- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 24
Die Rasur
„Was tun Sie denn da?“
„Ich rasiere mich“, entgegnete der Mann.
„So hören Sie doch auf damit, Sie tun sich ja weh.“
„Stören Sie mich bitte nicht, gnädiger Herr, mein Vorhaben ist von grosser Wichtigkeit.“
„Was soll denn dieser Unfug? Jetzt legen Sie die Klinge weg! Sie bringen sich ja noch um!“
Grosse Teile der Haut an den Wangen der Person hingen in grausigen Fetzen herunter. Das Hemd über der Brust war vom heruntersickernden Blut befleckt. Trotzdem hörte er nicht auf, sich zu rasieren. Im Gegenteil: Mit entschlossener Miene fuhr der Mann fort, sich mit der Rasierklinge kräftig die wunde Haut abzuschaben.
„Sehen Sie wie ernst und wichtig mir die Rasur ist? Man darf sie nicht vernachlässigen. Meinen Sie nicht? Die Haare müssen alle ab! Kein einziges Härchen darf übrig bleiben.“
„Aber es sind doch keine Haare mehr da, besinnen Sie sich doch, ich bitte Sie, sonst muss ich Ihnen das Messer wegnehmen!“
„Werter Herr, Haare können durchaus klein, ja geradezu winzig sein. Haben Sie das denn nicht gewusst? Man denkt, es sind keine mehr da, und doch steht ein einzelnes Haar trotzig da und macht die ganze Rasur zunichte. Besonders die hellen Haare sind mit dem blossen Auge nur sehr schwer zu erkennen. Man muss die Augen ganz schön zusammenkneifen um diese Schlingel zu sehen. Und das Schlimmste ist, dass sie ständig nachwachsen! Technisch gesehen sollte man also niemals, unter keinen Umständen mit der Rasur aufhören!“
Mit grossen Hieben stiess er sich die Rasierklinge in die Wangen. Er grinste sein Gegenüber an, als wollte er ihn provozieren. So als würde er auf etwas warten…
„Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Bei allem Respekt, was reden Sie für einen Unsinn.“
„Meinen Sie, dass ich Unsinn rede? Nun, vielleicht haben Sie recht... Das spielt jedoch keine Rolle, denn ich werde bald ein glattrasiertes und somit völlig haarloses Gesicht haben. Kein verfluchtes Haar, und sei es noch so winzig, wird mehr übrig sein... Stellen Sie sich das mal vor!“
Er deutete mit dem Rasiermesser auf seines Gesprächpartners Hände, so als hätte er im Sinn, ihm die Klinge zu geben.
„Sie gehören ins Irrenhaus, krank sind Sie, völlig krank!“, schrie sein Gegenüber entsetzt und wich panikartig einige Schritte zurück. Der Griff des Rasiermessers war von einer Blutkruste überzogen und es tropfte von der Klinge, welche schon lange stumpf geworden war, Blut zu Boden.
Da sprang ihm der Rasierende entgegen und beugte sich so weit vor, bis dem verängstigten Mann der metallene, beissende Geruch des Blutes in die Nase kroch.
„Ach, bin ich das? Sind Sie sich da sicher? Meines Erachtens handelt es sich hier um eine reine Ansichtssache“, raunte ihm der mittlerweile schwer verletzte Mann zu.
Jetzt streckte er ihm das Rasiermesser in der offenen Hand langsam entgegen, als wollte er es ihm als Geschenk überreichen. Der völlig bleich gewordene Mann machte noch einen weiteren Satz zurück. Da holte sein Gegenüber aus, bevor er sich mit dem Rasiermesser kurzerhand die Kehle durchschnitt. Röchelnd sank er zu Boden. Erst jetzt erwachte der angsterfüllte Mann aus seiner Starre und kniete sich zu dem Verletzten nieder. Dieser blickte ihn an und flüsterte: „Ruhig mehr Mut zur Tat, mein Herr. Die Welt gehört den Handelnden.“
Da stand der Andere auf und verliess den Sterbenden. Er machte sich auf den Heimweg, welchen er jedoch kurz unterbrach, um Rasierschaum zu kaufen.