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Meine blaue Zelle
Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem winzigen Raum, vielleicht fünf Quadratmeter klein. Es gibt ein Fenster, aber die Vorhänge sind geschlossen. Seitdem ich hier lebe, sind sie zu. Noch nie habe ich nach draußen gesehen – und ich werde es auch nicht tun. Ich habe Angst, dass das, was ich draußen sehen könnte, so schön ist, dass es mir mein Dasein auf den blauen Metern unerträglich macht. Oder, was ich genauso fürchte, es könnte ganz furchtbar hässlich sein. Wenn ich nicht gucke, kann ich Hoffnung haben. Das ist besser als nichts.
Mir gegenüber liegt ein anderes Verlies. Hinter seinem eisernen Gitter, gleich nach dem schmalen Flur, der uns trennt, wohnt Frau Videns. Wir unterhalten uns manchmal, aber viel bleibt nicht zu sagen, denn nichts passiert. Ich kenne sie, seitdem ich hier bin. Sie war schon vor mir hier. Einst schenkte sie mir Zettel und Stift, damit ich schreiben kann, was ich jetzt schreibe. Denn am Anfang war das Wort.
„Guten Morgen“, wünscht Frau Videns eines Morgens.
„Ist das ein guter Morgen?“, frage ich, blinzle und rapple mich auf von der schmalen Pritsche, auf der ich Nacht um Nacht ruhe.
„Gewiss“, sagt sie. „Heute werde ich den Vorhang öffnen. Ich habe es satt, ja, ich habe es satt.“
„Sie haben es satt?“, frage ich und mein Interesse ist genauso wach wie ich. Frau Videns ist schon angekleidet und frisiert. Ernst sieht sie mich an.
„Ständig dieses Einerlei. Meine blaue Zelle, Ihre blaue Zelle, Sie in Ihrer Zelle. Es ist Zeit.“
„Überlegen Sie es sich gut!“, rufe ich. „Sie könnten die Hoffnung verlieren!“ Mein Herz klopft, meine Hände zittern. Schon oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und teilten immer denselben Glauben. Sie zu lüften würde in jedem Fall nur Schlechtes nach sich ziehen. Heute aber wirkt Frau Videns entschlossener denn je. Wird sie wirklich … ?
Und mein aufkeimender Protest wird überwältigt von einer Welle aus Neugier, als sie sich umdreht und zum Fenster geht.
„Seien Sie vorsichtig …“, wispere ich und beobachte mit grauenvollem Behagen, wie sich Frau Videns an der Gardine zu schaffen macht.
Ihre Zelle ist genauso klein wie meine. Genauso blau. Ein tiefes, dunkles Blau. Eine einzelne Glühbirne baumelt an einem Kabel von der Decke. Sie besitzt Pritsche, Stuhl und Tischchen, in der hinteren Ecke eine Toilette und Waschbecken. Dieselben grauen Gardinen. Genauso sieht es in meiner Zelle aus, allerdings sind die Möbel spiegelverkehrt angeordnet. Wir könnten ein und dieselbe sein, sind es aber natürlich nicht, denn wenn ich in Frau Videns´ Gesicht sehe, dann sehe ich nicht meines, wobei – Spiegel gibt es nicht.
Auch darüber haben Frau Videns und ich uns unterhalten. Sie schlug damals vor, die Spiegelung des Fensters zu nutzen. Eines Abends, draußen war alles dunkel, tat sie es auch, nur um festzustellen, dass sie um Jahre gealtert war. Und ich tat, als würde ich schlafen, denn ich bin jung und mich kümmert das Alter nicht.
Sie schiebt den Vorhang mit der flachen Hand ein wenig zurück. Seitlich lugt sie hindurch. Licht fällt auf ihr faltiges Gesicht. Schatten füllen die tiefen Runzeln, Schein tanzt auf den feinen Erhebungen. Riesige Täler zwischen schneebedeckten Hügeln.
Sie flüstert etwas, runzelte die Stirn, reibt sich die Augen.
Wie alt mag sie sein, frage ich mich. Auch ihr Haar, das ich grau in Erinnerung hatte, erstrahlt in hellem Alabasterweiß. Was mag sie sehen?
Der Vorhang fällt.
„Was haben Sie gesehen?“, keuche ich.
