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Die Geschichte mit dem Lift

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27.02.2015
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Die Geschichte mit dem Lift

Das Ganze hat sich damals während meiner Arbeit als Forschungsassistent abgespielt. Ich will ganz ehrlich sein: meine Arbeit war einigermassen langweilig und hatte sehr wenig mit dem zu tun, was ich eigentlich tun wollte. Nur habe ich mir damals wohl nichts zugetraut, was mir mehr Verantwortung verbunden gewesen wäre und da kam mir diese Stelle doch erstaunlich gelegen. Ich will Sie nicht lange mit einem detaillierten Pflichtenheft langweilen. Aber Sie sollten doch soviel davon wissen, dass Sie verstehen in welcher Lage ich mich damals befand. Vielleicht erklären die damaligen Umstände ein kleines Bisschen, was mir in diesem Lift geschehen ist. Wobei – tun sie das wirklich? Ich bin mir bis heute nicht ganz schlüssig. Doch ich schweife ab.

Was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte, ist, dass ich wegen meiner Arbeit Unmengen von Zeit über verstaubten Amtsdruckschriften in der Nationalbibliothek verbrachte. Die Nationalbibliothek ist an sich schon ein eigenartiger Ort und es erstaunt mich – im Nachhinein betrachtet – nicht, dass diese Geschichte ausgerechnet an diesem Ort stattgefunden hatte. Für diejenigen von euch, welche noch nie in der Nationalbibliothek waren, hier einige Eindrücke: wenn man sich in dieser Bibliothek befindet, fühlt es sich immer etwas an, als wäre die Zeit stehen geblieben. Sie können dieses Gebäude heute, vor drei Jahren oder in fünf Jahren besuchen: es macht keinen Unterschied. Sie treffen diesselben Mitarbeitenden in dersselben Haltung auf demselben Stuhl an. Und auch die Besucher scheinen sich kaum zu wandeln. Im Hauptlesesaal sitzen immer in etwa 15 bis 20 Studierende, welche in ungefähr gleichen Anteilen ihrer Zeit über ihre Abschlussarbeiten und den Sinn ihres Daseins nachdenken. Dazu kommen einige Rentner, welche wahlweise Zeitung lesen oder Ahnenforschung betreiben. Und dann gibt es noch wenige Randständige, welche vor allem in den kalten Jahreszeiten eine Zuflucht in dem öffentlichen Gebäude finden, sowie einige frisch Zugezogene, welche die Computer und Drucker benutzen, um der Bürokratie ihrer Aufenhaltenbewilligungen und Einbürgerungen entgegen zu treten. Die Gesichter der Studierenden und Zugezogenen ändern sich über die Zeit in der Optik, jedoch kaum in ihrem Ausdruck. Die Rentner und die Randständigen sind Jahr für Jahr diesselben.

Ich selber verbrachte meine Zeit in einer für mich reservierten Arbeitskabine der Nationalbibliothek im zweiten Stock. Es gab auch ähnliche Kabinen auf den Etagen 1 und 3. Dass ich ausgerechnet im zweiten Stock arbeitete, mag rückblickend betrachtet, einen gewissen Einfluss auf die Vorkommnisse haben. Bis heute weiss ich nicht, ob dieser Lift mich damals an denselben Ort gebracht hätte, wäre ich in einem anderen Stockwerk eingestiegen.

