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Serie L'Amour

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26.02.2015
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L'Amour

Gerhard Blum saß im Wohnzimmer seiner 55 qm Zweizimmerwohnung - Küche, Diele, Bad, ohne Balkon, dafür mit Badewanne. Er starrte über einen hellbraunen Fakeholzschreibtisch hinweg die Wand an, während das letzte Licht des Tages ihm gegen die linke Schulter drückte. Warf man einen Blick aus dem Fenster, sah man genau auf die Mitte eines Ahornbaumes, der das fünfstöckige 08/15-Einheitsgebäude aus den 70ern leicht überragte und ein üppiges Grün zur Schau stellte. Die Aussicht war der ausschlaggebende Grund, weshalb er sich vor acht Jahren für diese und nicht irgendeine andere von den unzähligen Wohnungen entschied, die er sich in einem sechswöchigen Besichtigungsmarathon angeschaut hatte. Eine Zeit, als der Mietspiegel in der Gegend noch keine Frechheit war. Der Baum bot die Illusion von Natur in diesem Wald aus weißen, grauen und beigefarbenen, energieeffizient, grundsanierten Gebäuden mit dreifachverglasten Fenstern und Kameras über den Garagentoren, um die Graffitisprayer abzuhalten. Der Ahornbaum war sein Trumpf, wenn es darum ging, im Wer-hat-die-coolste-Wohnung-Spiel mithalten zu können. Sobald jemand die Balkonkarte legte oder den Fahrstuhljoker hinwarf, konterte er mit diesem 1-A Wohnzimmerausblick - und der Badewanne. Das Spiel spielte er gerne mit seinen Freunden und Bekannten, um ihrem mittelmäßigen Spießbürgerleben ein klein wenig Glanz zu verleihen. Es waren, zu positiven Charakterzügen hochstilisierte, Merkmale in dem Einheitsbrei aus Laminatböden – ‚Mann, der ist aber sauber verlegt!‘ -, Einbauküchen – ‚So eine Spülmaschine ist echt superpraktisch. Und man verbraucht viel weniger Wasser, als wenn man mit der Hand spült!‘ - und Ikeamöbeln – ‚Für den Preis kann man echt nix gegen die Qualität sagen!‘. Jeder Teilnehmer des ewigen Wettstreites wusste: Individualität ist Ehrensache. Auch wenn sie nur eine Utopie ist, der man zeitlebens hinterherläuft. Wie ein Esel einer Möhre, die ihm an einem Stock hängend vor der Nase baumelt - ‚Gleich hab ich sie! Gleich HAB ich SIE!‘. Sozialisierung im 21. Jahrhundert: eine Möhre vor der Nase, einen Stock mit Möhre in der Hand für die anderen. Wenn man schon der Depp ist, soll der Rest gefälligst auch dem verdammten Gemüse hinterher hecheln.
Dieser, sich selbst verstärkende Kreislauf, war einer der Gründe, warum Gerhard vollkommen fertig mit der Welt in seinem Wohnzimmer saß - vollgestopft mit Depressionen, denen die Presse jeden Tag neue, trendige Namen gab. Den Baum vor der Haustür hatte er seit Monaten nicht mehr wahrgenommen. Der sauber verlegte Laminatboden war nur noch zum Laufen da, und die Ikeaschränke waren zu Geistermöbeln mutiert, die sich unbeachtet an die weißen Wände lehnten. Voll mit Kram, den er kaum oder gar nicht benutzte. Wofür braucht man einen batteriebetriebenen Milchaufschäumer, wenn man gar keinen Cappuccino mag? Oder drei Handys? Er hatte doch nur zwei Hände. Oder all die Dinge in diesem vollgestopften Schrank da … Was war da noch drin?
Er starrte abwechselnd auf eine viertelvolle - nein, für ihn war sie natürlich zu drei Vierteln leer - Flasche Billigwodka vom Discounter und einen Colt M1911, Kaliber .45. Am Rande seines Blickfeldes verströmte ein Notebook aus gefrästem Aluminium, mit hochauflösendem Retina-Display, trendige Vibes, die jedoch an Gerhards großem LEID abprallten, wie rationale Argumente an religiösen Fanatikern. Bösartige Gedanken wühlten in den tiefschwarzen Abgründen seiner vernarbten Seele. Sie kratzten am Schorf, bis das Blut hervorquoll und die Wunden wieder schmerzten, als wären sie ihm gerade erst zugefügt worden. Ja, von ANDEREN zugefügt: seinen Eltern, seinen Vorgesetzten, seinen Kollegen, seinen »Freunden«, der gemeinen, bösartigen, hässlichen, schlechten, gehässigen, unfairen, verlogenen, kaltherzigen, intriganten, verhassten, feindseligen WELT! Er fühlte sich wie ein zerfleddertes Huhn am Ende der Hühnerhierarchie. Eine bemitleidenswerte Kreatur, die stets als Letztes an den Futtertrog gelassen wurde, um die ungenießbaren Körnerreste aus den Ecken kratzen zu dürfen. Während die anderen bereits in ihren warmen Nestern hockten und ihm genüsslich auf den Kopf kackten. PLATSCH … PLATSCH … PLATSCH …

