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Meine blaue Zelle

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02.01.2015
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Meine blaue Zelle

Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem winzigen Raum, vielleicht fünf Quadratmeter klein. Es gibt ein Fenster, aber die Vorhänge sind geschlossen. Seitdem ich hier lebe, sind sie zu. Noch nie habe ich nach draußen gesehen – und ich werde es auch nicht tun. Ich habe Angst, dass das, was ich draußen sehen könnte, so schön ist, dass es mir mein Dasein auf den blauen Metern unerträglich macht. Oder, was ich genauso fürchte, es könnte ganz furchtbar hässlich sein. Wenn ich nicht gucke, kann ich Hoffnung haben. Das ist besser als nichts.

Mir gegenüber liegt ein anderes Verlies. Hinter seinem eisernen Gitter, gleich nach dem schmalen Flur, der uns trennt, wohnt Frau Videns. Wir unterhalten uns manchmal, aber viel bleibt nicht zu sagen, denn nichts passiert. Ich kenne sie, seitdem ich hier bin. Sie war schon vor mir hier. Einst schenkte sie mir Zettel und Stift, damit ich schreiben kann, was ich jetzt schreibe. Denn am Anfang war das Wort.

„Guten Morgen“, wünscht Frau Videns eines Morgens.
„Ist das ein guter Morgen?“, frage ich, blinzle und rapple mich auf von der schmalen Pritsche, auf der ich Nacht um Nacht ruhe.
„Gewiss“, sagt sie. „Heute werde ich den Vorhang öffnen. Ich habe es satt, ja, ich habe es satt.“
„Sie haben es satt?“, frage ich und mein Interesse ist genauso wach wie ich. Frau Videns ist schon angekleidet und frisiert. Ernst sieht sie mich an.
„Ständig dieses Einerlei. Meine blaue Zelle, Ihre blaue Zelle, Sie in Ihrer Zelle. Es ist Zeit.“
„Überlegen Sie es sich gut!“, rufe ich. „Sie könnten die Hoffnung verlieren!“ Mein Herz klopft, meine Hände zittern. Schon oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und teilten immer denselben Glauben. Sie zu lüften würde in jedem Fall nur Schlechtes nach sich ziehen. Heute aber wirkt Frau Videns entschlossener denn je. Wird sie wirklich … ?
Und mein aufkeimender Protest wird überwältigt von einer Welle aus Neugier, als sie sich umdreht und zum Fenster geht.
„Seien Sie vorsichtig …“, wispere ich und beobachte mit grauenvollem Behagen, wie sich Frau Videns an der Gardine zu schaffen macht.
Ihre Zelle ist genauso klein wie meine. Genauso blau. Ein tiefes, dunkles Blau. Eine einzelne Glühbirne baumelt an einem Kabel von der Decke. Sie besitzt Pritsche, Stuhl und Tischchen, in der hinteren Ecke eine Toilette und Waschbecken. Dieselben grauen Gardinen. Genauso sieht es in meiner Zelle aus, allerdings sind die Möbel spiegelverkehrt angeordnet. Wir könnten ein und dieselbe sein, sind es aber natürlich nicht, denn wenn ich in Frau Videns´ Gesicht sehe, dann sehe ich nicht meines, wobei – Spiegel gibt es nicht.
Auch darüber haben Frau Videns und ich uns unterhalten. Sie schlug damals vor, die Spiegelung des Fensters zu nutzen. Eines Abends, draußen war alles dunkel, tat sie es auch, nur um festzustellen, dass sie um Jahre gealtert war. Und ich tat, als würde ich schlafen, denn ich bin jung und mich kümmert das Alter nicht.

Sie schiebt den Vorhang mit der flachen Hand ein wenig zurück. Seitlich lugt sie hindurch. Licht fällt auf ihr faltiges Gesicht. Schatten füllen die tiefen Runzeln, Schein tanzt auf den feinen Erhebungen. Riesige Täler zwischen schneebedeckten Hügeln.
Sie flüstert etwas, runzelte die Stirn, reibt sich die Augen.
Wie alt mag sie sein, frage ich mich. Auch ihr Haar, das ich grau in Erinnerung hatte, erstrahlt in hellem Alabasterweiß. Was mag sie sehen?
Der Vorhang fällt.
„Was haben Sie gesehen?“, keuche ich.
Frau Videns dreht sich zu mir und sieht zufrieden aus. Ihre Augen funkeln, ja, sie strahlen gar.
„Och, da ist nichts Besonderes …“, sagt sie, setzt sich auf den Stuhl und faltet die Hände.
„Aber Sie sehen so … zufrieden aus!“, protestiere ich.
„Das ist nichts“, wehrt Frau Videns ab, doch ihr Lächeln straft sie einer Lüge.
„Nun sagen Sie schon!“
„Vielleicht wollen Sie auch einmal gucken?“
„Aus Ihrem Fenster? Das geht doch nicht!“
„Nein“, sagt sie und macht eine leichte Handbewegung. „Aber aus Ihrem Fenster.“
„Niemals!“, rufe ich entrüstet.
„Nun machen Sie schon, trauen Sie sich. Das ist wirklich gar nicht so schwer!“
„Frau Videns“, ich stehe auf und laufe unruhig hin und her. „Frau Videns. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich kann und ich werde nicht gucken. Ich kann nicht sicher sein, dass es mir so ergeht wie Ihnen. Es sei denn, ich schaue aus Ihrem Fenster!“
„Aber Sie haben doch auch eines.“
„Das ist richtig. Dennoch. Lang und breit haben wir dieses Thema besprochen. Ich bewundere Sie aufrichtig für Ihren Mut. Und trotzdem: Ich kann es nicht. Bitte akzeptieren Sie das.“
Frau Videns seufzt. Wir kennen uns schon lange. Sie scheint zu wissen, dass sie mich nicht dazu bringen wird, den Vorhang zu lüften. Ich lege noch einmal nach: „Ach, erzählen Sie mir doch, was Sie gesehen haben! Vielleicht führt Ihre Erzählung dazu, dass ich meine Meinung ändern kann!“
„Nun gut“, sagt sie. „Dann will ich Ihnen sagen, was ich sah. Ihre Befürchtung, wertes Fräulein, dass das Bild zu schön ist oder zu hässlich, ist gänzlich zu verwerfen. Alles, was ich sah, sehe ich auch, wenn ich zu Ihnen hinüberblicke. Ich sah eine Dame, die in einer Zelle lebt, einer dunkelblauen Zelle, mit exakt einer Pritsche, Stuhl und Tisch, - einem Bereich für die Hygiene. Und ein Fenster.“
„Das gibt es doch nicht!“, rufe ich aufgebracht. „Also sind alle Befürchtungen umsonst, wenn dort, hinter dem Vorhang, alles so ist wie hier!“
Ich muss mich setzen.
„Wollen Sie es nicht selbst einmal versuchen?“, versucht Frau Videns es erneut.
„Nein. Aber erzählen Sie von der Frau!“
„Sie sagte mir, dass sie gerne aus ihrem Fenster sieht.“
„Sie tut es also?“, frage ich. Ob Frau Videns mich zum Narren halten will? „Was kann sie sehen? Eine Frau in einer Zelle?“
Frau Videns fährt fort mit ruhiger Stimme, sitzend auf dem Stuhl, die Hände gefaltet, manchmal spreizt sie einen Finger ab.
„Das will sie mir erzählen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich das wissen will.“
„Sie müssen sie fragen“, sage ich augenblicklich. Vielleicht, um mich zu vergewissern, dass Frau Videns die Wahrheit sagt, vielleicht, weil meine Neugier brennt.
„Sehen und hören Sie doch selbst!“, sagt Frau Videns.
„Wie ich schon sagte“, sage ich – und ich sage es leise, denn so langsam macht sie mich zornig – „Nein.“
Ich drehe ihr den Rücken zu und verschränke die Arme.
Einst habe ich Stunden, nein, Tage so gesessen, sie keines Blickes gewürdigt, denn sie wollte mir eine Orange, die aus meiner Zelle versehentlich in die ihre gerollt war, nicht zurückgeben. Sie wollte sie selber fressen, aber ich schwieg. Nach dreißig Stunden kullerte der runde Ball unbeschadet zurück an meine Füße. Ich nahm sie, pellte sie, aß sie und redete zwei weitere Tage kein Wort mit der Alten.
„Gut“, sagt Frau Videns. „Ich weiß, was Sie zu tun imstande sind. Ich möchte keinen Streit mit Ihnen. Ich werde die Frau fragen.“ Ich drehe mich zurück zu ihr und lächle. Sie steht auf und geht ans Fenster.