Wie dem auch sei, meine Arbeit bestand damals darin Daten aus alten Amtsdruckschriften im Auftrag einer Universität zu digitalisieren. Dafür benötigte ich erstens eine Reproduktionskamera, zweitens – wie sich herausstellte – eine Sonderbewilligung der Nationalbibliothek und drittens Unmengen von Amtsdruckschriften aus dem für Besucher unzugänglichen Archiv. Desweiteren liessen sich an dieser Stelle auch noch Dingen wie Geduld, eine ruhige Hand und ein ständiges, aktives Ausblenden der Monotonie dieser Arbeit aufzählen, doch bleiben wir bei den technischen Punkten. Da das Archiv nicht für Besucher zugänglich war, musste ich die entsprechenden Amtsdruckschriften am Ausleihschalter bestellen. Und da dieser Teil des Archivs, den ich benötigte, noch nicht im Online-Bestellkatalog erfasst war, musste ich dies auf die herkömmliche Weise tun, sprich: schubladenweise, schreibmaschinengetippte Registerkarten im Handkatalog durchblättern, Ordnungsnummern finden und diese mittels von Hand ausgefüllten Bestellscheinen bei der Ausleihe einreichen. Erschwerend kam hinzu, dass beinahe jeder einzelne Band einen eigenen Bestellschein benötigte. Waren die gewollten Einheiten erstmals bestellt, hiess es eine halbe Stunde warten. Danach konnte ich meine meist sehr umfangreichen Bestellungen auf einer Art rollenden, metallernen Bücherregalen abholen. Und da sich diese nicht per Treppe zu meiner Arbeitskabine im zweiten Stock bewegen liessen, nahm dafür ich also den Lift. Dies natürlich auch im umgekehrten Fall, wenn ich die durchgearbeiteten Amtsdruckschriften zur Ausleihe zurückbringen wollte. Und in genau so einer Situation geschah genau das, was ich euch eigentlich erzählen wollte: die Geschichte mit dem Lift.

An diesem Nachmittag – ich glaube es war ein Donnerstag – hatte ich schon einige Stunden gearbeitet und meine Konzentration hatte dementsprechend schon spürbar nachgelassen. Wohl auch deshalb kam es auch zu einer Reihe von Unachtsamkeiten. Erstens: ich liess den Wagen mit den Amtsdruckschriften, welchen ich eigentlich zur Ausleihe zurückbringen wollte, in meiner Arbeitskabine im zweiten Stock stehen. Zum Lift begab ich mich dennoch. Erst als ich mich im Aufzug befand, fiel mir mein Versäumnis auf und bewirkte sogleich das nächste. In Gedanken wählte ich das Stockwerk 2 anstatt des vorgesehenen Erdgeschosses noch bevor sich die Lifttüren schlossen. Zu meinem Erstaunen, schlossen sich die Türen aber dennoch und der Lift bewegte sich abwärts. Ich dachte mir im ersten Moment nichts dabei. Womöglich hatte ja zeitgleich ein anderer Besucher den Lift in eine untere Etage bestellt. Ins Grübeln kam ich erst, als der Lift auch im Erdgeschoss nicht anhielt sondern weiter nach unten fuhr.

Ich habe Ihnen ja bereits erzählt, dass die Archive nicht öffentlich zugänglich sind. Vergessen zu erwähnen habe ich dabei, dass sich die Räumlichkeiten des Archivs in den beiden Untergeschossen der Nationalbibliothek befinden. Die entsprechenden Stockwerke werden bei der Stockwerkauswahl im Lift zwar angezeigt, sind jedoch an Stelle von Knöpfen mit Schlüssellöchern versehen. So wurde im Normalfall gewährleistet, dass nur Mitarbeitenden mit dem entsprechenden Zugangsschlüssel diese Stockwerke anwählen konnten. Nicht so dieses Mal: ich fuhr weiter nach unten. Als die Anzeige auf -1 wechselte, begann ich mir schon eine Entschuldigung zurecht zu legen, weshalb ich unbefugter Eindringling ohne eigenes Zutun ins Archiv befördert wurde. Als der Lift auch bei -2 keine Anstalten machte anzuhalten, wurde mir leicht schwindlig. Endlich schien der Lift abzubremsen. Die Stockwerkanzeige wurde schwarz und dann öffneten sich die Türen. Mutig blickte ich hinaus. Doch alles was ich sah, war ein dunkler Korridor. Ich fragte mich zunächst, ob ich den Menschen, welchen den Lift ins dieses Stockwerk bestellt hatte wegen der darin herrschenden Dunkelheit nicht sehen konnte. Deswegen hauchte ich ein zitterndes „Hallo?“ in den Korridor und kam mir schon im nächsten Augenblick albern vor.

