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Das letzte Konzert

Beitritt
05.03.2013
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Das letzte Konzert

Als fünfjähriger Junge begeisterte Serenus Sacer Fernsehzuschauer und Konzertbesucher mit seiner Geige. Besonders Mütter und Großmütter jauchzten vor Entzücken, wenn das Kind und später der Jüngling im feinen Anzug mit Fliege auf die Bühne tippelte, sich artig verbeugte, vor das Orchester trat und anfing, die Hummel von Rimsky-Korsakow in einem hummelfremden Tempo durch einen Konzertsaal und Millionen Fernsehapparate fliegen zu lassen.

Als er an seinem achtzehnten Geburtstag bei einer beliebten Show am Samstagabend auftrat und ihn der Moderator fragte: „Was fühlen Sie, wenn Sie eine nackte Frau sehen?“, zerschlug er die Geige auf dem Kopf des Fragestellers und ging von der Bühne.
Fünf Jahre hörte und sah man nichts mehr von ihm.

Dann verbreitete sich eine Nachricht rasend schnell: „Sacer spielt ein Konzert auf der Waldbühne.“

Sein Auftritt: Die dreihundert Mann zweier Symphonieorchester und ebensoviele Choristen intonierten den Triumphmarsch aus Aida. In dem Strahleweiß der Scheinwerferbatterie erschien Serenus Sacer, übergroß auf den Fernsehbildwänden, winzig auf der Bühne.
Ekstatischer Beifall stieg in die Berliner Luft: Mit einem leuchtend grünen Haarbusch füllte der Geigenvirtuose die Fernsehbildwände aus. Seine Kleidung in Patchworkmanier einer Kasperlefigur fesselte die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Seine Geige, ganz aus Glas, glitzerte festlich. Mit ihr jagte er, poppig rhythmisiert, Till Eulenspiegel durch seine Streiche, als wäre Richard Strauß mit Joey Tempest auf der Bühne. Jung und Alt, Mozartjünger und Kegelbrüder jubelten diesem neuen und alten Star der Unterhaltungsmusik zu.

In den nächsten Jahren wurden Haarbüsche a la Sacer Kennzeichen der Jugend, das Kasperlemuster beschäftigte die Haute Couture und die Unterhaltungsmusiker bedienten sich aus dem klassischen Repertoire.
Beim zehnjährigen Jubiläumskonzert auf der Waldbühne störte es Sacer, dass die Leute, während er spielte, aßen und tranken und miteinander redeten. Seiner Aufforderung nach Stille folgten sie nicht. Diesmal zertrümmerte er nicht nur seine Geige, sondern auch das Dirigentenpult, eine Harfe und drei Celli. Die Zuhörerschaft schloss sich seinem Verhalten an und zerlegte alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Diesmal hüllte sich Sacer sieben Jahre lang in Schweigen, bis eine Zeitung ankündigte: "Sacer spielt wieder."
Mit größter Spannung erwartete die gesamte Öffentlichkeit dieses Ereignis. Schon die Eintrittspreise erregten Aufmerksamkeit: Ein Platz in der letzten Reihe der Alten Kapelle in Regensburg kostete 10.000 €, in der ersten Reihe 100.000,00 €.
Am Abend der Aufführung erschien Sacer in einem langen, weißen Mönchsgewand, kahlköpfig, mit einer Geige ganz in Weiß, setzte sich, ohne auf den frenetischen Applaus zu achten, auf einen einfachen Küchenstuhl vor dem Hochaltar – und wartete. Nach einer Viertelstunde hob er Instrument und Bogen und spielte zehn Minuten lang den Kammerton, das eingestrichene a. Danach stand er auf und verschwand.

Die Besitzer der teuren Karten schwärmten noch jahrelang von dem Konzert als dem wichtigsten Erlebnis in ihrem Leben. Ein Kritiker resümierte: „In diesem Konzert ist nicht nur die Musik zu sich selber gekommen. Diese Musik bessert auch noch die Menschen."

Von Serenus Sacer hat man nie wieder etwas gehört.
Und die Konzertbesucher schwiegen auf die Frage ihrer Enkel, ob sie denn auch tatsächlich bessere Menschen geworden seien.

 

Hallo Wilhelm,

ein gelungener Text, finde ich, der zeigt, dass man eine runde Geschichte auch in solcher Kürze entwickeln kann. Erstaunlich. Ich frage mich, weshalb keiner der Kommentatoren Nigel Kennedy erwähnt hat. Das war meine erste Assoziation, als ich von den grünen Haaren und den Patchwork-Klamotten las. Ich mag den sehr.

Natürlich steckt da auch einiges an Kritik am Kunstbetrieb drin. Aber man kann es auch positiv lesen: Jemand mischt die Konventionen ein bisschen auf, kommt dabei irgendwann an die Grenzen, die etwas mit der Masseträgheit der herrschenden Bedingungen zu tun haben und findet den Abschluss, der das Ganze auf den Punkt bringt. Mir hat´s gefallen.

Gruß Achillus

 

Hallo Jimmy,
vielen Dank für deine Bemerkungen,

dieser Text hat zwei Seiten. Einmal die Rezipienten, die vorgeben, Kenner zu sein, und einmal der Künstler, der enfant terrible, der seine Macht und seinen Status auf nahezu profane Weise ausnutzt.
Jack White hat dieses Konzert übrigens gegeben, er ist auf die Bühne gegangen und hat einen (!) Akkord gespielt, das war's.