In diesem Moment quietschen Türen, hallt der Korridor von Schritten, schweren Stiefeln, die in unsere Richtung laufen. Herr Große, unser Gefängniswärter, bringt das Frühstück herbei. Haferbrei im denkbar ungünstigsten Moment. Er schiebt das Tablett unter Frau Videns Gatter hindurch. Dann dreht er sich zu mir und sagt: „Lassen Sie es sich schmecken.“
Das Tablett wird hindurchgeschoben, gleiche Größe, gleiche Form. Gleicher Haferbrei. Immer dasselbe Einerlei.
Herr Große verschwindet.
„Ich habe keinen Hunger“, zische ich. „Fragen Sie die Frau!“
Frau Videns bückt sich nach ihrem Frühstück, nimmt Schälchen und Löffel, rückt den Stuhl ans Fenster und verschwindet unter der Gardine. Der graue Vorhang verdeckt sie, ich höre sie schmatzen und kichern. Den Haferbrei rühre ich nicht an. Gespannt lausche ich. Endlich kommt Frau Videns unter der Gardine hervor.

„Die Dame heißt Anima und sie erzählte mir Folgendes: Draußen vor ihrem Fenster ist eine kleine Straße. Dort beobachtet sie die Menschen. Direkt auf der anderen Straßenseite befindet sich eine Bank. Dorthin setzen sich die Menschen. Sie sagt, es sei ein schöner Tag. Die Dinge verhalten sich genauso, wie sie es schon immer taten.“
„Das ist sehr gut so, auch wenn es ausgesprochen langweilig klingt“, sage ich und ich bin höchst zufrieden mit ihrer Antwort und meiner Standfestigkeit.
Um ehrlich zu sein, ich frage mich oft, was wohl hinter meinem Vorhang sein könnte. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, dorthin zu blicken, zu träumen, mir vorzustellen, was dahinter steckt. Aber ich habe es schon erklärt. Für mich besteht der Reiz darin Hoffnung zu haben, nicht darin zu handeln. Eine Enttäuschung würde ich nicht verkraften. Sie würde meine Seele brechen. Dessen bin ich gewiss.

„Ein schöner Tag“, beginnt Frau Videns und kommt unter dem Vorhang hervor. Ich bin überrascht, anscheinend hat sie, während ich nachdachte, die fremde Frau noch einmal befragt. „Ein schöner Tag, das ist laut Anima ein Tag, an dem die Sonne scheint. Es ist aber nicht nur der Schein, sondern vielmehr das, was das Licht mit den Menschen macht. Anima sagt, dass sie dann ganz anders über die Straße gehen. Viel leichter und beschwingter.“
„Hm“, gebe ich von mir, hebe den Haferbrei vom Boden und setze mich auf meinen Stuhl. Ein Löffel folgt dem anderen. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin. Und ich muss an die Orange denken.

Die Tage vergehen. Frau Videns hält sich an unsere Abmachung. Für mich verschmilzt der graue Vorhang mit der Wand der Gefängniszelle. Ich erlaube mir nicht mehr, dorthin zu gucken. Doch manchmal ertappe ich mich dabei, wenn Frau Videns von Anima erzählt. Ich glaube, ich wünschte mir eine Freundin, die all diese Dinge sieht und mir erzählt, doch wer weiß, wen ich hinter dem Vorhang finden würde.
Diese Anima sieht nur Angenehmes da draußen vor ihrem Fenster. Frau Videns kichert und lacht, wenn sie mit ihrer Freundin spricht. Ich glaube, ich bin eifersüchtig. Vielleicht bin ich auch neidisch. Ein wenig.
In Wahrheit aber ist es doch unerhört, wie Frau Videns sich verhält. Im Prinzip, wenn man es sich recht überlegt, hat sie das, was wir uns beide vorgenommen haben, nicht eingehalten. Je mehr Gekicher ich höre, je mehr Tage vergehen, desto ekelhafter fühlt es sich an. Kaum noch schmeckt mir der Haferbrei. Doch die Verräterin strahlt.