Weshalb ich tat, was ich als nächstes tat, habe ich mich seither schon einige Male gefragt. Immerhin wäre es das Vernünftigste gewesen, die seltsame Liftfahrt auf sich beruhen zu lassen, den Knopf ‚E‘ für Erdgeschoss zu drücken und das Ganze zu vergessen. Ganz offensichtlich war die Vernunft aber damals nicht meine treibenste Kraft gewesen, sondern die Neugier – was anlässlich meines monotonen Jobs ja auch irgendwie nachvollziehbar war. Ich dachte also nicht länger über mögliche Konsequenzen nach sondern stieg in diesem seltsamen, dunklen Stockwerk aus. Ich erschrak etwas als es im Korridor zu flackern begann, bis ich bemerkte, dass ich wohl einen Bewegungsmelder ausgelöst hatte. Mittels des kühlen Lichts der alten Neonröhren konnte ich nun den Korridor besser erkennen. Die Wände waren – ähnlich einem Luftschutzkeller – aus Beton, welcher weiss überpinselt worden war. Auch einige sperrige Türen, welche links und rechts vom Gang abgingen erinnerten an eine unterirdische Zuflucht. Nur eine einizige schien sich davon zu unterscheiden: nämlich diejenige am Ende des Korridors. Sie bestand aus dunklem Holz und hatte gerade durch ihre Deplatziertheit eine gewisse Anziehung auf mich. Also ging ich vorsichtig, aber zielgerichtet auf die Holztür zu. Da – plötzlich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte mich reflexartig um meine eigene Achse und sah gerade noch, wie dies sich der letzte Spalt der Lifttüre hinter mir schloss. Ich horchte einen Moment. Dem Anschein nach setzte sich der Lift wieder in Bewegung. Ich versicherte mich noch rasch, dass es einen Bestellknopf für den Lift gab, war beruhigt und ging nun weiter auf die Holztür zu.

Bei näherem Betrachten konnte ich erkennen, dass Symbole in die alte Holztür eingraviert waren. Es waren zwei Kreise. Der Äussere umschloss den Inneren gänzlich. Der innere Kreis war nicht ganz geschlossen: eine kleine Lücke auf der rechten Seite liess ihn wie ein C aussehen. Ich musste etwas schmunzeln. Neben dem Fakt, dass die Symbole etwas stümperhaft mit einem Taschenmesser oder etwas Ähnlichem eingeritzt worden waren, sah das Ganze irgendwie einem schlechten Logo einer Bank oder Versicherungsgesellschaft ähnlich. Zudem brachte ich die beiden Buchstaben ‚O‘ und ‚C‘ – wenn es denn welche waren – in keiner offensichtlichen Weise mit den Worten ‚Nationalbibliothek‘ oder ‚Archiv‘ in Verbindung. Dann klopfte es von innen an die Tür.

Ich wich einen halben Schritt zurück und versuchte erst einmal meinen Atem zu beruhigen. Offenbar keuchte ich mittlerweile derart laut, dass ich kaum wahrnehmen konnte, was auf der andern Seite der seltsamen Tür vor sich ging. Da sich mein Atem nicht auf Anhieb beruhigen liess, hielt ich für eine Weile die Luft an und horchte an der Tür. Da waren Stimmen. Mehrere Stimmen, welche sich in durchaus normalem Tonfall und normaler Lautstärke miteinander zu unterhalten schienen. Eine Stimme war etwas deutlicher zu hören. Sie fragte: „Soll ich nochmal?“. Das allgemeine, zustimmende Gemurmel im Hintergrund kaum abwartend, klopfte die Person noch einmal von innen an die Tür und zwar in etwa auf der Höhe meines Ohres. Es klang hohl, metallisch und laut. Ich atmete tief durch und klopfte vorsichtig zurück. Ich war jetzt so aufgeregt, dass ich am liebsten eine Zigarette geraucht hätte. Doch diese befanden sich in der Garderobe im Erdgeschoss und dahin konnte ich jetzt nicht zurückkehren. Wer weiss, ob ich in meinem Leben noch ein zweites Mal in dieses Stockwerk, zu dieser Tür gelangen würde? Also schob ich den Gedanken an die Zigarette zur Seite. Dann drückte ich die Türklinke nach unten. Was ich nun sah, war geradezu skurril.

Hinter der Tür befand sich ein kleiner Raum, mit kahlen metallenen Büchergestellen, in welchem sich ledigich einige Bundesordner, sowie einige Notizhefte befanden. In der Mitte des Raumes waren zwei langweilige, graue Bürotische zu einem Quadrat zusammengeschoben worden. Ringsum sassen Menschen mit Schreibblöcken und Bleistiften. Auf dem Tisch stand ausserdem eine Kanne Filterkaffee und zwei Flaschen Mineralwasser: eine mit Kohlensäure, eine ohne. Kurz: es sah aus wie eine ganz normale Sitzung in Konferenzraum B – was ich auf alle Fälle enttäuschend gefunden hätte, wäre dem nicht die seltsame Geschichte mit dem Lift, dem unbekannten Stockwerk und der deplatzierten Holztür vorausgegangen.