Ich finde das gut, ich würde mir aber gerne einen längeren Text wünschen, der wirklich nochmals mit dem Klischees spielt und so richtig böse wird. Komm, Wilhelm, ich weiß du kannst und willst das auch!

Ja, das ist richtig, aber ich habe es auch unter Philosophie gestellt. Si tacuisses …
Profane Weise
schreibst du. Er heißt Sacer, also Heiliger. Wenn ich mich in dieser frühen Stunde richtig erinnere, hatte Buddha auch mal erst auf die Pauke gehauen, bevor er Mönch wurde.
Natürlich würde es mir diebische Freude machen, jene Konzertbesucher zu beschreiben, die mit frischer Kleidung, einparfümiert, mit nasehoch und naseweis Wörter, die auf –ismus enden, spitzsteinig artikulieren oder gar ejakulieren, die sagen ja, aber Zeffirelli hat die innere Dimension der Sendung von Radames in fremde Lande als verklausulierten Liebesakt interpretiert und überhaupt, man müsse, während der sentimentale Realimus Leid eskamotiert, doch die Summierung menschlicher Tragik sublimieren, um die soziakritische Substanz eines Volkes heilbringend auf Aktionen zu lenken, deren justiziable Berechtigung auch unter streng menschenrechtlichen Gesichtspunkten nahezu als ein Beitrag zur Transsubstantiierung der menschlichen Sendung anzusehen und zu verteidigen ist.
Nein, mein Beispiel ist misslungen, denn wer hier weiß, dass … gemeint ist, steht in keinem Verdacht von Klischee.
So bleiben wir beim kleinen Sacer(dos) und wir beide danken dir für deine Aufmerksamkeit.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Hallo Marai,

vielen Dank für deine positive Einschätzung.

Auch mir hat die Geschichte gefallen. Für mich zeigt sie die Veränderung unserer Gesellschaft, zu der ich auch gehöre.
Das ist ein guter Ansatz für eine Interpretation.

Wie dotslash schreibt: "Schönheit der Darbietung und künstlerisches Handwerk reicht nicht mehr."
Und das nicht nur in der Kunst.
Ob das früher nicht auch so war, mögen wir später untersuchen. Das Marketing gehörte immer sowohl zur Kunst wie auch zu vielen anderen Berufe, wenn nicht zum Menschsein überhaupt.
Erst in der Klassik und vor allem in der Romantik sacrifizierten sich Künstler und stellten hohe Ansprüche.

Kann man das Rad zurückdrehen? Ich denke nicht.
Warum soll ich das wollen? Und wohin? Ins Dritte Reich? Zur Metternich-Zeit? Soll ich die Pyramiden bauen?
Vielleicht kann der Einzelne an seinem Platz noch ein klein wenig Gegensteuer geben; doch das Rad dreht weiter. Und die Frage bleibt, wie es mit uns so weit kommen konnte?
Es wird vor allem noch weiter so mit uns kommen. Das Rad dreht sich, fürwahr, aber wir drehen auch das Rad.
Du hast ja die Geschichte unter Philosophisches gestellt. Da ist es sicher erlaubt, eine solche Frage zu stellen.
Das ist sogar die Absicht.

Deine Geschichte lässt mich nachdenklich zurück.
Mehr wollte ich nicht und ich freue mich, dass bei dir erreicht zu haben.
Die Richtung deiner Gedanken finde ich gut.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Hallo Achillus,
ermutigend ist es, deinen Kommentar zu lesen, danke.

ein gelungener Text, finde ich, der zeigt, dass man eine runde Geschichte auch in solcher Kürze entwickeln kann. Erstaunlich. Ich frage mich, weshalb keiner der Kommentatoren Nigel Kennedy erwähnt hat.
Das frage ich mich auch, denn an ihn dachte ich und an die Beatles.
Das war meine erste Assoziation, als ich von den grünen Haaren und den Patchwork-Klamotten las. Ich mag den sehr.
Patchwork, da dachte ich an Commedia dell'arte.

Natürlich steckt da auch einiges an Kritik am Kunstbetrieb drin. Aber man kann es auch positiv lesen: Jemand mischt die Konventionen ein bisschen auf, kommt dabei irgendwann an die Grenzen, die etwas mit der Masseträgheit der herrschenden Bedingungen zu tun haben und findet den Abschluss, der das Ganze auf den Punkt bringt.
Nahezu ein Entwicklungsroman ist die Geschichte: Kindheit (Entzücken der Mütter), dann nach der Frage erwachsen werden (5 Jahre), dann erwachsener Zynismus (Haare), dann Reifung (7 Jahre), dann Alter, Weisheit: Schweigen, dann verschwinden (Tod).
Mir hat´s gefallen.
Das freut mich und vielen Dank für den Hinweis auf Nigel, immerhin eine produktive Lösung.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Hahahahaha! Einfach nur GEIL! :lol::thumbsup:
(Mal salopp geschrieben)
Und etwas kultivierter: GROßARTIG!!!

 

Hallo Runa Phaino,
vielen Dank für deine sehr emotionale positive Rückmeldung. Kurz und bündig, in einer neueren Sprachform, die ja auch durchaus zu Teilen meiner Geschichte passt.
Kurz gesagt: Danke!
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

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