——

Rebecca ging an diesem Freitagabend - einfach nur so - spazieren, um sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben … und der Einsamkeit in ihrer kleinen, überteuerten Wohnung zu entkommen. Die Streifzüge durch die Straßen waren zu einem Ritual geworden, dem sie so gut wie jeden Abend nachging - mindestens 30 Minuten in zügigem Tempo. Das förderte die Gesundheit, beugte Herzkreislauferkrankungen vor und hielt die Figur in Form - hatte sie irgendwo mal gelesen.

+++ Neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge reichen auch schon 20 Minuten, Rebecca. So sparst du 10 Minuten pro Abend, die du für andere tolle Aktivitäten nutzen kannst! +++

Und welche Frau war nicht zeitlebens damit beschäftigt, die ewige Baustelle von Körper zu optimieren? Doch alle, oder? Oder?!? Ja, stand vor kurzem noch in diesem Ratgeber für ein gesünderes, fitteres, erfolgreicheres, stressfreies, glücklicheres, erfüllteres - einfach rundum BESSERES Leben. Jeder konnte etwas dafür tun. Konnte? Nein, musste! Es war die verdammte Pflicht eines jeden Erdenbürgers - Haustiere eingeschlossen. Vom ersten Geburtsschrei bis zum letzten Atemzug!

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Grundsätzlich war Rebecca recht zufrieden mit sich. Ok, sie war nicht sehr groß - konnte sie leider nicht ändern … die Haare waren praktisch unfrisierbar dünn - konnte sie LEIDER nicht ändern … sie fand ihre Finger zu dick - konnte sie LEIDER NICHT ÄNDERN … und ihre Brüste waren etwas klein geraten - konnte sie ändern, aber zu teuer, und sie hasste Kliniken. Was ihre Oberweite betraf, betete sie sich immer das Mantra ihrer Mutter vor: »Was nicht da ist, kann nicht hängen. Was nicht da ist, kann nicht hängen. Was nicht da ist, KANN NICHT HÄNGEN! …« Aber grundsätzlich war sie zufrieden mit ihrem Körper. Ja, war sie, verdammt nochmal!
Die frische Luft war sehr angenehm - sofern man in der Stadt von »frisch« reden konnte. Doch seit im innerstädtischen Bereich nur noch Fahrzeuge mit grüner Umweltplakette zugelassen waren, konnte man sie zumindest atmen. Das minderte die beängstigenden Gedanken an schwarze Lungen und wild wuchernde Krebsgeschwüre ein wenig. Rebecca hatte ihren Wagen vor einiger Zeit ganz abgeschafft, fuhr nur noch Bus und Bahn oder machte Erledigungen zu Fuß, was gut für die Figur und das Herzkreislaufsystem war.