Ich lächelte nervös und sagte wohl so etwas wie „Uups… Entschuldigung! Ich wollte sie nicht bei ihrer… Sitzung stören… Sorry…“. Antwort bekam ich von dem Herrn an der Tür, welcher jetzt in bester Portier-Manier dastand: „Aber keineswegs, mein Herr, wir haben Sie schon erwartet“. Erst gar nicht auf den Inhalt seiner Worte eingehend, schaute ich mir den Herrn genauer an. Aber natürlich! Das war doch dieser ältere Herr mit der Stirnglatze und den schulterlangen, grauen Haaren, welcher im ersten Stock der Nationalbibliothek immer in den Magazinen und Gazetten herumblätterte. Also ein regelmässiger Besucher der Nationalbibliothek – genau wie ich! Einen kleinen Moment überlegte ich mir, ob dieser Mann wohl auch das falsche Stockwerk gedrückt hatte. Den Gedanken schlug ich mir aber wieder aus dem Kopf, als mir klar wurde mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in diesem unbekannten Stockwerk bewegte, ganz so als wäre nichts Aussergewöhnliches daran zu finden. Ich schaute mir die Gesichter der Menschen, welche am Sitzungtisch sassen noch einmal genauer an. Einige von Ihnen kannte ich auch aus den oberen Stockwerken: rechts vorne sass die stets strengblickenden Dame von der Auskunft mit den langen blonden Haaren, links hinten der Verkäufer der Cafeteria und um die Ecke sass der bullige Archivmitarbeiter mit dem hochroten Gesicht. Die andern drei Personen konnte ich auf den ersten Blick nicht zuordnen. Ich starrte wohl die ganze Zeit etwas verwirrt in die Runde, weswegen der ältere Herr mit den grauen Fadenhaaren nun in sehr beschwichtigendem Ton zu mir sprach: „Jaja, ich weiss, mein Herr, das muss erst einmal verwirrend auf Sie wirken, aber glauben Sie mir: sie werden es bald verstehen.“ Er machte eine kleine Kunstpause, streckte die Arme aus wie ein Zirkusdirektor und fügte dann in feierlicher Stimme hinzu: „Willkommen im Zirkel der Chronisten!“

„Wie? Was? …Chronisten?“, stammelte ich, „…und wieso auf mich gewartet? Und was gibt’s da zu verstehen?“. Das war doch alles zu verrückt! Ich hatte ja schon einige Male mit andern Besuchern der Nationalbibliothek – in diesem Fall meist Studenten – darüber gewitzelt, dass dieses Gebäude dem ‚Haus, das Verrückte macht‘ auf seine ganz eigene Art und Weise durchaus ähnelte. Aber das war jetzt doch zu viel: da sollen tatsächlich einige Mitarbeitende mit einigen Besuchern zusammen irgendso einen abstrusen Zirkel gegründet haben und halten jetzt in einem geheimen Stockwerk in einem sterilen Kämmerchen langweilige Sitzungen ab. So viel Verrückheit hätte ich selbst diesem Ort nicht zugetraut. Ihr werdet also verstehen, dass ich erst einmal ziemlich perplex war. Das war alles irgendwie gruselig. Ja genau: gruselig! Und schon setzten meine Fluchtinstinkte ein.

