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Routine
„Lass es bitte noch nicht zehn Uhr sein“, denkt Eva. Sie wirft widerwillig einen Blick auf das Ziffernblatt der Bahnhofsuhr. Neun Uhr achtundfünfzig. Eva dreht sich der Magen um. „Vielleicht hat es einen Unfall gegeben und der Zug fällt aus?“ Wieder ein nervöser Blick auf die Uhr. Neun Uhr neunundfünfzig. „Heute könnte ich Glück haben. Heute könnte es endlich anders sein. Für immer.“ Zehn Uhr. Eva zupft an ihrer Uniform herum, sie kann die Hände nicht still halten, wie jede Nacht zu dieser Zeit. Sie blickt in das Schwarz des Tunnels. Kein Zug in Sicht. In fiebriger Erwartung atmet sie auf. Sie hofft, dass sie nicht im Zug sein werden. Sie wird dann einen entspannten Abend vor sich haben, da die Anstürme von Menschenmassen, die nach Hause wollen, alle schon vorüber sind. Sie würde die Waggons ablaufen und die Fahrkarten der Passagiere kontrollieren. Nach diesem Zug ist es bloss noch ein weiterer, dann ist ihre Schicht bereits zu Ende und sie kann nach Hause in ihr warmes Bett. Ins warme Bett zu Stefan. In dessen Armen sie so viel besser einschlafen kann …
Plötzlich zerreisst ein fürchterliches Geheul die kühle Luft der Bahnhofshalle. Nur um diese Uhrzeit, bei diesem Zug, kommt Eva der vertraute Lärm des näherkommenden Gefährts wie ein schadenfrohes Gelächter vor. Ihr Herz bleibt einen Moment lang stehen. Der Zehnuhr-Zug rattert auf quietschenden Schienen in den Bahnhof, wird langsamer und hält schliesslich an, bevor sich die Türen mit einem Zischen öffnen. Beim Einsteigen spürt Eva Schweissperlen im Nacken.
Sie kontrolliert die Fahrscheine der Gäste und durchläuft so den Zug von hinten nach vorne. Wie immer, ohne grosse Zwischenfälle. Bloss ein schwarzfahrender Teenager und eine ältere Dame, die ihren Fahrschein vergessen hat. Ein ganz normaler Wochentag. Eva mag die Routine, sie verschafft ihrem nervösen Charakter etwas Ruhe. Deshalb übt sie ihren Job eigentlich auch gerne aus, da nur selten etwas Aussergewöhnliches passiert.
Nun steht sie vor der Durchgangstür des letzten Waggons, dem von ihr gefürchteten Sektor des Zuges. Eva kann zitternd vor Angst nur noch einen Gedanken fassen wie jede Nacht zu diesem Zeitpunkt: den Waggon schnellstmöglich wieder verlassen Mechanisch öffnet sie die Tür und betritt zögerlich das Zugabteil. Sie sieht ihre Befürchtungen bestätigt, als sie, an derselben Stelle wie immer, sofort das Pärchen erblickt. Kurz ärgert sie sich darüber, dass sie gehofft hat, es könnte heute anders sein. Sie hätte es wissen müssen. Sie hätte es wirklich wissen müssen. Sie läuft den Gang entlang, dem Pärchen entgegen, ohne zu diesem hinzuschauen und kontrolliert die Fahrkarte eines älteren Herrn. Ansonsten sind nur noch sie im Waggon. Erst als sie nur noch wenige Schritte von den beiden entfernt ist, sieht sie hin, so wie sie es jede Nacht tut. Die blonde Frau schläft in seinem Arm, welchen er beschützend um sie gelegt hat. An diesem Arm ist deswegen der Pullover etwas nach oben gerutscht, so dass sie auf seinem Handgelenk eine kleine Narbe sehen kann. Eva fragt sich, was die beiden vor der Zugfahrt zusammen getan haben, obwohl sie sich darüber im Klaren ist, dass sie es nicht erfahren wird. Er braucht die Blondine, er kann nicht ohne sie, das weiss sie. Das weiss sie schon sehr lange. Sie geht an dem Pärchen vorbei, ohne nach den Fahrkarten zu fragen, denn sie ist sich sicher, dass sie welche haben. Er schaut Eva mit einem vertrauten Blick in die Augen und lächelt. Sie hofft, dass er etwas sagen wird. Vergebens, wie jede Nacht.
Am Ende des Waggons kann sich Eva kaum mehr auf den Füssen halten. Ein heftiger, doch ihr wohlbekannter Schmerz, zieht ihr die Brust zusammen. Die Sprechanlage kündet die Endstation an und sobald sie aussteigt und die frische Nachtluft spürt, verschwindet der Schmerz sofort wieder, so wie es jede Nacht passiert. Sie dreht sich nicht um, um nach dem Pärchen zu schauen. Ihr kommt der Gedanke, Stefan zu verlassen. Jedes Mal, wenn sie zu diesem Zeitpunkt den Bahnsteig entlangläuft, kommt ihr dieser Gedanke. Früher war es ein sehr starker Gedanke. Jetzt ist er nur noch da. Wenn sie Stefan nicht mehr hat, worauf soll sie sich dann freuen?
Nun muss sie noch einen Zug durcharbeiten, bevor sie nach Hause gehen kann. Bevor sie endlich zu Stefan kann. Das typische Geheul kündigt ihren nächsten Zug an. Diesmal tönt es für sie wie ein ermutigender, langer Pfiff. Ein Verkünder einer besseren Zeit. Unbeschwert steigt sie ein, denn sie weiss: Es dauert fast noch einen ganzen Tag, bis die Bahnhofsuhr wieder die gefürchtete zehnte Stunde schlagen wird. Sie wird fast einen ganzen Tag Zeit haben. Dass sie wieder Angst haben wird, ist ihr jetzt schon klar, doch das macht nichts, denn im Moment ist es vorbei. Das ist alles, was für sie zählt. Seit zehn Jahren ist das für Eva alles, was zählt.
Im letzten Zug waren nur wenige Passagiere. Alle waren freundlich und hatten gültige Fahrkarten vorzuweisen. Evas Arbeitstag ist vorbei. Sie will nur noch ins Bett. Zu Stefan. Sie denkt nicht mehr an das Pärchen. Früher war das noch nicht so, sie konnte jeweils für eine lange Zeit an nichts anderes mehr denken. Doch der immer selbe Trott machte es erträglich. Die Gewohnheit ist Evas tröstlicher Gefährte geworden, der in jeder Nacht mit ihr in den Zug einsteigt. Sie ist müde und verspürt eine beruhigende innere Ausgeglichenheit. Es war wieder so wie gestern und vorgestern und am Tag davor … Die Routine überrollt das Leben ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen und macht alles gleich.
Erschöpft aber glücklich kommt sie nach Hause und legt sich ins Bett zu Stefan, welcher schon schläft, als sie ankommt. Wie jede Nacht. Er wacht auf und schenkt ihr ein Lächeln, dann küsst er sie lang und innig, bevor er sie in den Arm nimmt und wieder einschläft. Eva lächelt auch und schmiegt sich dankbar an ihn. Ihre Beziehung hält schon so lange … Kurz bevor sie einschläft, dreht sie ihren Kopf von ihm weg und küsst Stefans Arm. Sie küsst sein Handgelenk, spürt die Narbe an ihren Lippen und weiss, dass alles seinen gewohnten Lauf nehmen wird.