+++ Mindestens 20 Minuten. Jeden Tag! +++

Welch erhabenes Gefühl. Kein Auto zu besitzen, ließ sie in der Weltverbessererhierarchie zwei bis drei Sprossen höher steigen. Gut für die Umwelt - noch besser fürs Ego. Zudem ersparte sie sich den nervenzerfetzenden Kampf um einen freien Parkplatz und eine Menge Geld. Vielleicht wäre doch bald eine Brust-OP drin? Nur eine dezente Vergrößerung um eine Körbchengröße? Das haben doch schon unzählige Frauen vor ihr gemacht. So groß konnte das Risiko nicht sein. Sie stellte sich die Wirkung auf ihre Umgebung vor. Wie sich mit neuem Selbstbewusstsein der Größe C ihre Lebensqualität verbessern würde: die bewundernden Blicke der Männer … der Neid in den Augen ihrer unoptimierten Geschlechtsgenossinnen … die Menschen wären freundlicher … die Sonne würde heller scheinen … im Beruf ständen ihr alle Türen offen … und der Sex … was für grandiosen Sex würde sie haben! Alleine der Gedanke an all diese VERBESSERUNGEN hob ihre Stimmung. Selbst das tief verwurzelte Wissen, dass sie diesen Schritt niemals wagen würde, änderte nichts daran.
Sie verlangsamte ihren Gang und blieb stehen. Direkt vor einem Baum. Einem beeindruckenden Ahornbaum, der die umstehenden Gebäude überragte und sie magisch anzog. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Genau genommen war es nicht der Baum, sondern das, was sich im dritten Stock des Hauses gegenüber befand. Gerhard Blums Zuhause! Die Wohnung des Mannes, der ihr Arbeitskollege war, seit sie vor knapp zwei Jahren das Unternehmen gewechselt hatte, was einen Gehaltssprung von immerhin knapp 20 Prozent bedeutete. Natürlich musste sie dafür zwei Stunden länger in der Woche arbeiten … und die ersten 20 Überstunden waren bereits mit dem Grundverdienst abgegolten … und sie hatte fünf Urlaubstage weniger im Jahr. Doch ihr neuer Arbeitgeber war JUNG und INNOVATIV. Er hatte eine VISION für sich und seine Kunden … flexible VERTRAUENS-Arbeitszeit … flache Hierarchien … er verkörperte einen LIFESTYLE, mit dem sich Rebecca identifizieren konnte - also definitiv eine VERBESSERUNG.
Damals, an ihrem ersten Tag, machte sie mit dem neuen Chef die obligatorische Vorstellungsrunde, als sie auch bei ihm vorbeischaute, um Hallo zu sagen und … BÄM! Gerhard Blum. Gerhard Blum!?! Was für ein bescheuerter Name … und wie egal ihr das war.

——

Gerhard setzte die, zu drei Vierteln leere, Flasche Wodka an und schüttete das klare Kartoffelsaftdestillat in sich hinein. Kleine Bläschen wanderten den Flaschenhals entlang, sammelten sich an der kopfstehenden Oberfläche und zerplatzten eine nach der anderen. Er stellte die Flasche ab. Sein Magen wehrte sich gegen das 40-prozentige Gebräu. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf, als wollten sie möglichst viel Abstand zu diesem alkoholverpesteten Körper gewinnen. Fast hätte er sich übergeben. Wie konnte ein normal gepolter Mensch sowas aus Genuss trinken? Ganz klar ein Getränk für Alkoholiker - und Russen. Gerhard war kein Russe. Er trank nicht aus Genuss. Er trank, um die düsteren Gedanken zu betäuben, die ihn, sein fragiles Ich und die Vorstellung von dem, was er sein sollte, wie eine hinterhältige Krankheit kontaminierten. Es half nichts. Im Gegenteil. Der Alkohol verstärkte nur dieses beklemmende Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Es brach aus seinem Kern nach außen und war schlimmer als jeder physische Schmerz, den man ihm hätte zufügen können. Noch ein Schluck. Die Luftblasen verdrängten die letzten Reste Flüssigkeit aus der Flasche. Er musste husten, würgte. Eine Mischung aus Alkohol und Sabber lief ihm als dünnes Rinnsal aus dem Mundwinkel, an Kinn und Hals entlang, bis es vom Kragen seines fleckigen Hemdes aufgesogen wurde. Wenn ihn jetzt jemand sehen könnte … was für ein armseliger Anblick. Oh, wie sehr er sich wünschte, da wäre jemand. Jemand, der Mitleid mit dieser verlorenen Seele hat. Jemand, der den sensiblen, intelligenten Charakter hinter der Fassade aus Zurückhaltung und Stille erkennt. Sein wahres Ich - was auch immer das war. Wie in all den Hollywoodfilmen mit Happyend, in denen selbst das größte emotionale Tief noch Würde besitzt. Doch das hier war kein Film, sondern die nackte Realität. Von Würde fehlte jede Spur. Die unbarmherzige Welt der Hühner, die ihm aus ihren warmen Nestern auf den Kopf kackten. PLATSCH … PLATSCH … PLATSCH. Kein Platz für herzzerreißende Wendungen hin zum Guten. Kein Orchester, das die volle Theatralikbreitseite auffährt, während der aus dem Sumpf des tragischen Daseins emporgestiegene Held mit seiner 90-60-90-Retterin – ‚Und intelligent ist sie auch noch!‘ - gen Sonnenuntergang reitet. Kein Orchester. Nur das metallische Blubbern der überholungsbedürftigen Etagenheizung und das Getrampel der nervigen Nachbarn unter ihm. Dies war der Soundtrack, den er verdiente. Der Rhythmus einer gescheiterten Existenz. Er setzte die Flasche erneut an, doch sie war leer. Verdammt! Kein Schnaps mehr, der ihm den Weg in die erlösende Bewusstlosigkeit ebnen konnte. Ein Liter Wodka in weniger als 60 Minuten. Es gab Zeiten, da hätte man ihm dafür anerkennend auf die Schulter geklopft. In seiner Jugend wäre das eine Heldentat gewesen. Jetzt machte es ihn zu einem kleinen versoffenen Wicht. Kein Schulterklopfen. Nur das Blubbern der Heizung und die knirschenden Schritte seiner Nachbarn unter ihm …
Mit einem Knall zersprang die Flasche neben seinem Stuhl. So eine Scheiße! Überall Scherben! Der gute Laminatboden! 12,50 Euro der Quadratmeter! Gerhard fing an zu schluchzen, wie ein kleines Kind. Er bewegte sich zielstrebig auf das niedere Ende der Armseligkeitsskala zu. Hier unten gab es nicht mehr viel. Nur noch sein kümmerliches Ich und die Waffe auf dem Tisch.