Frau Videns dreht sich zu mir und sieht zufrieden aus. Ihre Augen funkeln, ja, sie strahlen gar.
„Och, da ist nichts Besonderes …“, sagt sie, setzt sich auf den Stuhl und faltet die Hände.
„Aber Sie sehen so … zufrieden aus!“, protestiere ich.
„Das ist nichts“, wehrt Frau Videns ab, doch ihr Lächeln straft sie einer Lüge.
„Nun sagen Sie schon!“
„Vielleicht wollen Sie auch einmal gucken?“
„Aus Ihrem Fenster? Das geht doch nicht!“
„Nein“, sagt sie und macht eine leichte Handbewegung. „Aber aus Ihrem Fenster.“
„Niemals!“, rufe ich entrüstet.
„Nun machen Sie schon, trauen Sie sich. Das ist wirklich gar nicht so schwer!“
„Frau Videns“, ich stehe auf und laufe unruhig hin und her. „Frau Videns. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich kann und ich werde nicht gucken. Ich kann nicht sicher sein, dass es mir so ergeht wie Ihnen. Es sei denn, ich schaue aus Ihrem Fenster!“
„Aber Sie haben doch auch eines.“
„Das ist richtig. Dennoch. Lang und breit haben wir dieses Thema besprochen. Ich bewundere Sie aufrichtig für Ihren Mut. Und trotzdem: Ich kann es nicht. Bitte akzeptieren Sie das.“
Frau Videns seufzt. Wir kennen uns schon lange. Sie scheint zu wissen, dass sie mich nicht dazu bringen wird, den Vorhang zu lüften. Ich lege noch einmal nach: „Ach, erzählen Sie mir doch, was Sie gesehen haben! Vielleicht führt Ihre Erzählung dazu, dass ich meine Meinung ändern kann!“
„Nun gut“, sagt sie. „Dann will ich Ihnen sagen, was ich sah. Ihre Befürchtung, wertes Fräulein, dass das Bild zu schön ist oder zu hässlich, ist gänzlich zu verwerfen. Alles, was ich sah, sehe ich auch, wenn ich zu Ihnen hinüberblicke. Ich sah eine Dame, die in einer Zelle lebt, einer dunkelblauen Zelle, mit exakt einer Pritsche, Stuhl und Tisch, - einem Bereich für die Hygiene. Und ein Fenster.“
„Das gibt es doch nicht!“, rufe ich aufgebracht. „Also sind alle Befürchtungen umsonst, wenn dort, hinter dem Vorhang, alles so ist wie hier!“
Ich muss mich setzen.
„Wollen Sie es nicht selbst einmal versuchen?“, versucht Frau Videns es erneut.
„Nein. Aber erzählen Sie von der Frau!“
„Sie sagte mir, dass sie gerne aus ihrem Fenster sieht.“
„Sie tut es also?“, frage ich. Ob Frau Videns mich zum Narren halten will? „Was kann sie sehen? Eine Frau in einer Zelle?“
Frau Videns fährt fort mit ruhiger Stimme, sitzend auf dem Stuhl, die Hände gefaltet, manchmal spreizt sie einen Finger ab.
„Das will sie mir erzählen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich das wissen will.“
„Sie müssen sie fragen“, sage ich augenblicklich. Vielleicht, um mich zu vergewissern, dass Frau Videns die Wahrheit sagt, vielleicht, weil meine Neugier brennt.
„Sehen und hören Sie doch selbst!“, sagt Frau Videns.
„Wie ich schon sagte“, sage ich – und ich sage es leise, denn so langsam macht sie mich zornig – „Nein.“
Ich drehe ihr den Rücken zu und verschränke die Arme.
Einst habe ich Stunden, nein, Tage so gesessen, sie keines Blickes gewürdigt, denn sie wollte mir eine Orange, die aus meiner Zelle versehentlich in die ihre gerollt war, nicht zurückgeben. Sie wollte sie selber fressen, aber ich schwieg. Nach dreißig Stunden kullerte der runde Ball unbeschadet zurück an meine Füße. Ich nahm sie, pellte sie, aß sie und redete zwei weitere Tage kein Wort mit der Alten.
„Gut“, sagt Frau Videns. „Ich weiß, was Sie zu tun imstande sind. Ich möchte keinen Streit mit Ihnen. Ich werde die Frau fragen.“ Ich drehe mich zurück zu ihr und lächle. Sie steht auf und geht ans Fenster.