Herr Große wünscht mir jeden Morgen einen guten Appetit. Er wünscht mir guten Appetit, niemals Frau Videns. Ich weiß, was ich zu tun habe. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.
Herr Große ist ein recht sympathischer Wärter. Wir haben hier einige Männer, die sich um uns kümmern. Herr Große kommt morgens. Haferbrei. Herr Stolze kommt mittags. Meistens irgendeine Suppe. Ziemlich dünn. Und zum Abendbrot gibt es Brot von Herrn Not. Herr Not ist klein und eingefallen, hat eine Glatze und eine dicke Nickelbrille. Er sieht immer so verkniffen aus. Er trägt, würde ich sagen, seinen Namen zu Recht. Immerhin, über das Brot und den Aufstrich kann man nichts Schlechtes sagen. Käse und Wurst. Heute sogar mit einem Hauch von Petersilie.
Ich schlecke mir die Krümel von den Fingern. Der Plastikteller und das Tablett werden gleich wieder abgeholt, also schiebe ich sie unter dem Gatter durch. Frau Videns sieht mir dabei zu und winkt. Ich putze meine Zähne und lege mich ins Bett. Heute habe ich den ganzen Tag kein Wort mit ihr gesprochen. Ich gedenke auch nicht, das zu ändern. Genug ist genug.
Herr Not trippelt heran und sammelt unser Plastikgeschirr ein. Ich vermute, ich könnte schon an den Geräuschen, die sie dabei machen, den jeweiligen Wärter ausmachen. Herr Nots Knie knacken, wenn er sich bückt. Wenn man ihm dabei zusieht, dann wird sein kleiner, dicker Kopf ganz rot.
Frau Videns räuspert sich.
Ich reagiere nicht.
Sie räuspert sich noch einmal.
Ich dreh mich auf die andere Seite und leg mit das Kissen aufs Ohr.
Das Licht geht aus und Frau Videns bekommt einen heftigen Anfall. Sie hustet, sie schnappt nach Luft, sie röchelt. Das kann ich sogar durchs Kissen hören.

Bei meiner Einweisung, die Jahre zurückliegt, erhielt ich ein paar gute Ratschläge, wie im besten Falle zu handeln sei. Sinnvoll wäre es, laut und deutlich um Hilfe zu rufen. Der Gang würde den Hall der Stimme so weit tragen, dass schon jemand aufmerksam würde.
Ich vergaß den roten Knopf zu erwähnen, der außerhalb der Zellen angebracht ist. Ich könnte aufstehen, meinen Arm ausstrecken, an der bröckligen Mauer entlang fühlen und den Schalter drücken. Aber ich vergaß.
Ich könnte Frau Videns retten.
Ich habe eigene Pläne.

Es ging schnell. Irgendwann schlief ich ein, ohne noch einmal nach ihr zu sehen. Ich entdecke sie am nächsten Morgen, als mein Blick auf ihren verrenkten Körper am Boden fällt. Auf die blauen, dicken Adern an ihren Beinen. Jetzt sollte ich um Hilfe rufen, damit kein Verdacht aufkommt. In gewisser Hinsicht aber bin ich froh, dass alles so gekommen ist, wie ich es gehofft hatte. Ich bin sogar ziemlich zufrieden, muss ich sagen. Denn bald habe ich eine Freundin namens Anima, die mir erzählt, was sie sieht. Die Hoffnung stirbt nie.

Männer kommen und transportieren Frau Videns sterbliche Überreste aus der Zelle. Sehnsüchtig blicke ich in den leeren Raum. Reinungskräfte kommen und putzen alles blank. Im blauen Boden könnte man bestimmt ein Spiegelbild erkennen, zumindest aber einen verzerrten Abdruck. Andere kommen, die mich fragen, ob ich etwas gesehen oder gehört habe. Ich antworte, dass ich nichts gehört hätte.
„Sie war alt“, sagen die Leute, kritzeln etwas auf ein Blatt, das ich unterzeichne. Dann gehen sie. Den ganzen Tag erfreue ich mich daran, wie sauber mein neues zu Hause blitzt. Später gehen die Lampen aus, es ist Nacht. Noch nie habe ich mich so sehr auf den Morgen gefreut.

Als Herr Große kommt, um mir „guten Appetit“ zu wünschen, da stehe ich schon am Gitter.
„Herr Große?“, frage ich zaghaft.
Er sieht mich an, leicht verdutzt.
„Ja ja“, antwortet er dann, „genau so.“
„Wissen Sie, …“ Ich zeige mit dem Finger in die leere Zelle. Er sieht hinüber, sieht dann mich wieder an.
„Tragisch, ja, tragisch.“
Ich spiele ein wenig mit dem obersten Knopf des grauen Nachtgewands, um den Köder auszulegen. Sein Blick bleibt dort hängen. Ich seufze.
„Ich wünschte, ich könnte in ihre Zelle ziehen. Um ihr näher zu sein, wissen sie? Ich würde es nicht ertragen, jemand anderes darin zu sehen. Sie könnten doch gewiss etwas erreichen?“
Der Knopf ist offen. Die Falle schnappt zu.
„Ich kann“, sagt Herr Große und durchbohrt mich fast mit seinen Augen.
Als er zurückkommt, habe ich den Haferbrei gegessen und er bringt gute Nachrichten. Er lächelt mich an, ich lächle zurück. Dann öffnet er das Schloss.


Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass mein Wunsch einmal in Erfüllung geht. Ich bin am Ziel meiner Reise. Ich habe den Gipfel betreten und werde bald die Aussicht genießen.
Ich bin in Frau Videns Zelle. Ich habe alles geschafft, was ich wollte.
So lüfte ich also, um den letzten Akt zu begehen, den Vorhang des Fensters. Zaghaft, vorsichtig, behutsam. Dieselbe graue Gardine, die in meiner Zelle hängt, aber eben eine, mit einem gewissen Ausgang, einem sicheren Ende. Noch habe ich die Augen geschlossen, doch flüstere ich schon ihren Namen. „Anima“, „Anima“ – und noch einmal „Anima“.
„Bist du da?“
Ich komm mir vor, wie ein Liebender am Fenster seiner Angebeteten. Mein Herz rast, meine Hände zittern, mein Atmen ist kurz und flach. Die Augenlider wollen sich nicht öffnen, pure Spannung, erwartungsfrohe Vorfreude hält sie geschlossen. Ich will bis zum letzten Moment davon kosten. Dieser letzte Moment, bevor der Gipfel erreicht ist, diese letzten zwei, drei Schritte. Es sind die schwersten von allen.
Drei.
Zwei.
Eins.
Auf.

Dort ist ein Raum. Ein Lagerraum. Ein süßlich saurer Geruch strömt mir entgegen, frisch und rund. Ich sehe eine Farbe: Orange in kleinen Kügelchen.
„Anima!“, rufe ich noch einmal, obwohl sich das böse Gefühl in mir ausbreitet, dass dort nichts weiter sein wird als Berge aus Orangen.
Orangen, die ich zwar sehen und riechen, aber niemals schmecken werde.
Sie duften dort,
sind doch zu weit fort,
fern, an einem anderen Ort.
Oh weh!

„Wie heißen Sie?“, fragt mich eine dünne Stimme aus der gegenüberliegenden Zelle. Ich sehe mich verwirrt um. Eine Zelle. Eine Zelle? Sie sieht aus wie meine, nur spiegelverkehrt. Dunkelblau gestrichen, Pritsche, Toilette und Stuhl.
„Ich?“, frage ich.
„Geht es Ihnen gut?“, fragt sie. Ein junges, blasses Mädchen.
„Jaja, doch, doch“, sage ich und versuche mich zu entsinnen, wie ich heiße.
„Wir sind sozusagen Zimmernachbarn“, sagt sie.
„Zimmernachbarn … Nachbarn …“, murmle ich. Noch grüble ich, aber am Ende des Tunnels ist Licht. Und Hoffnung. Nur niemals hinter den Vorhang schauen, dämmert es mir.
„Oh ja!“, in meinen Gedanken leuchtet mein Name auf, „Ich bin Frau Videns.“
„Freut mich, Frau Videns“, sagt das Mädchen und lächelt. „Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich habe eine Bitte. Ob ich wohl Zettel und Stift von Ihnen leihen könnte?“
„Was wollen Sie schreiben?“, fragt Frau Videns.
„Eine Geschichte“, sage ich. „Ich will Ihnen nicht zu viel verraten. Ich habe meine Prinzipien. Aber den Anfang, den will ich Ihnen nennen.
Und so beginne ich.
„Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem winzigen Raum, vielleicht fünf Quadratmeter klein. Es gibt ein Fenster, aber die Vorhänge sind geschlossen.

 

Mit einem kleinen Widmungs-Gruße an den allbekannten Herrn F.
Oder
Das kommt halt dabei raus, wenn ich zu viel von Ihnen lese. ;)

 
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Hej Reiki WuWu,

hat mir als kleines Gedankenspiel ganz gut gefallen und mich an den Film "Cube" erinnert.
Warum Frau Videns letztendlich von Anima und der Welt draußen erzählt, ist mir nicht ganz klar

Meine Frage dazu wäre, was dieser Orangen-Berg an sich hat, dass er sie dazu verleitet, auf ihre alten Tage nochmal so aufzudrehen

aber vielleicht spielt das nur eine untergeordnete Rolle. Die Hintergründe werden nur angerissen, also vermute ich, dass es Dir um tiefgründige Botschaften gar nicht ging.

Ein paar Gedanken:

ich habe Angst ...
Wenn ich nicht gucke, kann ich Hoffnung haben.
Schön erklärt, dieses Dilemma.

und waren doch immer derselben Meinung.
Schade hier, dass sie nur meinen. Immerhin geht es hier um ihre ganze kleine blaue Welt, da hätte ich schon erwartet, dass sich da etwas mehr tut, dass man stärker involviert ist als dazu bloß eine (bis hierhin gänzlich unbegründete) Meinung zu haben.

Eines Abends, es war Winter und draußen alles dunkel
Was ist Winter, wenn man nur die blaue Zelle kennt?

Ihre Befürchtung, wertes Fräulein,
bis hierher war Frau Videns Gegenüber für mich ein Mann.

Haferbrei im denkbar ungünstigsten Moment.
Toller Satz! Dazu möchte ich gerne die Geschichte hören, ganz ehrlich. Hier verstehe ich ihn nicht richtig, weil Herr Großes Auftauchen nichts verhindert oder unumkehrbar verschiebt und nur sehr kurz dauert.

Gern gelesen & viel Spaß noch hier.

Gruß
Ane

 

Hola Reiki Wuwu,
schreiben kannst Du - das muss der Neid Dir lassen! Fabelhaft.

Ich halte das für eine große Leistung, eine Geschichte in diesem engen Rahmen so zu gestalten, dass der Leser dran bleibt. Bis zum Schluss hatte ich ein wirkliches Lesevergnügen, obwohl ich mir sicher bin, nicht alles so verstanden zu haben, wie Du es angelegt hast.
Seit Deiner Geschichte mit der Küchenwaage traue ich Dir nicht nur Tiefgang zu, sondern ich erwarte ihn auch. Bei Dir muss man auf der Hut sein! Deswegen werde ich die 'Blaue Zelle' ein zweites Mal lesen.
Alle Achtung und einen schönen Gruß!
Joséfelipe

 
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Herr Not ist klein und eingefallen, hat eine Glatze und eine dicke Nickelbrille. Er sieht immer so verkniffen aus. Er trägt, würde ich sagen, seinen Namen zu Recht.

