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Paradies in Gefahr
Auf irgendetwas ist er gestoßen! Metallisches Klirren und spritzendes Erdreich signalisieren einen harten Gegenstand in der weichen Gartenerde.
"Oh nein, nicht schon wieder ein Stein. Die sind hier wohl zu Tausenden im Boden. Hätte ich den Acker doch woanders angelegt!"
Eberhard flucht und treibt den Spaten mit einem wuchtigem Tritt erneut ins Erdreich. Mit dem gleichen Ergebnis: Spritzende Erde, metallisches Klirren. Schweißperlen glänzen im Strahl der hochstehenden Sonne auf seiner Stirn. Sein Rücken schmerzt und es dauert endlose Sekunden, bis er sich aufgerichtet hat. Eberhard überlegt. Soll er eine Pause einlegen? Sich von der Tätigkeit der letzten beiden Stunden erholen? Sich auf den Liegestuhl legen, bei einem kühlen Bier aus der Kühltasche die Ruhe des Gartens genießen? Unbeweglich steht er da, aufgestützt auf den Spaten, der noch im Boden steckt. Zwanzig Quadratmeter des Kartoffelbeetes, das er dieses Jahr an einer anderen Stelle des Grundstücks anlegen will, um einen höheren Ertrag zu erzielen, hat er bereits umgegraben. Je näher er der Stelle kommt, an der sich die felsigen Seitenwände des engen Tales steil erheben und die Fruchtbarkeit der Fläche einem kargen Bewuchs an den Felswänden weicht, desto steiniger wird der Boden und desto mehr wird die Tätigkeit zu einer Qual. Die Verlockung des kühlenden Getränks wird übermächtig und er schleicht gebückt und schweren Schrittes zu der Gartenlaube. Ermattet läßt er sich auf die laubgrün gestrichene Gartenbank fallen, nimmt einen ersten, tiefen Schluck aus der Flasche, seufzt voller Wohlbehagen. Sein Blick wandert über sein Refugium, auf das er so stolz ist.
Er hat sich eine Woche Urlaub genommen, um die Frühjahrsarbeiten zu erledigen, die immer am Anfang einer Gartensaison anstehen. Das erste Mal den Garten inspizieren, die Winterschäden an Zaun und Hütte beseitigen und die Töpfe rausstellen, die Anna in den kommenden Wochen bepflanzen wird und an deren Blütenpracht sie sich nicht satt sehen konnten.
Unvermittelt kommt ihm seine Arbeit in den Sinn und er verspürt Schwermut in seinem Herzen. Wenn er doch schon im Ruhestand wäre, dann könnte er von Anfang April bis Ende Oktober in seinem Garten sein, dort übernachten und nicht nur den Tag in ihm verbringen. Er hasst seine Arbeit in dem klimatisierten Büro, die er seit über dreißig Jahren Tag für Tag versehen muss. Oft, wenn er sich mit wiederkehrenden, monotonen Vorgängen beschäftigt, schweifen seine Gedanken ab und er sehnt sich nach seinem Paradies, das er sich hier, wenige Kilometer von der Stadt entfernt, in dem ruhigen, abgelegenen Tal geschaffen hat. Sein ganz persönliches Refugium, ein Ort, an den er sein Herz verloren hatte. Immer wenn er sein Reich betritt, spürt er, wie er sich zu einem Natur liebenden Menschen verwandelt, der mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit seinem geliebten Hobby nachgeht: Er baut Gemüse an, zieht eigene Blumen, pflegt Rasen, Beete und kümmert sich um Teich und Fische. Er liebt die traditionelle Arbeitsweise: Handarbeit - mühsam, schweißtreibend, aber naturnah. Von motorgetriebenen Hilfsmitteln will er nichts wissen. Strom für das Licht liefern Sonnenkollektoren auf dem Dach des kleinen, bunten Gartenhäuschens, Wasser entnimmt er dem ruhig fließenden Bach, der sich in einer sanften Linie durch sein Grundstück schlängelt.