In diesem Moment quietschen Türen, hallt der Korridor von Schritten, schweren Stiefeln, die in unsere Richtung laufen. Herr Große, unser Gefängniswärter, bringt das Frühstück herbei. Haferbrei im denkbar ungünstigsten Moment. Er schiebt das Tablett unter Frau Videns Gatter hindurch. Dann dreht er sich zu mir und sagt: „Lassen Sie es sich schmecken.“
Das Tablett wird hindurchgeschoben, gleiche Größe, gleiche Form. Gleicher Haferbrei. Immer dasselbe Einerlei.
Herr Große verschwindet.
„Ich habe keinen Hunger“, zische ich. „Fragen Sie die Frau!“
Frau Videns bückt sich nach ihrem Frühstück, nimmt Schälchen und Löffel, rückt den Stuhl ans Fenster und verschwindet unter der Gardine. Der graue Vorhang verdeckt sie, ich höre sie schmatzen und kichern. Den Haferbrei rühre ich nicht an. Gespannt lausche ich. Endlich kommt Frau Videns unter der Gardine hervor.
„Die Dame heißt Anima und sie erzählte mir Folgendes: Draußen vor ihrem Fenster ist eine kleine Straße. Dort beobachtet sie die Menschen. Direkt auf der anderen Straßenseite befindet sich eine Bank. Dorthin setzen sich die Menschen. Sie sagt, es sei ein schöner Tag. Die Dinge verhalten sich genauso, wie sie es schon immer taten.“
„Das ist sehr gut so, auch wenn es ausgesprochen langweilig klingt“, sage ich und ich bin höchst zufrieden mit ihrer Antwort und meiner Standfestigkeit.
Um ehrlich zu sein, ich frage mich oft, was wohl hinter meinem Vorhang sein könnte. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, dorthin zu blicken, zu träumen, mir vorzustellen, was dahinter steckt. Aber ich habe es schon erklärt. Für mich besteht der Reiz darin Hoffnung zu haben, nicht darin zu handeln. Eine Enttäuschung würde ich nicht verkraften. Sie würde meine Seele brechen. Dessen bin ich gewiss.
„Ein schöner Tag“, beginnt Frau Videns und kommt unter dem Vorhang hervor. Ich bin überrascht, anscheinend hat sie, während ich nachdachte, die fremde Frau noch einmal befragt. „Ein schöner Tag, das ist laut Anima ein Tag, an dem die Sonne scheint. Es ist aber nicht nur der Schein, sondern vielmehr das, was das Licht mit den Menschen macht. Anima sagt, dass sie dann ganz anders über die Straße gehen. Viel leichter und beschwingter.“
„Hm“, gebe ich von mir, hebe den Haferbrei vom Boden und setze mich auf meinen Stuhl. Ein Löffel folgt dem anderen. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin. Und ich muss an die Orange denken.
Die Tage vergehen. Frau Videns hält sich an unsere Abmachung. Für mich verschmilzt der graue Vorhang mit der Wand der Gefängniszelle. Ich erlaube mir nicht mehr, dorthin zu gucken. Doch manchmal ertappe ich mich dabei, wenn Frau Videns von Anima erzählt. Ich glaube, ich wünschte mir eine Freundin, die all diese Dinge sieht und mir erzählt, doch wer weiß, wen ich hinter dem Vorhang finden würde.
Diese Anima sieht nur Angenehmes da draußen vor ihrem Fenster. Frau Videns kichert und lacht, wenn sie mit ihrer Freundin spricht. Ich glaube, ich bin eifersüchtig. Vielleicht bin ich auch neidisch. Ein wenig.
In Wahrheit aber ist es doch unerhört, wie Frau Videns sich verhält. Im Prinzip, wenn man es sich recht überlegt, hat sie das, was wir uns beide vorgenommen haben, nicht eingehalten. Je mehr Gekicher ich höre, je mehr Tage vergehen, desto ekelhafter fühlt es sich an. Kaum noch schmeckt mir der Haferbrei. Doch die Verräterin strahlt.
Herr Große wünscht mir jeden Morgen einen guten Appetit. Er wünscht mir guten Appetit, niemals Frau Videns. Ich weiß, was ich zu tun habe. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.