Hoppla,
„Eine Geschichte“, sage ich. „Ich will Ihnen nicht zu viel verraten. Ich habe meine Prinzipien. Aber den Anfang, den will ich Ihnen nennen.[“]

sehr geehrte Frau Wuwu (schöner Name, ist das Mandarin?),

was tustu da! Jetzt ist der sehr geehrte Herr F geplatzt. Ekelhaft!, sag ich Dear, all dieses Fleisch und diese Körpersäfte, da reicht kein Aufnehmer und Eimer. Die Kohleschaufel muss es richten und dann der Schrubber und ich wechsel vorsichtshalber meine Identität, aber nicht auf Niederländisch, da sei Gott vor, denn Frau V. klingt fast wie Herrn Fs Hausname und jeder lautet „[vi: den]“ als Frage, in Schriftform für die Tauben: Wie denn?

Und Anima, die gute Seele, animiert weiter. Die Gefängniszelle als Einzelzelle realisiert Leibniz’sche Monade mit dem Guckloch als Ausblick in die Welt, ein ewiger Kreislauf des Immergleichen auf technisch höherem Niveau, wie gerade eben im Modell C dargelegt. Aber ich werde die Identität wexeln und muss dann doch aufmerken lassen, in der Reihenfolge der Erscheinung – und, so behaupte ich: Flüchtigkeit! Reiki, Du musst nicht weglaufen … wo wolltestu denn hin?

Ich habe Angst, dass das, was ich draußen sehen könnte, so schön ist, dass es mir mein Dasein auf den blauen Metern unerträglich macht.
Vllt besser Konjunktief (könnte auch als Abschlusszitat stehen)*
Verließ
Kommt nicht von verlassen, sondern „verlieren“ /Verlust: Verlies
Und ich tat[,] als würde ich schlafen, denn ich bin jung und mich kümmert das Alter nicht.
„Aber sie haben doch auch eines.“
Ich bewundere Sie aufrichtig für ihren Mut.
Manchma' verlässtu die Höflichkeitsform. Aber es ist ja keine Geschichte des Hoflebens ...

„Sehen und hören Sie doch selbst!“, sage Frau Videns.
„Ich wünschte[,] ich könnte in ihre Zelle ziehen.
Ich nie zu träumen gewagt, dass mein Wunsch einmal in Erfüllung geht.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Vroidenreich Weinsteg am Steinweg

 

Ane
Danke für Dein Feedback!

Warum Frau Videns letztendlich von Anima und der Welt draußen erzählt, ist mir nicht ganz klar
Ich würde sagen, dass das so ein "letztes Aufbäumen" vor ihrem sicheren Ende ist. Ein Versuch, das Schicksal, das ihr wiederfahren wird, abzuändern. Sie weiß ja, was passiert, denn einst war sie selbst das Mädchen gegenüber in der Zelle.
Orangen ... hm. Gute Frage. Das sind Sonnenfrüchte. Orange ist die Komplementärfarbe zu blau. --- Das sagt das Traumlexikon zur "Orange" (auch als Farbe).

"Orange stellt den Wärmepol des Spektrums dar und symbolisiert damit auch das Mitgefühl.
Orange symbolisiert im Traum Lebensfreude und emotionale Wärme, Sie durchleben gerade eine Zeit, die Sie besonders dazu herausfordert, Ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und etwas zu tun."

Deswegen also die Orangen. Es hätte aber vielleicht auch etwas anderes sein können. Ich aber "sah" Orangen. Fand ich erst etwas bekloppt, aber dann ergab es Sinn.


Bei der Meinung und beim Winter bin ich bei Dir. Ich ändere es!


joséfelipe
Danke für die Blumen. Ganze Rosenbüsche, die Du kredenzt. Ich muss mal was von Dir lesen und mich revanchieren. :)

Friedel
Diese Anführungszeichen habe ich bewusst so gesetzt, von wegen Geschichte in Geschichte und so. Aber wenn sie zu sehr stören ob ihrer Unkorrektheit, kann ich das gerne noch ändern.
Bistu geplatzt? Ich hoffe doch! Kannst schon stolz sein, wenn du magst - das Geschick verdanke ich zum großen Teil auch Deiner unermüdlichen Beredsamkeit.

Und tausend Danke für das Herausfiltern der Rechtschreiberli, meiner Freinde.


Aber ich will mich nicht zu sehr bürsten. Es gibt bestimmt Kritikpunkte. Ich würd mich freuen, wenn ihr sie nennt.
Mich interessiert vor allem die "Ich-Erzählerin", wie sie ankommt, ob ich die Perspektive einhalte usw.


Muchas Gracias!

Reiki

 

Wer den Blocksberg von Morgen her besteigt (ob perpedes, auf dem Hexenbesen oder auch mit freundlicher Unterstützung der Brockenbahn), der findet seltsame Ortsnamen wie Not und Elend vor und die drei Männer Deiner Geschichte, tragen auch seltsame Namen „Große, Stolze, Not“, obwohl doch niemand auf irgendeine Not stolz sein könnte.

Liebe Reiki,

ich werd mal nicht die auch mögliche Deutung über Spiegelungen/mir und dem andern,/Leib-Seele (Anima!) und Gepaltenheit (zwo bis unendlich viele Seelen ruhen, ach, in meiner Brust, eigentlich doch mehr im Schädel), sondern vom Gesellschaftlichen her zu deuten wagen (kann eigentlich nach Marcuse und momentan Piketty gar nicht anders sein), aber auf jeden Fall, um die Anfrage vorweg zu beantworten: Die Perspektive(n) können gar nicht anders sein, außer "ich" wäre ein "Anderer", der Ich aber werde, wenn nicht schon bin.

Frau Videns und/oder Ich, aber auch die liebliche Anima – allesamt Zellennachbarinnen der immergleichen Zelle(n), die unterschiedliche Altersstufen beschreiben, werden zu Anfang ihrer Niederschrift im Einklang mit der Offenbarung des Johannes behaupten

Denn am Anfang war das Wort
womit neben gelegentlichen kafkaesken Szenen (besonders in Dialogen) die Quelle Deiner Inspiration sich auftut zwischen „Wort“ und „Tat“: „Geschrieben steht: ‚im Anfang war das Wort!’ / Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / Ich muß es anders übersetzen, / Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. / Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. / Bedenke wohl die erste Zeile, / Daß deine Feder sich nicht übereile! / Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? / Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! / Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, / Schon warnt mich was, daß ich dabey nicht bleibe. / Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rath / Und schreibe getrost: im Anfang war die That!“ (Hinweis: alte Schreibweise bewusst gelassen!)