——

Rebecca glaubte damals nicht an Liebe auf den ersten Blick. Doch an diesem ersten Tag in der neuen Firma wurde sie vom Gegenteil überzeugt. Drei Sekunden braucht der Mensch, um sich ein Urteil über einen anderen zu bilden - hatte sie mal irgendwo gelesen. Sie brauchte drei Millisekunden, um sich in diesen zurückhaltend lächelnden jungen Mann zu verlieben. In die blassgrünen Augen, die schlanke Gestalt, deren Schultern von der Schwerkraft leicht nach unten gezogen wurden. Sein glattrasiertes, faltenloses, wohl proportioniertes Gesicht mit der schmalen Nase ließ ihn noch sehr jungenhaft wirken, obwohl er schon Mitte 30 war. Er trug damals eine blaue Jeans mit einem weißen ungebügelten Hemd - beides eine Nummer zu groß. Kein klassischer Blickfang. Eher ein Nerd. Aber wenn man etwas Arbeit und Geld investierte, dann könnte ein sehr properer Vorzeigepartner aus ihm werden. Und ja, sie war diejenige, die diese Investitionen tätigen wollte. Nach drei Millisekunden war ihr das klar.
Die Sache stellte sich dann aber als sehr schwierig heraus. Dezente Andeutungen und Flirtversuche ihrerseits prallten stets an seiner Zurückhaltung - nein, nennen wir es beim Namen: extremer Schüchternheit … unglaublich, wie gehemmt ein Mann mit seinem Aussehen sein konnte - ab. Zuerst dachte sie, er hätte keinerlei Interesse. Bis sie bemerkte, wie er sie ansah, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Frauen haben Antennen für sowas. Er hatte Interesse an ihr! Aber was tun mit dieser Erkenntnis? Sie konnte schlecht mit der Tür ins Haus fallen und ihm ihre Liebe gestehen. Wenn sie die Karten offen den Tisch legen würde … Wie verzweifelt käme das denn rüber? – ‚Guck dir die an! Wie sie jeden Typen angräbt, der nicht bei drei auf den Bäumen ist. Die muss echt Torschlusspanik haben.‘ - Sie würde sich vollkommen uninteressant machen. Der Mann hatte in diesem feinen Pingpongspiel menschlichen Balzverhaltens - ein Lächeln hier, eine Andeutung da, ein Augenaufschlag dort - immer noch den ersten großen Schritt zu tun. Dachte sie - weil sie es mal irgendwo gelesen hatte. Er anscheinend nicht.
Es war zum verrückt werden! Seit diesem ersten Tag in der neuen Firma versuchte sie, ihn irgendwie aus der Reserve zu locken. Ihr Interesse war in dieser Zeit nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Sie erwischte sich andauernd dabei, wie sie an seinem Büro vorbei schlich - die Tür stand immer offen - nur um einen kurzen Blick auf ihn werfen zu können. Und seit ein paar Monaten führten ihre Spaziergänge - einfach so - an seinem Haus vorbei. Das waren die kleinen Glücksmomente, die sie aufheiterten … und verzweifeln ließen.

