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Dämmerung
Ich stierte. 'Was geht dir durch den Kopf, Anna?' fragte da ihre Stimme. 'Nichts', sagte ich mechanisch und wir wussten beide, dass es eine Lüge war. 'Bist du enttäuscht?' fragte sie. 'Ja', antwortete ich, aber auch das war ein Reflex. Nichts gab es sonst auf diese Art von Fragen zu antworten. Bist du böse? Oder: Bist du glücklich? hätte sie fragen können. 'Ja', wäre immer die Antwort gewesen. Mechanisch. Sie schaute. Dann hob sie die Hand, wie um mich zu berühren, tat es jedoch nicht. Ihre Finger verharrten in der Luft, mein Atem blieb in meiner Lunge, meine Lider senkten und hoben sich wieder und es war diese Art von Sekunde, die endlos andauerte und niemals verstrich. Es war ganz still um uns. Kein Laut von der Straße drang herein. Kein Staubkorn zitterte in der Luft. Mein Blick ging zum Fenster, die Dämmerung verdunkelte inzwischen den Himmel. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolkendecke war aufgebrochen, dort wo die Häusersilhouetten den Horizont bildeten, und presste gelbes und rosafarbenes Licht zwischen den Dächern hervor. Tropfen perlten von der Scheibe, die Farben waren schön bei dieser Witterung, bei dieser Stimmung. Dann sind sie immer schön, dachte ich. Kurz nach dem Regen und kurz davor, so kurz davor.
Ich drehte den Kopf und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich sie wieder sehen konnte. Sie nahm nun die Hand herunter, doch ganz verlangsamt, ich sah ihren Mund sich öffnen, die Lippen sich bewegen, doch kein Ton drang an mein Ohr, kein Laut, nicht diesseits des Fensters und auch nicht jenseits davon.
Ich sah ihre Finger und ihre Lippen und in dem Moment legte sich der Geschmack ihrer Scham auf meine Zunge, ganz süß schmeckte sie und ich wusste noch, dass ich mich immer gefragt hatte, wie sie das schaffte, wie sie das nur machte, immer so süß zu schmecken und immer ganz zart. So hatte ich ihre dünne weiße Haut zwischen meinen Lippen in Erinnerung. Daran musste ich nun denken, in diesem Moment, meine Netzhäute dachten es.
Und nun gab es doch einen Ton. Es war ihre Stimme die sagte: 'Willst du nicht wissen, ob es ein Mann oder eine Frau ist?' Als sie das sagte, wollte ich sie nicht mehr anschauen. Da fiel mir auf, dass ich es gar nicht tat. Mein Blick hing an einem Tropfen vor dem Fenster, der gold und rosa von der Abendsonne angeschienen wurde. Er bewegte sich ganz langsam die Scheibe hinunter und das Licht brach sich in ihm, erst von oben, dann von vorn, wie eine Perle im Tropfen eingeschlossen, dachte ich, und dann verschwand er nach unten, wurde überdeckt von einem Schwarz, als der Tropfen in den Schatten des Baumes glitt. In ihn eindrang, dachte ich und sagte: 'Nein, selbstverständlich will ich es nicht wissen.' 'Es ist ein Mann', antwortete sie sofort. Und ich zog die Brauen ganz eng zusammen, weil der Tropfen nun verschwunden und nicht mehr zu sehen war, wahrscheinlich auch schon gar nicht mehr am Fenster hing, und drehte nun doch den Kopf zu ihr. Ich sah jedoch nicht in ihre Gesicht, sondern nur auf ihren Pullover und antwortete widerwillig: 'Ich hasse es, wenn du sowas sagst.' 'Ja', sagte sie. 'Wie heißt er?' fragte ich dann. 'Klaus', sagte sie. 'Du lügst', warf ich ihr vor, weiterhin auf ihre Brust starrend, nur dorthin und es war mir egal, ob es stimmte. 'Du willst den Namen nicht wissen', sagte sie dann. Und es war mir auch egal, ob das stimmte.