Er schüttet die letzten Tropfen Bier aus der Flasche, stellt sie an den Rand der Bank, rückt nach dem Aufstehen seine Latzhose zurecht und schlürft gemächlichen Schrittes auf den Spaten zu, der immer noch in der Erde steckt. Behutsam schaufelt er eine Fläche von einem halben Quadratmeter frei, unter dem sich in gut dreißig Zentimeter Tiefe irgendetwas zu befinden scheint, das er im Stehen nicht erkennen kann. Ächtzend läßt er sich auf die Knie nieder. Seine Gelenke knacken. Er schaufelt einige Erdbrocken mit der Hand aus dem rechteckigen Loch, die er seitlich neben sich lagert. Vor sich erblickt er etwas, das er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Eine mattgold glänzende, zwei oder drei Zentimeter breite Ader zieht sich waagrecht durch die unter dem Ackerboden liegende Gesteinsschicht. Hektisch wühlt er mit beiden Händen im Erdreich und bekommt einen walnussgroßen Gegenstand zu fassen. Vorsichtig öffnet er seine Hand; der Schein der Sonne spiegelt sich in dem Fundstück. Für einen kurzen Moment gerät sein Herz aus dem Takt. Er fühlt, wie Schwindel ihn erfasste. Gold! Ein 'Nugget', durchfährt es ihn. Er erinnert sich an einen Westernfilm, den er vor Jahren sah. An eine Szene, in der ein zerlumpter Goldschürfer die Echtheit eines Goldstücks mit einem Biss überprüfte. So muss es gehen! Eberhard nimmt den Gegenstand zwischen seine Zähne, beißt vorsichtig zu.
"Das ist Gold, ich bin reich!" Die Worte schießen aus seinem Mund, lauter als er wollte.
Verstohlen blickt er in alle Richtungen.
"Hat mich jemand gesehen? Nein!"
Er läßt den Goldklumpen in seine Hosentasche gleiten, überdeckt das Loch mit etwas Erde und macht sich auf, so schnell es nur gehen würde, nach Hause zu fahren. "Das muss ich meiner Frau zeigen!" keucht er atemlos und läuft zu seinem Auto. Mit zitternder Hand öffnet er die Fahrertür und startet den Motor.
Die Fahrt nach Hause kommt ihm endlos vor. Eberhard hat Schwierigkeiten, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Seine Gedanken drehen sich um den Goldklumpen in seiner Tasche.
„Wo ein Goldklumpen ist, da ist auch eine Goldader, im Garten am Fuß des Berghangs vor Millionen von Jahren entstanden, heute von mir entdeckt! Nie wieder finanzielle Engpässe! Ich kann mir alles leisten! Wir sind reich, gemachte Leute!“
Während die Gegend an ihm vorbeirauscht, beginnen trübe Gedanken sich in seinem Kopf fest zu setzen, die seine heitere Stimmung verdunkeln. Er kann sie nicht verscheuchen, so sehr er sich auch bemüht. „Was wird geschehen, wenn Leute von dem Goldfund Wind bekommen? Was wird mit unserem schönen Garten passieren, mit all den Pflanzen und Blumen, dem Gemüse, den Weinreben, dem Teich mit den Goldfischen? Unser Naturparadies, das wir uns in jahrelanger Arbeit liebevoll geschaffen haben?"
Wie Dämonen tauchen sie mit einem Mal aus dem Nebel seiner trüben Gedanken auf: Grimmig blickende Goldsucher, bewaffnet mit Hacke, Schaufel, Waschsieb und sonstigen Gerätschaften. Oder - schlimmer noch - professionelle Unternehmen, die mit schwerem Gerät, Baggern, Bohrhämmern und unter Einsatz von Sprengladungen an den Abbau der Goldader gehen. Er würde erleben, wie die mit Liebe zum Detail erschaffene Idylle in einem Inferno aus Geröll, Schlamm, Dreck und Staub versinkt. Sie werden ihm das Grundstück abnehmen, enteignen und ihn mit einem lächerlich geringen Entschädigungsbetrag abfinden.
Eberhard bremst sein Auto ab, fährt an den Fahrbahnrand, kalter Schweiß läuft über sein Gesicht und verfing sich in seinem weißen Bart. Er zittert am ganzen Körper.