Herr Große ist ein recht sympathischer Wärter. Wir haben hier einige Männer, die sich um uns kümmern. Herr Große kommt morgens. Haferbrei. Herr Stolze kommt mittags. Meistens irgendeine Suppe. Ziemlich dünn. Und zum Abendbrot gibt es Brot von Herrn Not. Herr Not ist klein und eingefallen, hat eine Glatze und eine dicke Nickelbrille. Er sieht immer so verkniffen aus. Er trägt, würde ich sagen, seinen Namen zu Recht. Immerhin, über das Brot und den Aufstrich kann man nichts Schlechtes sagen. Käse und Wurst. Heute sogar mit einem Hauch von Petersilie.
Ich schlecke mir die Krümel von den Fingern. Der Plastikteller und das Tablett werden gleich wieder abgeholt, also schiebe ich sie unter dem Gatter durch. Frau Videns sieht mir dabei zu und winkt. Ich putze meine Zähne und lege mich ins Bett. Heute habe ich den ganzen Tag kein Wort mit ihr gesprochen. Ich gedenke auch nicht, das zu ändern. Genug ist genug.
Herr Not trippelt heran und sammelt unser Plastikgeschirr ein. Ich vermute, ich könnte schon an den Geräuschen, die sie dabei machen, den jeweiligen Wärter ausmachen. Herr Nots Knie knacken, wenn er sich bückt. Wenn man ihm dabei zusieht, dann wird sein kleiner, dicker Kopf ganz rot.
Frau Videns räuspert sich.
Ich reagiere nicht.
Sie räuspert sich noch einmal.
Ich dreh mich auf die andere Seite und leg mit das Kissen aufs Ohr.
Das Licht geht aus und Frau Videns bekommt einen heftigen Anfall. Sie hustet, sie schnappt nach Luft, sie röchelt. Das kann ich sogar durchs Kissen hören.
Bei meiner Einweisung, die Jahre zurückliegt, erhielt ich ein paar gute Ratschläge, wie im besten Falle zu handeln sei. Sinnvoll wäre es, laut und deutlich um Hilfe zu rufen. Der Gang würde den Hall der Stimme so weit tragen, dass schon jemand aufmerksam würde.
Ich vergaß den roten Knopf zu erwähnen, der außerhalb der Zellen angebracht ist. Ich könnte aufstehen, meinen Arm ausstrecken, an der bröckligen Mauer entlang fühlen und den Schalter drücken. Aber ich vergaß.
Ich könnte Frau Videns retten.
Ich habe eigene Pläne.
Es ging schnell. Irgendwann schlief ich ein, ohne noch einmal nach ihr zu sehen. Ich entdecke sie am nächsten Morgen, als mein Blick auf ihren verrenkten Körper am Boden fällt. Auf die blauen, dicken Adern an ihren Beinen. Jetzt sollte ich um Hilfe rufen, damit kein Verdacht aufkommt. In gewisser Hinsicht aber bin ich froh, dass alles so gekommen ist, wie ich es gehofft hatte. Ich bin sogar ziemlich zufrieden, muss ich sagen. Denn bald habe ich eine Freundin namens Anima, die mir erzählt, was sie sieht. Die Hoffnung stirbt nie.
Männer kommen und transportieren Frau Videns sterbliche Überreste aus der Zelle. Sehnsüchtig blicke ich in den leeren Raum. Reinungskräfte kommen und putzen alles blank. Im blauen Boden könnte man bestimmt ein Spiegelbild erkennen, zumindest aber einen verzerrten Abdruck. Andere kommen, die mich fragen, ob ich etwas gesehen oder gehört habe. Ich antworte, dass ich nichts gehört hätte.
„Sie war alt“, sagen die Leute, kritzeln etwas auf ein Blatt, das ich unterzeichne. Dann gehen sie. Den ganzen Tag erfreue ich mich daran, wie sauber mein neues zu Hause blitzt. Später gehen die Lampen aus, es ist Nacht. Noch nie habe ich mich so sehr auf den Morgen gefreut.
Als Herr Große kommt, um mir „guten Appetit“ zu wünschen, da stehe ich schon am Gitter.
„Herr Große?“, frage ich zaghaft.
Er sieht mich an, leicht verdutzt.