„Nein, nein“, sagte der Grauhaarige besänftigend, während er mich sanft am Ellenbogen aufhielt, „lassen Sie es uns doch erst einmal erklären. Sie haben Fragen gestellt“ – wieder eine Kunstpause – „das heisst doch im Grunde genommen sind Sie interessiert!“ Er schaute mich mit einem Lächeln an, welches auf seinen Spass an seiner eigenen Cleverness hindeutete. „Schauen Sie, da ist noch ein Platz an unserem Tisch frei“, fügte er hinzu und deutete auf einen der beiden leeren Stühle am oberen Tischende. Er redete weiter auf mich ein, während ich äusserst zaghaft auf den Stuhl zuging. „Sehen Sie, ich habe Recht! Sie sind ein neugieriger Mensch! Neugieriger als viele andere“. Es lang ein seltsamer Klang von Verführung in seiner Stimme. Nicht im sexuellen Sinne. Er verführte meinen Geist, meinen Wissensdurst mit beängstigender Treffsicherheit. Verstehen Sie mich nicht falsch: ich hätte in diesem Moment am liebsten um Hilfe geschrieen. Doch war dies einigermassen absurd angesichts der Lage dieser Räumlichkeiten. Wer hätte mich den retten sollen? Zur Auswahl standen wohl nur weitere Spinner, welche dieses geheime Stockwerk kannten. Und in deren Händen wäre ich wohl kaum besser aufgehoben gewesen. Ich wünschte mir einen kurzen Moment, ich wäre schon im Lift umgekehrt. Doch dafür war es nun zu spät. Obwohl dies nur Gedanken waren, reagierte der Grauhaarige erneut adäquat darauf. Er musste unheimlich gut darin sein, das Minenspiel anderer Menschen zu lesen. Oder vielleicht hatte er einfach bereits eine gewisse Routine mit solchen Situationen. „Wir wollen Sie auf keinen Fall hier festhalten. Sie können an jedem Punkt unseres Gespräches aufstehen und gehen. Aber Sie wollen es wissen, nicht wahr?“ Er hatte Recht. Ich wollte wissen, was hier gespielt wurde. Es war vielleicht meine einzige Chance es herauszufinden. Ich hätte gehen können – so weit glaubte ich ihm – doch dann hätte ich mich unzählige Male fragen müssen, was ich vielleicht verpasst hätte. Also blieb ich. „Na schön“, sagte ich etwas trotzig entschlossen und setzte mich hin, „dann erklären Sie mal!“

Der Grauhaarige lächelte mit der ausgeglichen Zufriedenheit eines Zen-Buddhisten und setzte sich auf den freien Platz neben mir. „Mein Name ist Soltermeier und ich bin der Vorsitzende unseres kleinen Zirkels. Frau Galladé und Herrn Wiesmann“ – er zeigte auf die blonde Dame vom Informationsschalter und auf den Cafeteria-Mitarbeiter – „kennen Sie ja bereits und die weiteren Namen tun zurzeit nichts zur Sache.“ Die Menschen am Tisch nickten mir freundlich zu. „Wir sind sozusagen eine Interessensgruppe“, fuhr Herr Soltermeier fort, „uns verbindet die Neugier, das genaue Hinschauen und das Buchführen über Dinge, die andern Menschen nicht einmal erwähnswert erscheinen, ja nicht einmal auffallen! Daher auch der Name: ‚Zirkel der Chronisten‘. Wenn wir Sie richtig verstanden haben, teilen Sie diese Interessen mit uns.“ Es war nicht direkt eine Frage, eher eine Feststellung. Dennoch wollte ich antworten: „Ich habe lediglich gesagt, dass ich wissen will, was hier genau vor sich geht…“ Herr Soltermeier schaute mich aufmerksam an, in einer gewissen Weise eine Weiterführung meiner Antwort abwartend. Als ich nichts weiter hinzufügte, schüttelte er kaum merklich den Kopf und sagte dann: „Nein nein, gesagt haben Sie natürlich nichts dergleichen, da haben Sie schon Recht. Wie ich erwähnt habe, ist die Beobachtungsgabe eines unserer zentralen Instrumente… und naja…“ – Herr Soltermeier wirkte nun das erste Mal so, als ob er nach Worten ringen würde – „…da ist es uns aufgefallen, dass Sie uns in vielerlei Hinsicht ähnlich sind… Sie verstehen? Jemand, der sein Leben auf das Beobachten der kleinen Dinge verwertet, versteht es mit der Zeit Gleichgesinnte zu erkennen.“