Die Tat ist dann das Pivot-Element, den Kreislauf des Geschehens, das Rad der Geschichte zu drehen im Immergleichen trotz Wandels vom Kind, das wünscht, erwachsen zu sein, und der Umkehrung im Alter, wieder jung, zumindest jünger zu sein – ich > videns/Genitiv von „wie denn?“ > anima. Ich möchte noch mal 20 sein (natürlich nicht unbedingt, aber 42 tät’s auch schon).

Ich schrieb schon gestern, dass die Einzelzelle die Realisierung der „leibnizschen Monade“ = die letzte individuelle Einheit sei (den Vergleich hat übrigens als erster Max Horkheimer ausgesprochen, weshalb jetzt auch meine Arbeit sehr vereinfacht wird).

Im Mittelalter wurden Fürstenkinder eingekerkert („Verlies“, sie wurden verlassen, oder ins Kloster gesperrt, „geschoren“ wird’s dann genannt), sofern sie Erbansprüche symbolisierten, Verbrecher - oder wen man dafür hielt - wurden (oft öffentlich) hingerichtet.

Die bürgerliche Welt braucht Arbeitskräfte, da wird der Verbrecher (und gelegentlich nur mutmaßliche Täter) ins Zuchthaus (d. h., er soll erzogen, resozialisiert werden, was das Wort Gefängnis verschweigt) gesteckt. Er wird buchstäblich Gefangener der bürgerlichen Ordnung, wie Deine Prot. »Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein oder heraus kann. Die Akzidentien können sich nicht ablösen oder außerhalb der Substanzen umherspazieren … Weder Substanz noch Akzidenz kommt von außen in eine Monade hinein.« Der/die Gefangene ist der Idealtyp des bürgerlichen Subjekts (auch in seiner positiven Bedeutung). »Der Mensch im Zuchthaus ist das virtuelle Bild des bürgerlichen Typus, zu dem er sich in der Wirklichkeit erst machen soll. Denen es draußen nicht gelingt, wird es drinnen in furchtbarer Reinheit angetan. Die Rationalisierung der Existenz von Zuchthäusern durch die Notwendigkeit, den Verbrecher von der Gesellschaft abzusondern, oder gar durch seine Besserung, trifft nicht den Kern. Sie sind das Bild der zu Ende gedachten bürgerlichen Arbeitswelt, das der Haß der Menschen gegen das, wozu sie sich machen müssen, als Wahrzeichen in die Welt stellt. Der Schwache, Zurückgebliebene, Vertierte muß qualifiziert die Lebensordnung leiden, in die man selbst sich ohne Liebe findet, verbissen wird die introvertierte Gewalt an ihm wiederholt. Der Verbrecher, dem in seiner Tat die Selbsterhaltung über alles andere ging, hat in Wahrheit das schwächere, labilere Selbst, der Gewohnheitsverbrecher ist ein Debiler« (Zitate aus Adorno, Horkheimers Dialektik der Aufklärung), ein Debiler, oder sagen wir gemäßigter „der Schwache“ ist bei Dir sogar der Wärter Groß (man passt sich dem Milieu an, in dem man arbeitet, so gut es geht), der sich aus welchen Gründen auch immer verführen lässt. Alle sind sie/wir videns.

Gelungene Verbesserungen - auf jeden Fall!
Vordem

Schon oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und waren doch immer derselben Meinung.
nun:
Schon oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und teilten immer denselben Glauben.

Die Meinung ist in ihrer Bedeutung als „Ansicht“ eng mit dem Gesichtsfeld verbunden, aber Prot will ja gar nicht „dahinter“ schauen. Sie, die Meinung, ist immer mein (selbst wenn wir mal einer Meinung sind), Glaube ist neben dem „für wahr halten“ auch das Vertrauen (in das(den) Geglaubte(n)). Selbst wenn wir sagen, er wäre teilbar, so meinen wir keineswegs damit, dass er halbiert/geviertelt/... usw. würde, sondern er wird immer als Ganzes an andere mitgeteilt und gilt vor allem langfristig, die Meinung ist heute so und morgen anders - selbst als öffentliche (Offenbach personifiziert sie in Orpheus in der Unterwelt).
Ähnlich beim weggefallenen „Winter“, der eh dunklen Jahreszeit.

Gleichwohl muss noch mal nach der Höflichkeitsform geschaut werden, wie hier

„Ständig dieses Einerlei. Meine blaue Zelle, hre blaue Zelle, Sie in Ihrer Zelle. Es ist Zeit.“

und hier
„Das ist richtig. … Ich bewundere Sie aufrichtig für hren Mut.

Genug für heute vom

Friedel, der bestimmt nicht das letzte Mal vorbeigeschaut hat!

 

Hallo reiki wuwu!