„Ja ja“, antwortet er dann, „genau so.“
„Wissen Sie, …“ Ich zeige mit dem Finger in die leere Zelle. Er sieht hinüber, sieht dann mich wieder an.
„Tragisch, ja, tragisch.“
Ich spiele ein wenig mit dem obersten Knopf des grauen Nachtgewands, um den Köder auszulegen. Sein Blick bleibt dort hängen. Ich seufze.
„Ich wünschte, ich könnte in ihre Zelle ziehen. Um ihr näher zu sein, wissen sie? Ich würde es nicht ertragen, jemand anderes darin zu sehen. Sie könnten doch gewiss etwas erreichen?“
Der Knopf ist offen. Die Falle schnappt zu.
„Ich kann“, sagt Herr Große und durchbohrt mich fast mit seinen Augen.
Als er zurückkommt, habe ich den Haferbrei gegessen und er bringt gute Nachrichten. Er lächelt mich an, ich lächle zurück. Dann öffnet er das Schloss.
Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass mein Wunsch einmal in Erfüllung geht. Ich bin am Ziel meiner Reise. Ich habe den Gipfel betreten und werde bald die Aussicht genießen.
Ich bin in Frau Videns Zelle. Ich habe alles geschafft, was ich wollte.
So lüfte ich also, um den letzten Akt zu begehen, den Vorhang des Fensters. Zaghaft, vorsichtig, behutsam. Dieselbe graue Gardine, die in meiner Zelle hängt, aber eben eine, mit einem gewissen Ausgang, einem sicheren Ende. Noch habe ich die Augen geschlossen, doch flüstere ich schon ihren Namen. „Anima“, „Anima“ – und noch einmal „Anima“.
„Bist du da?“
Ich komm mir vor, wie ein Liebender am Fenster seiner Angebeteten. Mein Herz rast, meine Hände zittern, mein Atmen ist kurz und flach. Die Augenlider wollen sich nicht öffnen, pure Spannung, erwartungsfrohe Vorfreude hält sie geschlossen. Ich will bis zum letzten Moment davon kosten. Dieser letzte Moment, bevor der Gipfel erreicht ist, diese letzten zwei, drei Schritte. Es sind die schwersten von allen.
Drei.
Zwei.
Eins.
Auf.
Dort ist ein Raum. Ein Lagerraum. Ein süßlich saurer Geruch strömt mir entgegen, frisch und rund. Ich sehe eine Farbe: Orange in kleinen Kügelchen.
„Anima!“, rufe ich noch einmal, obwohl sich das böse Gefühl in mir ausbreitet, dass dort nichts weiter sein wird als Berge aus Orangen.
Orangen, die ich zwar sehen und riechen, aber niemals schmecken werde.
Sie duften dort,
sind doch zu weit fort,
fern, an einem anderen Ort.
Oh weh!
„Wie heißen Sie?“, fragt mich eine dünne Stimme aus der gegenüberliegenden Zelle. Ich sehe mich verwirrt um. Eine Zelle. Eine Zelle? Sie sieht aus wie meine, nur spiegelverkehrt. Dunkelblau gestrichen, Pritsche, Toilette und Stuhl.
„Ich?“, frage ich.
„Geht es Ihnen gut?“, fragt sie. Ein junges, blasses Mädchen.
„Jaja, doch, doch“, sage ich und versuche mich zu entsinnen, wie ich heiße.
„Wir sind sozusagen Zimmernachbarn“, sagt sie.
„Zimmernachbarn … Nachbarn …“, murmle ich. Noch grüble ich, aber am Ende des Tunnels ist Licht. Und Hoffnung. Nur niemals hinter den Vorhang schauen, dämmert es mir.
„Oh ja!“, in meinen Gedanken leuchtet mein Name auf, „Ich bin Frau Videns.“
„Freut mich, Frau Videns“, sagt das Mädchen und lächelt. „Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich habe eine Bitte. Ob ich wohl Zettel und Stift von Ihnen leihen könnte?“
„Was wollen Sie schreiben?“, fragt Frau Videns.
„Eine Geschichte“, sage ich. „Ich will Ihnen nicht zu viel verraten. Ich habe meine Prinzipien. Aber den Anfang, den will ich Ihnen nennen.
Und so beginne ich.
„Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem winzigen Raum, vielleicht fünf Quadratmeter klein. Es gibt ein Fenster, aber die Vorhänge sind geschlossen.