Schlaflied eines Engels
Die alte Frau grüßte den Raben, so wie immer. Natürlich grüßte sie ihn nicht wirklich, das hatte sie in dem ganzen langen Jahr hier im Wald nicht erlernen können. Stattdessen nickte sie ihm zu und er krächzte, sein Gefieder spreizend, zurück. Es war wirklich eine Schande, dass sie es in all der Zeit nicht geschafft hatte, sich mit einem der Tiere zu unterhalten. Selbst die kleinsten der Tiere vollbrachten dies und spielten mit ihren Artgenossen. Nur ihr war das nie möglich gewesen. Wie auch?
Und an manchen Tagen, wenn die Vögel fröhlich untereinander zwitscherten, die jungen Füchse miteinander spielten und die Fische in riesigen Schwärmen unterwegs waren, fragte die einsame alte Frau sich, ob sie wirklich in diesen Wald gehörte.
An solchen Tagen des Zweifels und manchmal der Verzweiflung – und heute war ein solcher Tag – wanderte sie quer durch den schier unendlichen Wald an die Lichtung. Diese besondere Lichtung war eine der sehr seltenen im Wald; sie war sehr geräumig und sah gerade jetzt im Winter zauberhaft aus.
Doch weder der vereiste Fluss noch die von dort zu sehenden gewaltigen Berge machten die Lichtung so besonders für die alte Dame. Es war dieser Ort gewesen, an dem sie vor nun über einem Jahr ohne jede Erinnerung aufgewacht war.
Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war und sie wusste nichts von dem, was sie vorher je gemacht hatte. Sie sah die Rehkitze im Sommer aufwachsen und fragte sich, wer ihre Eltern waren. Sie sah Vögel im Herbst davonfliegen und fragte sich, ob es auch eine Welt außerhalb des Waldes gab. Sie sah Igel Futter für den Winter horten und fragte sich, warum sie nichts essen musste. Nichts von alledem wusste die Frau, aber eines war sie sich immer gewiss: Sie war alt – und sie war einsam.
Als diese alte einsame Frau sich also an dem heutigen Wintertage zu der Lichtung im Wald begab, an der für sie alles begann, da wurde ihr bewusst, dass es auch hier enden würde. Viele Tiere hatte sie sterben sehen und viele andere Tiere um sie trauern. Dies war ihr erster Winter hier und es würde auch ihr letzter sein, aber trauern würde niemand. Denn außer ihr gab es keine solchen Wesen in dem Wald.
Während die Frau nun alleine auf der großen Lichtung stand, wirkte sie im Vergleich zu den jahrhundertealten Tannen klein und jung. Dennoch war ihre Lebenszeit bald aufgebraucht und vielleicht war dieser Tag schon heute. Bei dem Gedanken schlang die Frau die Arme um ihren zitternden Körper, der von kaum mehr als einem Tierfell bedeckt wurde und eine brennend heiße Träne schlich sich ihre kalte Wange hinunter. Zu der Träne begab sich eine zweite und dritte, die geräuschlos auf den Schnee neben ihren nackten Füßen tropfte.
Schon bald musste ihre Sicht verschleiert gewesen sein, denn als sie aufblickte, sah sie etwas ganz und gar Unglaubliches.
Dort, am anderen Ufer des gefrorenen Flusses, stand ein Wesen, welches die Frau noch nie gesehen hatte. Es sah beinahe aus wie sie selbst, nur dass breite weiße Flügel aus seinem Rücken wuchsen und es ein seltsam magisches Licht umschien.
Plötzlich tauchte ein Wort in ihren Gedanken auf, das wie für dieses Wesen gemacht schien. Engel. Und dann noch ein Wort und ein vages Bild der Erinnerung, die wieder verschwanden, bevor sie diese greifen konnte.
Der Engel währenddessen breitete seine Arme aus und lächelte sie an. Es wirkte wie eine Einladung, zu ihm zu kommen und die Versuchung war groß. Doch der Fluss würde sie nicht tragen, sie hatte es bereits früher ausprobiert. Das Eis war zu zerbrechlich, der Fluss war tief und kalt und erstreckte sich fast durch den ganzen Wald. Es war unmöglich, den Fluss von hier zu überqueren.
„Ich kann nicht“, rief die alte Frau dem Engel mit brüchiger Stimme zu, die lange nicht benutzt worden war.