Ein schönes Bild hast du mit der blauen Gefängniszelle geschaffen, ein Bild eines Menschen oder von Menschen allgemein, die in ihre Persönlichkeit eingesperrt sind (= Gefängnis): Vielleicht sieht man noch das Gegenüber, mehr nicht. Der Rest ist Vermutung. Die Eigenschaft der Zelle ist die Farbe blau, eine kalte Farbe, die mäßigend und beruhigend wirkt. Von dem Hellblau zum Dunkelblau streckt sich das Gefühl von himmlischer Harmonie bis zur Melancholie.
Dein Blau, wohl ein mittleres, symbolisiert die Sehnsucht nach dem Jenseits der Mauern. Wenn man die Mauern als die unverrückbaren Konstanten der menschlichen Persönlichkeit sieht (wie ich es tue), dann ist der Umzug in die Zelle Frau Videns nicht möglich, denn die Konstanten der Persönlichkeit sind nicht zu änderbar. Letzten Endes hast du dann nur ein eindruckvolles Bild für die menschliche Existenz geschaffen.
Frau Videns in der Rolle der Seherin (videre) findet zwar Zugang zu ihrer Anima (weiblicher Seelenanteil), was aber die Geschichten nicht weiterbringt, denn die Anima sieht auch nur eine Straße mit Sitzbank – das ist dann auch langweilig.
Und so endet die Anstrengung der Protagonistin im Rundlauf, die Anima will nun schreiben und wird wohl Ähnliches schreiben wie hier vorliegt.
Mein erste Lektüre hat mich begeistert, die zweite (wie immer) ruft Bedenken hervor.
Die biblische Anspielung "Denn am Anfang war das Wort" sollte man vergessen. Es ist ja kein Anfang und die Anspielung auf religiöse Dimensionen finden keinen weiteren Widerhall. Sinnvoll wäre es nur dann, wenn die Existenz sich in dem Wort auflöst. Immerhin schreiben sie ja. Aber das führt den Blick nach innen, nicht zu den Orangen oder gar zur Bank.
Drei Anteile an einer Persönlichkeit hast du beschrieben: die Seele, die Sehende und die Handelnde (sie zieht um!?). Ich, Es, Über-Ich?
Mir erscheint es treffender, alle drei in eine Zelle einzusperren. Dann hat man eine "Geschlossene Gesellschaft", die Hölle, oder man beckettisiert sie in eine Mülltonne.
Es ist ja keine realistische Geschichte, die vorgibt, Wirklichkeit zu beschrieben, sondern eine "seltsame" Geschichte, die also selten geschieht und deshalb eine Be-Sonderheit ist. Das Besondere, das absondert in einen blauen Raum, spielt keine Rolle. Es ist auch nicht das Absurde, auch nicht Deus absconditus, das Nichts vielleicht?
Die Rätselstellung ist dir schon gelungen, insgesamt wünschte ich mir eine größere Geschlossenheit, eine hermetische Geschichte, die ver-zaubert.
Auch stören die Männer, die eigentlich überflüssig sind. Sollten es drei Antagonisten sein, kämen sie zu kurz.
Ein sehr schöner Entwurf war das, spannend zu lesen, die Aussagekraft könnte noch verstärkt werden.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 

Hallo Reiki Wuwu,

du hast ja schon Lob eingefahren, deswegen verkraftest du jetzt sicher auch einen Verriss ;)

Die Idee des Textes finde ich gut, aber die Umsetzung find ich nicht so dolle. Auf mich wirken die Sätze nicht geschliffen genug. So ein bisschen was hat das von einer ersten Version. In meiner Empfindung fehlt hier das nötige Sprachgefühl.
Auf inhaltlicher Eben finde ich einige Dinge etwas plump dargestellt oder nicht nachvollziehbar.
Ich pick dir mal einige Beispiele raus, damit du verstehst, was ich meine.

Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem winzigen Raum, vielleicht fünf Quadratmeter klein.
dieses vielleicht stört mich, weil es so beliebig klingt und für mich nicht zu einem Menschen passt, der in einer solch engen Zelle schon so lange Zeit verbracht hat. Wie oft wird er jeden Zentimeter abgelaufen sein? Ganz sicher hat er eine genauere Vorstellung von der Größe


Es gibt ein Fenster, aber die Vorhänge sind geschlossen. Seitdem ich hier lebe, sind sie zu.
es gibt ein Fenster? Ein äußerst schwaches Verb für diese Ankündigung. Wo gibt es das denn? Wie sieht es aus? Geschlossene Vorhänge? Finde ich auch nicht rund ausgedrückt. Kann man zwar sagen, aber sind sie nicht eher zugezogen? Auch geht es ja nicht um die Vorhänge, sondern um das, was sie aussperren. Und dann der Gipfel: sind sie zu. Das klingt so unelegant, so umgangssprachlich, das passt in meinen Ohren einfach nicht

Das ist besser als nichts.
als nichts passt für mich nicht, denn er hat ja eine ganz klare Ansage gemacht. Die Idee, die der Hoffnug voraus geht, finde ich gut :)

Mir gegenüber liegt ein anderes Verlies. Hinter seinem eisernen Gitter, gleich nach dem schmalen Flur,
also erstmal würde ich den Gleichklang ließ - Verlies meiden
ein anderes stimmt auch nicht. Denn es ist ja identisch. Ein weiteres vielleicht
Nach dem schmalen Flur? Wieder so ungeschliffen. Hinter?

In Verbindung mit so poetischen Ausreißern:

. Denn am Anfang war das Wort.
darf dieses unpräzise Alltagssprache einfach nicht sein. Das beißt sich

der uns trennt, wohnt Frau Videns.
ist dies das richtige Verb für ein Leben im Gefängnis, gerade noch mit Verlies umschrieben?

Wir unterhalten uns manchmal, aber viel bleibt nicht zu sagen, denn nichts passiert. Ich kenne sie, seitdem ich hier bin. Sie war schon vor mir hier.
auch hier wieder, das klingt in meinen Ohren nicht. Der Kursive Satz klingt wie nachgereicht

„Guten Morgen“, wünscht Frau Videns eines Morgens.
soetwas muss einem einfach auffallen, meine ich. (mal davon abgesehen, dass morgens klein geschrieben wird ;) )

Nun gut, ich könnte jetzt weiter so durch deinen text pflügen. Vieles kannst du jetzt einfach mit Geschmack abtun. Ich seh das womöglich zu streng. Dennoch würde ich dir raten, deinen Text noch einmal sorgfältig durchzugehen. Die Geschichte hast du ja, nun wäre - in meinen Augen- noch der Feinschliff dran. Vieles kann entschlackt werden, eine Menge Worte sollten auf die Goldwaage gelegt werden.

Ich hoffe, du kannst etwas mit meinem Kommentar anfangen :)

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Friedel

Danke noch mal für die Rechtschreiberlis. Ja, ich hatte Deinen Satz auch so verstanden, von wegen, guck mal selber. Ich glaube, ich könnte das jetzt auch. Ich werd mich morgen des Textes noch mal annehmen.

Deine wortreichen Ausführungen und Einblicke zu meinem Thema versteh ich, glaube ich, jetzt erst so annähernd.


@Berliner
Berlin ist eine schöne Stadt, gelle?
Wobei ich den Westen noch am schönsten finde.

