, dass ihr mich offenbar nicht für einen komplett hoffnungslosen Fall haltet.

Einen Punkt, den ihr beide angesprochen habt, ist der Zusammenhang mit Weihnachten. Die Geschichte war als Weihnachtsgeschichte geplant und beim Schreiben habe ich mich wohl an diese Idee geklammert, obwohl es nicht mehr passte. Das werde ich beim Überarbeiten wahrscheinlich rausnehmen.

Dass es keinen richtigen Konflikt in der Geschichte gibt, ist natürlich ein großes Problem! Das kommt bei mir leider auch des Öfteren vor. Vielen Dank für eure Verbesserungsvorschläge und Ideen dazu! Ich werde versuchen, so etwas Ähnliches noch einzubauen.

Danke und viele Grüße
Akirma

 

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