Ich blickte immer weiter gegen ihren Körper und sah hinter ihre Kleidung, durch ihren Pullover hindurch auf ihre Brüste, sah ihr winzigen Knospen wie sie zart abstanden, von ihren knorrigen Rippen, auf denen man, selbst wenn sie stand, mit den Fingern spazieren gehen konnte und spürte sie, nicht an meiner Hand, sondern einmal mehr auf meiner Zunge, die rosige Haut, die dort anders schmeckte, nicht wie die weiße an den Wellen ihrer Hüfte und auch nicht wie die etwas dunklere an ihren anderen Lippen, sondern weicher, fast fruchtig, so dass man niemals aufhören wollte sie zu liebkosen, sie zu kosten und mit allen freien Stellen der Haut ihren Körper zu berühren, mit allem und überall und ganz besonders diese sanften, kaum sichtbaren Erhebungen ihrer kleinen spitzen Brüste. Daran erinnerte ich mich, als ich auf ihren Pullover starrte.
Endlich schaffte ich es, meine Augen wieder in ihr Gesicht zu richten. Inzwischen schaute sie aus dem Fenster. 'Der Himmel ist schön', sagte sie. 'Nein, es ist das Licht', sagte ich. Jetzt drehte sie den Kopf wieder zu mir. Als mich ihr Blick traf oder meiner sie, wurde mir übel. 'Das Licht macht den Himmel schön', sagte ich: 'Er ist es nicht von selbst.' Nun musste sie sagen, dass eigentlich beides zusammen schön ist, nichts für sich allein, nur beides zusammen, das eine schön durch das andere. Das musste sie nun sagen. Aber sie antwortete: 'Wie du meinst.' Da stieß mir die Übelkeit mit einer Wucht in den Hals, dass ich keuchend ausatmete. Ich riss den Kopf wieder zum Fenster, das goldene Licht drückte nun immer mehr ins graue, das rosafarbene war bereits ganz verschwunden, ein tiefer Blauton kam kurz hinzu, nur ganz kurz würde er da sei, dachte ich, denn die Wolkendecke schob sich schon weiter und die Tropfen reflektierten nur noch sich selbst an der Scheibe, während es statt des Blautons grau zu leuchten begann, grau, so klar, wie ich noch niemals zuvor ein Grau hatte leuchten sehen.
Ich riss mich hoch vom Tisch, ruckartig, so dass mein Stuhl laut über den Boden rutschte und stolperte zum Fenster. Was hast du? müsste sie jetzt eigentlich fragen: Was tust du denn da? Doch als das Schaben des Stuhls verhallt war, kehrte wieder die frühere Stille von hier drinnen und von draußen zurück, die nun schwer wurde und lähmend und ich torkelte zum Fenster, musste mich durchringen, musste kämpfen, mich abmühen für die zwei Schritte, die es zu überwinden galt und wogte wie durch Watte, wobei es doch nur mein eigenes flaues Gefühl im Hals war, dass mir den Griff an das Fenster erschwerte, so schwer machte. Sie sagte immer noch nichts. Für eine halbe Sekunde erstrahlten ein letztes Mal die Tropfen von außen in einem Gleißen und Grau, dass es mir den Atem verschlug. 'Dieses Licht!' sagte ich oder ich keuchte es vielmehr. Dann riss ich das Fenster auf. Tief drang die kühle Luft, der Alltag der Straße, der durch den Schwung von der Scheibe gewehte Restregen zu uns herein. Ich glaubte, sie in diesem Moment etwas sagen zu hören. So etwas wie: Das macht der Regen, er wäscht den Himmel. Aber ich war mir nicht sicher, denn ihre Worte wurden davon getragen von der Welt, die plötzlich von diesem draußen zu unserem drinnen spülte. Meine Übelkeit verflog schlagartig. Mein Hals war wieder frei und mein Kopf auch.
Ich drehte mich zu ihr um und stand nun mit dem Rücken am offenen Fenster, hinter dem die Welt lag. Mein Blick war wieder fest. 'Klaus also', sagte ich. Auf der Straße hupte ein Auto.