Meine Gedanken überschlugen sich. Ja, ich war neugierig. Ja, mir fielen Dinge auf, an denen andere achtlos vorbeizogen. Aber weshalb sollte ich deswegen einem abstrusen Zirkel hinter einer seltsamen Holztür beiwohnen? Holztür… Zirkel… Das war kein O! Das war ein Zirkel, der in die Holztür eingraviert war und darin ein ‚C‘ für ‚Chronisten‘. Zirkel der Chronisten! Der Raum galt also nur dem Zweck dem Zirkel als Sitzungszimmer zu dienen? Und war das überhaupt der wichtigste Punkt? Welche ‚kleinen Dinge‘ beobachten diese Leute? Und weshalb lohnt es sich darüber Buch zu führen? Und weshalb versteckt? – Es hatte keinen Zweck: mein Detektivenherz war geweckt worden. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich entschied mich spontan für „Welche ‚kleinen Dinge‘ beobachtet ihr denn?“ als erste Frage. Soltermeier schaute mich so an, als ob er schon lange auf diese Frage gewartet hätte: „Es sind die Dinge, welche den meisten Menschen kaum auffallen. Details, die aber eine Tragweite haben, welche selbst wir vom Zirkel nur erahnen können. Es geht um kleine, bemerkenswerte Unregelmässigkeiten; Anomalien, wenn Sie so wollen…“ – Jetzt musste ich lachen. Mein Konter kam auch dementsprechend prompt und unüberlegt: „Sie meinen sowas wie ,Fehler in der Matrix‘? Halten Sie mir jetzt gleich zwei verschiedenfarbige Pillen vors Gesicht?“ Jetzt lachte auch Herr Soltermeier. Ich war erstaunt, dass er bei so viel diffuser Weltfremdheit meinen Witz aus der Sparte ‚Popkultur‘ überhaupt verstanden hat. „Nein, nein, wo denken Sie hin?“, sagte der Vorsitzende immer noch sichtlich amüsiert, „aber Sie sollten das schon ernst nehmen“. Da mir das Murren von Frau Galladé zu meiner Rechten nicht entgangen war, wendete ich mich rasch ihr zu. Sie sprach aber nicht zu mir, sondern halblaut in die Richtung von Herrn Soltermeier: „Haben wir uns denn geirrt?“ – „Keineswegs, werte Kollegin, ich glaube das hier ist… wie soll ich sagen… als eine generationsbedingte Reaktion zu verstehen“. Frau Galladé schien mit der Antwort nicht gänzlich zufrieden zu sein. Allerdings rief ich mir in diesem Moment in Erinnerung, dass ich die Dame von der Auskunft noch nie im diesem Zustand angetroffen hatte. Herr Soltermeier wandte sich wieder mir zu: „Erlauben Sie, dass ich fortfahre?“

„Es sind ja nicht nur die kleinen Abweichungen, welche uns beschäftigen. Wie so oft im Leben schliesst sich der Kreis an beiden Enden. Insofern sind wie nicht minder interessiert an den bemerkenswerten Regelmässigkeiten, welche sich tagtäglich vor unseren Augen abspielen. Nur sind die wenigsten Menschen bereit sich der Sinnhaftigkeit dieser Gegebenheiten zu widmen. Und da kommt unser Zirkel ins Spiel. Unsere Chroniken befassen sich mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit hinter den kleinen Gegebenheiten. Sie sind gewissermassen eleganter zu deuten, als die grossen Zusammenhänge des Lebens. Wir versuchen uns der Wahrhaftigkeit im Kleinen zu nähern. Kleines erzeugt Grosses – das Sprichwort ist Ihnen geläufig?“. Das war jetzt ein Bisschen viel auf einmal. Ich versuchte das Ganze in meinem Kopf noch einmal zu strukturieren: diese Menschen führten also eine Art Logbücher über kleine, seltsame Erlebnisse, trafen sich dann in einem Luftschutzkeller und bildeten sich ein, mit diesen Notizen auf den Sinn des Lebens schliessen zu können? Das war unglaublich verrückt! Wer tat sowas? Und wieso?