„Doch, du kannst“, antwortete der Engel.
Als er das sagte, da machte das Herz der Einsamen einen Hüpfer. Nicht wegen dem, was er gesagt hatte, sondern weil er mit ihr sprach. Da überwog die Freude und die Hoffnung so sehr, dass sie es wagte, einen Fuß aufs Eis zu setzten. Ihr Herz schlug aufgeregt, vielleicht schneller, als es für ihr Alter gut war, aber das Eis brach nicht. Erleichtert setzte sie auch den zweiten Fuß auf das Eis.
„Nicht! Lass mich dich holen“, rief der Engel entsetzt, doch er war zu langsam.
Unter den Füßen der Frau krachte es und bevor sie reagieren konnte, hatte die Strömung sie bereits bis zu ihren Schultern unter Wasser gezerrt. Schlimmer als tausend Stiche schlug das bitterkalte Wasser auf ihren zerbrechlichen Körper ein und sie stieß einen Schmerzensschrei aus.
Innerhalb von Sekunden war der Engel zu ihr geflogen und packte sie. Doch anstatt sie aus dem Fluss zu ziehen, schloss er die Augen und legte eine Hand an ihre Wange. Erst war sie entsetzt darüber, dass der Engel sie nicht vor dem sicheren Tod retten wollte, doch dann packte sie plötzlich Schwindel. Der Wald um die beiden herum schien sich rasend schnell zu drehen, bevor er auf einmal verschwand und an seiner Stelle fremde Bilder in den Kopf der Frau traten.
Es waren Bilder von Menschen, die genauso aussahen wie sie, Bilder von Menschen. Menschen, wie sie in Kind in den Armen hielten, Menschen bei der Arbeit und Menschen in ihren Häusern. In rasanter Geschwindigkeit sah sie, wie das Kind aufwuchs. Sie beobachtete es lachen und weinen, spielen und leben. Als es immer älter wurde, die Haare grau und das Gesicht faltig, da begriff die Frau auf einmal, dass sie dieser Mensch war. Dieser Mensch mit seiner Familie, seinen Freunden, seinem Leben und auf einmal verstand sie.
Es war, als würde eine unsichtbare Hand die ihre ergreifen und sie durch ihre Erinnerungen führen, dabei auf alle Puzzleteile zeigend, sodass sich am Ende ein Bild ergab. Und als sie dieses Bild in seiner Gänze sah, da wusste sie auf einmal. Nicht nur, wer sie war und wo sie herkam, nein. Es gab so viel mehr, so viel Großes, Unglaubliches auf der Welt und Anna wusste es in diesem Moment alles. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie meinte, ihr Herz müsse platzen.
Da schien der Engel zu merken, dass es genug war. Er nahm seine Hand von ihrer Wange, wisperte „Leb Wohl“ und die Welt wurde schwarz. Doch es war kein beängstigendes Schwarz, denn Anna hörte liebevolle Stimmen singen und sie wusste, dass es die Stimmen der Menschen aus ihren Erinnerungen waren. Sie klangen tieftraurig und gleichzeitig so sanft, als würden sie jemanden in den Schlaf singen.
Verlässt du uns heute Nacht,
geben wir auf dich Acht.
Legst du dich heut zu Ruh,
machen wir deine Augen zu.
Und doch sind wir noch nicht bereit,
es ist Weihnachtszeit ...
Ist es wirklich schon so weit?
Es ist Weihnachtszeit ...
Darum beten wir,
dass Unmögliches geschieht.
Darum stehn wir hier
Und singen dir ein Lied.
Als die letzte Silbe des Liedes verklungen war, wurde Anna klar, warum ihr der Engel jene Bilder gezeigt hatte. Ihr wurde klar, was sie tun musste. Es war so simpel und doch war es ein ganzes Jahr lang vor ihr verborgen geblieben. Heute endlich, einen Winter später, hatte der Weihnachtsengel sie aus ihrem langen Schlaf wahrhaftig aufgeweckt. Denn heute war Weihnachten und es war auch Weihnachten gewesen, als Anna vor einem Jahr ins Koma fiel. Hoffnungslos, war gesagt worden. Aber weil Wunder immer wieder geschehen - ganz besonders an Heiligabend - und weil es Weihnachtsengel vielleicht wirklich gibt, schlug Anna in diesem Moment ihre Augen auf und lächelte freudig ihre Familie an.