——

Seine in Tränen eingelegten Augen nahmen nur noch ein kaleidoskopartiges Licht- und Schattenspiel der Umgebung war. Sturzbäche aus Schnodder liefen ihm aus der Nase, die er mit jedem Schniefen nur kurz auf ihrem Weg nach unten aufhalten konnte. Nach unten … immer weiter nach unten … Selbstachtung … Welche Selbstachtung? Für einen geröteten Augenblick tauchte er aus dem Ozean aus Schuld, Leid und Selbsthass auf, um Luft zu schnappen und nahm seine Umgebung in Ansätzen war. Er spürte den Colt M1911 unter seinen Fingerspitzen. Geladen, entsichert, ready to go.

——

»Scheiß drauf!«, dachte sie sich. Schlimmer als jetzt konnte es doch nicht mehr werden. Sie würde jetzt da rüber gehen und bei ihm klingeln. Wie früher, als Menschen sich gegenseitig besuchten, ohne vorher per Telefon oder SMS oder WhatsApp oder Facebook oder was auch immer sich ein neues Start-up-Unternehmen revolutionäres ausgedacht hatte, um das Kommunikationsverhalten zu VERBESSERN, bescheid zu geben. Sie würde ihn einfach überrumpeln, und dann … dann … dann … Was dann? Verdammt, das würde sie spontan entscheiden. Sie waren füreinander bestimmt. Das wusste sie. Das wusste er - glaubte sie zumindest. Wollte sie glauben. Manche Menschen muss man zu ihrem Glück zwingen. ‚Ich bin eine moderne Frau und genauso in der Lage, den ersten Schritt zu tun, wie jeder Mann!‘ Mit dieser Entscheidung im Gepäck drehte sie dem Stamm des großen Ahornbaumes den Rücken zu und marschierte geradewegs über die Straße, auf die Eingangstür des grauen 08/15 70er-Jahre Einheitsgebäudes gegenüber zu.

——

Gerhards Überlebenstrieb, der jedem Lebewesen auf diesem Planeten durch die Evolution, manche würden sagen von Gott - Wo war Gott jetzt?!? - per genetischem Code mitgegeben wurde, saß zusammengekauert in einer Ecke und machte keinen Mucks. Sein Verstand war in dicke Watte gepackt, gab die Kontrolle bereitwillig ab. Wie ein programmierter Fließbandroboter schloss er einen Finger nach dem anderen um den Griff der Waffe. In Zeitlupe spannten sich die Muskeln in seinem Arm und hoben den Colt an. Sehr langsam, als müssten sie das Gewicht der Welt stemmen. Sein Ellenbogengelenk knickte ein, der Unterarm drehte sich um 45 Grad, eine letzte Justierung des Handgelenks und das kreisrunde Ende des Pistolenlaufs drückte gegen seine Schläfe.

——

Jedem ihrer Schritte folgte ein Sperrfeuer an Zweifeln. Was, wenn er Besuch hat? … Oder Sauer wird, weil jemand die Frechheit besitzt - einfach so - ohne Anmeldung, bei ihm aufzukreuzen? … oder … Oh Gott! … Hat er eine Freundin? Sie hatten nie darüber gesprochen … Vielleicht war das der wahre Grund seiner Zurückhaltung … oder … oder … oder … Was machte sie da eigentlich? Sie war doch nur eine Arbeitskollegin. Nicht ein einziges Mal hatten sie sich außerhalb des Firmengeländes miteinander unterhalten …
Eine Reihe kleiner Knopfaugen tauchte vor ihr auf. Jedes Einzelne mit einem Namen daneben. In der Mitte, in kleinen schwarzen Druckbuchstaben: sein Name. Gerhard Blum! Keine Armlänge vor ihr. Wahrscheinlich war er gar nicht zuhause. Er sitzt bestimmt nicht den ganzen Abend in seinem Zimmer und wartet darauf, dass sie bei ihm klingelt. Ausgerechnet sie, mit ihren 1,58m, ihren unfrisierbar dünnen Haaren, den dicken Fingern und den zu klein geratenen Brüsten. Es wäre also sinnlos. Oder?