„Und ich soll jetzt auch so ein Heftchen führen und damit bei ihren Geheimsitzungen antanzen?“, fragte ich etwas zu spöttisch. Frau Galladé neben mir seufzte so theatralisch, das man das „Ich habe es euch ja gesagt“ darin förmlich hören konnte. „Von sollen kann gar keine Rede sein“, antwortete Soltermeier nun etwas zu alarmiert, „es ist durchaus als Ehre zu verstehen, dass wir Sie in unser Zirkel eingeladen haben.“ Er räusperte sich und fuhr etwas sanftmütiger fort: „Chronisten folgen ihrer Berufung. Sie beobachten, schreiben und deuten, weil es ihre Lebensaufgabe ist. Man kann sogar soweit gehen zu sagen: sie sind Auserwählte!“ Auserwählte! Auf dieses klischierte Wort hatte ich schon beinahe gewartet, ohne richtig zu glauben, dass er es wirklich in den Mund nehmen würde. Das war jetzt nur eines: hochgradig lächerlich! Ich versuchte mein Lachen so gut es ging zu unterdrücken. Dann begannen meine Mundwinkel doch zu zucken, meine Stockzähne klapperten und schliesslich fand das Lachen laut prustend seinen Ausweg aus meinem Mund. Frau Galladé starrte mich entsetzt an. „Also, wenn Sie das nicht ernstnehmen können, bekommen Sie keine weiteren Informationen von uns!“, sprach sie mich in resolutem Ton zum ersten Mal direkt an.

Das hörte sich nach einer eingermassen leeren Drohung an. Jedoch ging sie nicht ganz so spurlos an mir vorbei, wie ich mir das in diesem Moment gewünscht hätte. Weitere Informationen wollte ich nämlich unbedingt! Es war ja nicht so, dass ich dem Zirkel unbedingt beitreten wollte – Verzeihung – mich auserwählt fühlte dem ehrenwerten Orden anzugehören. Aber es waren noch nicht alle meine Fragen beantwortet und ohne ein möglichst vollständiges Bild dessen, was hier abging, konnte ich den Raum und das Stockwerk auf keinen Fall verlassen. Ich entschuldigte mich also mit so viel Förmlichkeit, wie die Absurdität der Situation gerade zu liess: „Tschuldigung, tschuldigung. Ich wollte niemanden kränken. Das ist nur alles gerade etwas viel. Verstehen Sie? Ich stellte mich heute morgen auf einen monotonen Tag des Aktenreproduzierens ein, dann fahre ich mit dem Lift in ein unbekanntes Stockwerk, platze in die Sitzung eines Geheimbundes und werde davon in Kenntnis gesetzt, dass ich auserwählt sei als Chronist die Wahrheit des Lebens zu erfoschen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber sowas passiert doch niemandem!“ Die wacklige Entschuldigung schien ihren Anklang zu finden. „Nicht niemandem, aber wenigen“, berichtigte Soltermeier, „und in gewisser Weise sind Sie mit diesem Erlebnis schon auf eine Art Anomalie gestossen. Wir sind aber sicher, dass Ihnen auch andere Unregelmässigkeiten aufgefallen sind. Manche Menschen haben dafür eine Optik. Man könnte gar sagen: sie ziehen sie förmlich an. Das Bedürfnis darüber Buch zu führen geht in jedem Fall damit einher. Bei einigen gesellt sich die Arbeit als Chronist erst mit der Zeit dazu, andere entdecken dieses Bedürfnis Zeit ihres Lebens nicht. Es ist ganz individuell. Wie es bei Ihnen ist, wird sich zeigen.“

Ich kann euch sagen: es zeigte sich nichts. Ich arbeitete zwar noch einige Zeit in der Nationalbibliothek weiter an meinem Reproduktionsauftrag. In den ersten Tagen nach meinem Erlebnis ging ich etwas gar argwöhnisch durch die Hallen des Gebäudes. Seltsam war es auch die Mitglieder des Zirkels wieder ganz gewöhnlich an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen vorzufinden. Kein verschwörerisches Lächeln, kein irritiertes Anschauen. Sie verhielten sich allesamt so, als hätte ich ihren Kreis nie gestört. Hin und wieder überlegte ich mir beim Einsteigen in den Lift im zweiten Stock erneut die Taste ‚2‘ zu drücken. Doch jedes Mal, wenn ich mit dem Gedanken spielte, erinnerte ich mich an den letzten Satz von Herrn Soltermeier: „Besuchen Sie uns wieder, wenn Sie uns Ihre Chroniken vorweisen können“, hatte er damals gesagt. Ich hatte nichts vorzuweisen, also liess ich es bleiben.