Zur Sache: Ich bin beeindruckt von Deinem Selbstverständnis. Ich lese viel über Psychologie derzeit.
Und ich habe in der Tat auch gedacht: "Warum lass ich die Anima eigentlich nix anderes sehen als so eine gähnendlangweilige Szene." (Siehe Ich-Erzählerin, die nimmt diesen Gedanken ja auch auf.) Ganz ehrlich: Es hat sich so ergeben. - Und Du hast, finde ich, eine ganz passende Deutung gefunden: Frau Videns hat Zugang zu ihrer Anima, aber die ist -vielleicht zu verkümmert?- als dass sie ihr Rettung/Heilung/Hilfe sein könnte. Man darf ja auch nicht vergessen, dass Frau Videns ehemals das "Ich" war, das -anstatt sich selbst zu helfen- neidisch auf die andere schielte und sogar an ihrem Tod verantwortlich ist.

Aber zu Deiner Kritik: - erstmal herzlichen Dank -

und deshalb eine Be-Sonderheit ist. Das Besondere, das absondert in einen blauen Raum, spielt keine Rolle. Es ist auch nicht das Absurde, auch nicht Deus absconditus, das Nichts vielleicht?
Das verstehe ich leider gar nicht. Kannst Du das bitte noch mal umformulieren?

Am Anfang war das Wort. - Ertappt. Das ist (ähnlich wie die Sicht aus dem Fenster) etwas, das ich eher unbewusst in die Geschichte geschrieben habe. Wenn ich so darüber nachdenke, dann würde ich das antworten:
Wort und Bewusstsein - das ist doch miteinander verwandt.
En Archä hä o logós - Mal ganz schlecht transkribiert; am Anfang war das Wort - Joh. 1, 1.
usw. usf.

Drei Anteile einer Persönlichkeit ... hm. Nach Freud hättest Du recht, aber wer bitte ist Freud? Ich orientiere mich eher an William James, bzw. an den alten Griechen. Ich seh da viele Gemeinsamkeiten. Ist aber vielleicht nur meine wirre Weltsicht.
Auf Freud lässt sich die Geschichte nicht "runterbrechen" oder zumindest war das von mir nicht so angedacht. Ich hatte ihn dabei nicht im Hinterkopf.

Hermetisch von Hermes Trismegistos? :)
Ich kann´s ja mal versuchen. Mit dieser Geschichte, meine ich.

weltenläufer

Du hast recht. Schlicht und ergreifend. Daran hapert es bei mir. Bei vielen Deiner Beispiele dachte ich, ja, irgendwie hat er recht. Warum schreib ich das so - und nicht anders?
Gerade dein erstes Beispiel mit dem "vielleicht sounso groß".
Da tun sich ganz neue Welten auf, ob Deiner Frage. Wär schon interessant, wenn das "Ich" sich selbst, seinen "blauen Raum" bis ins Detail kennen würde (auf den Millimeter) und trotzdem nicht hinter den Vorhang schaut.

Ich bin mal gespannt, ob ich es entdecken und dann auch umzusetzen, im Sinne einer Verbesserung, vermag.

Aber:

mal davon abgesehen, dass morgens klein geschrieben wird
Wird es nicht! :) - Zumindest nicht als eines Morgens. Das ist wohl dieses Artikelsubstantivierdings. Ich hätt´s auch lieber klein geschrieben, aber Word hat es dann immer unterkringelt.

http://www.duden.de/suchen/dudenonline/eines Morgens

Vielen Dank für eure interessanten Gedanken!

Friedel
Und Mandarin wäre schön, im Hinblick auf die Orangen! (Isses aber nicht. Dafür fast mein echtes Ich).

Grüße euch!

Reiki

 

Am Anfang war das Wort. - Ertappt.
Allerdings ist Wort und Be-wusstsein nicht auch irgendwie miteinander verwandt?

Logos ist mehr als das Wort, es ist zugleich (in alphabetischer Reihenfolge) Begriff und Denkinhalt/Gedanke, Rede und Vernunft (bei Heraklit sogar „Weltvernunft“ und überhaupt die gesetzmäßige Ordnung des Kosmos), bei Philon gilt die Bibel als „Wort Gottes“ und im Johannesevangelium (Offenbarung und Evangelium sind wahrscheinlich nicht von ein und demselben J. Geschrieben) der „Sohn Gottes“. Was in Wort, Rede und Vernunft schon anklingt, „Sprache“ selbst fällt untern Logos, und was und wo, wenn nicht in der Sprache eines jeden Einzelnen, äußert sich sein Bewusstsein? Das da unbewusstes mitspielt ist ja auch keine Frage. Sonst würden wir vermutlich gar nix über einen selbst erfahren, das er gar nicht selbst "offenbaren" will
.
Und Mandarin wäre schön, im Hinblick auf die Orangen! (Isses aber nicht. Dafür fast mein echtes Ich).
Da werd ich zum Graf von Monte Krypto,

liebe Reiki,

Orange, der Apfel aus China (Apfel*sine), pomme d'orange, kam über die Niederlande
(oranje[!]appel) ins Norddeutsche (Oranienapfel)und dann in nhd. verkürzt zur Orange. Möglich , das die Farbe übers frz. „or“ für Gold hier einzog. Gelbrot steht dann für Sonne und Ewigkeit., blau ist die Farbe der Maria und steht für Reinheit, Treue, gar für den Himmel.

In Rimbauds Voyelles (Vokale), worinnen er den Farb-Ton der Selbst-Laute erkundet, wird blau dem „O“ gleichgesetzt
„O bleu / O, suprême Clairon plein des strideurs étranges, / Silences traverses des Mondes et des Anges“, von dem ich drei Übersetzungen kenne:

Stefan George „O: seltsames gezisch erhabener posaunen / Einöden durch die erd- und himmelsgeister raunen“, dann „O – höchstens Hornes markerschütternd Tuten; / Schweigen, durchkreuzt von Engeln und von Sternen“ (Duschan Derndarsky) und letztlich das Art Rimbaud Project „O: Orgelton bis zu den Wolkenrändern, / Befreit von allen Erdenschweren.“

Blau ist das Blau Marias, im Gegensatz zur durchs weiß symbolisierten Reinheit und absoluten Wahrheit. Hier aber – in Verbindung mit Rimbaud - tönt das Horn, vielleicht blasen sogar die Posaunen von Jericho ... Oder mit Rimbaud in der Hölle - was kann das Metall dafür, dass man es bläst? ARP scheint mir die angemessene Übersetzung zu sein.

Gruß

Friedel

 

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