——

Er musste nur noch seinen Zeigefinger krümmen, dann wäre alles vorbei. Der dicke, fette Schlussstrich. Endgültig. Die erste wahrhaft konsequente Entscheidung in seinem Leben. Zeit und Raum verdichteten sich zu einem zähen, klebrigen Klumpen, in dessen Zentrum er feststeckte. Der Mittelpunkt von etwas sein ... das wollte er doch immer.
Er holte tief Luft. Seine Lungen füllten sich bis zum Anschlag. Er presste die Zähne zusammen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer grotesken Maske aus Hautfalten. Gerhards ganzer Körper war ein einziger schmerzender Krampf. Jetzt nur noch den Finger krümmen … den Abzug betätigen … komm schon … endlich Ruhe … keine Angst mehr … Schluss mit all der Demütigung … Erlösung … ERLÖSUNG! Sein Arm begann heftig zu zittern und … und … er konnte es nicht.

——

Rebecca musste nur noch ihren Arm ausstrecken, dann wäre es geschafft. Dann hätte sie Klarheit. Mut beweisen. Konsequent sein. Zeit und Raum verdichteten sich zu einem zähen Klumpen. Sie, mittendrin. Eine Adrenalinexplosion durchfuhr ihren zu klein geratenen Körper bis in die dicken Fingerspitzen. Sie wollte sich schon wieder umdrehen und gehen … und … und … wie fremdgesteuert streckte sie den Arm aus und ihr zitternder Zeigefinger drückte auf den Klingelknopf. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

——

BRRIIIIIIIIIIINNNNNNG!!!!!!

Der Schreck durchfuhr ihn wie ein Schlag aus einer Hochspannungsleitung. Sein zentrales Nervensystem schrie: »Alarm!« und sendete einen kurzen Befehl an alle Muskeln: Kontraktion! Jetzt!
Es machte KLICK, der Hahn des Colts wurde entriegelt, dessen Spitze knallte auf den Schlagbolzen, trieb ihn in die dafür vorgesehene rückseitige Ausbuchtung der Patrone, verdichtete das Schwarzpulvergemisch im Innern und brachte es zur Explosion. Der gewaltige Überdruck ließ das Projektil wie einen bleiernen Sektkorken aus der Flasche schießen, beschleunigte es innerhalb des Laufs auf eine verdammt hohe Anzahl an Metern pro Sekunde, wurde unmittelbar nach dem Austritt von Haut, Knochen und Gehirnmasse abgebremst, war dennoch schnell genug, um die gegenüberliegende Schädelplatte zu durchschlagen und eine heillose Sauerei an der dahinterliegenden Zimmerwand anzurichten. Arm und Waffe stürzten schlaff in Richtung Boden, gefolgt von einem dumpfen Schlag, als drei Viertel von Gerhards Kopf auf die Tischplatte knallten.

 
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Hallo MosesRabe,

Ich habe mich durch deine Geschichte geackert. Um ehrlich zu sein, ich brauchte mehrerer Versuche. Für mich war es zu langatmig, zu ausschweifend. Ein Text der sehr zum Querlesen verleitet. Am Ende wirds dann aber spannend und ist auch viel besser geschrieben.

Er starrte über einen hellbraunen Fakeholzschreibtisch hinweg die Wand an, während das letzte Licht des Tages ihm gegen die linke Schulter drückte.

Ich weiß nicht, drückt ein Licht gegen die Schulter?


Eine Zeit, als der Mietspiegel in der Gegend noch keine Frechheit war.

Mietspiegel ist nicht überall verständlich, würde ich weglassen.

+++ Neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge reichen auch schon 20 Minuten, Rebecca. So sparst du 10 Minuten pro Abend, die du für andere tolle Aktivitäten nutzen kannst! +++

Sollten das Gedanken sein würde ich die + Zeichen weglassen. Ist irgenwie verwirrend. Ausserdem würde ich die Zahlen ausscheiben.