Inzwischen ist viel Zeit vergangen und meine Arbeit als Forschungsassistent liegt glücklicherweise weit zurück. Ich arbeitete zunächst einmal als Texter bei einer lokalen Werbeagentur. Das langweilte mich aber nach einiger Zeit genauso wie die Forschungsaufträge. Seit vier Jahren bin ich nun ein eingermassen zufriedener Mitinhaber eines gutbesuchten Kulturcafés in einem der beliebtesten Wohnquartiere der Stadt. Die Nationalbibliothek habe ich seither nicht mehr besucht. Ich vermisse diesen Ort kaum.

Möglicherweise fragt ihr euch jetzt noch, weshalb ich euch diese Geschichte erzählt habe? Und warum ausgerechnet heute? Beide Fragen lassen sich in einem Satz beantworten: Heute ist der Tag, an dem ich meine Chronik einreiche.

 

Hallo Niklas,

Auch dir ein herzliches Willkommen bei den Wortkriegern. Und danke für deine alltägliche und seltsame Geschichte. An einigen Stellen hatte ich das Gefühl, dass sie auch Humor als Tag vertragen würde. Ich fand es eine schöne Idee, die du sprachlich sehr sauber umgesetzt hast. Dein Text liest sich flüssig und es mach Spaß, ihn zu lesen. Ich finde auch die berichtende Art passend und dass du den Leser direkt ansprichst. Was den Textfluss etwas bremst, ist, dass du die Dialoge im Absatz mit verstaust. Besser wäre, diese als neuen Absatz zu gestalten. Mich hat es ehrlich gesagt, ein bisschen gewundert, dass dein Prot. nichts der Chronik beigesteuert hat, denn seine Arbeit verlangt von ihm doch so viel Akribie und diese Leute sind doch schier prädestiniert für solche Sachen. Denen fallen doch die kleinsten Unebenheiten im Alltag auf. Und die wollen auch alles archivieren. Ich finde die Zeichnung der Galladé sehr schön.

Einige Flüchtigkeitsfehler habe ich entdeckt und der Chronik beigefügt :D

Bei näherem Betrachte konnte ich erkennen, dass Symbole in die alte Holztür eingraviert waren.

Bei näherem Betrachten ...

eine kleine Lücke auf der rechten Seite liess in wie ein C aussehen.

... liess ihn wie ein C ...

zwar in etwa auf der Höhe meines Ohr.

... meines Ohres.

In der Mitte des Raumes waren zwei langweilige, grau Bürotische zu einem Quadrat zusammengeschoben worden.

... langweilige, graue Bürotische ...

Herr Soltermeier wannte sich wieder mir zu:

Herr Soltermeier wandte sich ...

Man sogar soweit gehen zu sagen:

Man kann sogar so weit gehen, zu sagen:

„Also, wenn Sie das nicht ernstnehmen können, bekommen Sie keine weiteren Informationen von uns!“, sprach sich mich in resolutem Ton zum ersten Mal direkt an.

sprach sie mich in resolutem Ton ...

„Tschuldigung, tschuldigung. Ich wollte niemanden kränken. Das ist nur alles gerade etwas fiel.

etwas viel.

Gern gelesen!

Schönen Gruß in die Schweiz aus Sachsen
khnebel

 

Der Auor schrieb zu seiner Geschichte:

[Eine kleine Klammerbemerkung vorweg: ich bin Schweizer, deshalb gibt es im Text einige Helvetizismen und keinen einzigen scharfen S...]

Solche Anmerkungen bitte immer unter den text setzen. Das erste Fenster gehört allein der Geschichte :dozey:

 

Hallo khnebel

Vielen Dank für deine positive Kritik! Mit dem Ende der Geschichte war ich selber noch nicht ganz zufrieden. Werde das Ende und die Tippfehler noch einmal überarbeiten.

Kleine technische Frage: wenn ich eine überarbeitete Fassung der Geschichte posten will, soll ich diese dann im gleichen Thread unten anhängen oder die ursprüngliche Fassung austauschen?

 

Hallo Niklas,

die ursprüngliche Fassung wird ausgetauscht. Du kannst dann unten noch eine Info hinterlassen, dass die Version geändert ist. Dann kann man das besser finden und der Thread erscheint wieder oben.

khnebel

 

Hey khnebel!

Danke für den Tipp! Hab jetzt die überarbeitete Fassung (inkl. neuem Ende!) gepostet.

- Niklas

 

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