Hatte er nicht kürzlich von einem Goldfund gelesen, den ein Bauer irgendwo in Deutschland gemacht hatte? Musste der Bauer nicht zwangsweise sein Land für wenige Euros je Quadratmeter hergeben, damit eine Gesellschaft das Gold im staatlichen Auftrag, angeblich zum Gemeinwohl, abbauen konnte? So ähnlich war es doch gewesen!
"Nein, das darf nicht sein! Ausgerechnet jetzt, wo der Quittenbaum viele zarte Blütenknospen trägt, das wird einen leckeren Gelee im Herbst geben! Wo ich besonders viele Feuerbohnen gesetzt habe, aus denen Anna ihren legendären Eintopf machen wird, der so unvergleichlich gut schmeckt! Der an kalten Wintertagen so herrlich wärmt. Die Weinreben werden bestimmt wie letztes Jahr viele Trauben tragen! Mein Wein, vielleicht wird er besser als im letzten Jahr! Meine Marke, 'Eberhards Goldrebe', ha, jetzt ist es sogar ein symbolischer Name."
Eberhard lacht laut auf, besinnt sich dann aber, dass er am Rand der Fahrbahn in seinem Auto sitzt und vielleicht von vorbeifahrenden Autofahrern beobachtet wird. Tiefe Furchen malen sich auf seiner Stirn ab, als er in den Rückspiegel blickt. Hat ihn jemand gesehen?
*
Als er die Tür im dritten Stockwerk des Miethauses öffnet, bemerkt er einen vertrauten, lieb gewordenen Geruch, der die Dreizimmerwohnung durchzieht.
„Ah, mein Schatz, da bist Du ja! Gut! Das Essen ist gleich fertig, setz´ Dich schon mal hin“ ruft ihm Anna aus der Küche zu. Wenig später kommt sie ins Esszimmer, in der Hand einen großen, tiefen Teller, aus dem sich heißer Dampf zur Zimmerdecke kräuselt.
„Lass es Dir schmecken. Feuerbohneneintopf, so wie Du ihn am liebsten magst: Heiß, sämig und mit Kräutern aus dem Garten gewürzt. Kraftfutter nach der schweren Arbeit! Leider sind es die letzten beiden Teller der Vorjahresernte.“
„Was, haben wir schon alles gegessen?“ fragt Eberhard und schaut seine Frau erstaunt an.
„Ja, aber im Herbst gibt es hoffentlich wieder Nachschub. Gott sei Dank, dass wir den Garten haben, ein Geschenk Gottes, oder, Eberhard? Jetzt lass es Dir aber mal schmecken. Guten Appetit mein Schatz!“
Gedankenverloren löffelt er den Feuerbohneneintopf in sich hinein. Wärme breitet sich in seinem Bauch aus. Er verspürt die Kraft der Bohnen in allen Fasern seines Körpers. "So gut kann nur Anna kochen, so gut schmecken nur die Feuerbohnen aus dem eigenen Garten," murmelt er.
Verstohlen blickt er sich um. Anna ist nicht da. Er nimmt den Goldklumpen aus seiner Hosentasche, betrachtet ihn eingehend von allen Seiten.
"Naja, für Notfälle kann er uns noch sehr nützlich sein, man kann ja nie wissen, was passiert. Jetzt aber brauche ich das verdammte Ding noch nicht und werde ihn hoffentlich nie brauchen", flüstert er vor sich hin. In Gedanken sieht er sich auf der Bank vor seinem Gartenhäuschen sitzen, denkt daran, was er als Nächstes im Garten erledigen muß.
Genüsslich leckt er sich mit der Zunge über die Lippen, um auch noch den allerletzten Rest des Eintopfes zu genießen, bevor er den Teller in die Küche bringt.
"Morgen gehe ich wieder in den Garten, Anna. Es gibt noch viel zu tun. Sehr viel Arbeit, aber jeder Tag ist immer wieder gut für neue Überraschungen. Was kann es Schöneres geben als unser Paradies!?