Das ganze würde ich als eine makabere Geschichte mit teils gute Pointen bezeichnen. Wie gesagt, ab der Mitte wirds etwas besser. Super Thema, teils gut geschrieben, für mich allerdings zu viel Ausschmückung im Text.

LG
BRM

 

Hallo MosesRabe,

herzlich willkommen hier.

Ich kann dir nicht sagen, ob ich deine Geschichte nun gut oder schlecht fand. Ich würde sagen, für mich war es etwas zwischendrin, das kommt der Wahrheit wohl am nächsten. Deine Schreibweise finde ich teils amüsant, teils sind mir die Vergleiche aber zu überladen und häufen sich zu sehr.

Zum Beispiel das hier:

Er fühlte sich wie ein zerfleddertes Huhn am Ende der Hühnerhierarchie. Eine bemitleidenswerte Kreatur, die stets als Letztes an den Futtertrog gelassen wurde, um die ungenießbaren Körnerreste aus den Ecken kratzen zu dürfen. Während die anderen bereits in ihren warmen Nestern hockten und ihm genüsslich auf den Kopf kackten.

Mir ist das zu viel, das ist ein "Er fühlte sich elend/scheiße/was-weiß-ich" unnötig in die Länge gezogen, es wiederholt sich und ich finde auch, es widerspricht sich mit den Depressionen, an denen dein Protagonist leidet. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich deshalb auch den Colt im ersten Durchgang überlesen habe und vollkommen überrascht vom weiteren Verlauf war. Schwierig zu erklären, aber mir ist dieses doch sehr ernste Thema zu comicmäßig aufgezogen. Das ist aber sicherlich Geschmackssache, die einen mögen's, die anderen nicht.
Den Beginn mit der Wohnung fand ich ganz amüsant. Du zielst auf die Oberflächlichkeit ab, die uns in dieser Hinsicht heutzutage begleitet. Die Oberflächlichkeit scheint ja ein zentrales Thema deines Textes zu sein. In diesem Zusammenhang wäre der Einstieg wieder okay, aber ganz nüchtern betrachtet hat für mich diese lange Einstiegsszene nicht viel mit dem Rest des Textes zu tun.

Du schreibst aus der Sicht von Gerhard und Rebecca und machst das auch deutlich durch markierte Absätze, das finde ich gut, das verwirrt mich ansonsten oft, wenn das nicht entsprechend gekennzeichnet ist. Ich mag das, durch Perspektivenwechsel bleibt die Spannung immer aufrecht, was in deinem Text auch von Bedeutung ist. Zum Ende hin zieht sich das aber ganz schön in die Länge, da wird mir dann zu oft gewechselt, obwohl die Handlung nicht mehr so vorankommen mag. Für meinen Geschmack kann man da auf jeweils einen Perspektivenwechsel gut verzichten.

Mit der Person Gerhard hatte ich etwas mehr Probleme als mit Rebecca. Die ist geprägt von ihrer Torschlusspanik und verzweifelt auf der Suche nach einem Mann (und für mich glaubt die schon an Liebe auf den ersten Blick), holt sich ihre Ratschläge aus Frauenmagazinen. Dass sie Gerhard unbedingt kennenlernen will, da muss man für mich nicht mehr viel hinterfragen. Bei Gerhard frage ich mich aber schon, was genau ihn zu dieser Tat treibt? Depressionen, ja, aber warum? Weil ihm die oberflächliche Gesellschaft so auf den Keks geht, weil er sich da nicht so einbringen kann/will? Das kommt für mich so ein wenig aus deinem Text hervor, aber deshalb wird aus einer Person ja noch lange kein Selbstmörder. Ich finde es schwierig, Gerhards Handeln nachzuvollziehen.

Am Ende machst du es noch mal spannend und ja, ich hätte mir ein Happy End gewünscht, ich geb's offen zu. So wie du es aufgelöst hast, wirkt es mir aber ein bisschen zu plakativ. Ich habe das Gefühl, du wolltest deinen Text durch dieses Ende leben lassen, durch dieses Überraschungsmoment die Leser mitreißen, sodass die sich denken "Boah, das ist gut, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet." Dabei sind für mich aber die Charakterisierungen zu sehr auf der Strecke geblieben und das Ende ist für mich nicht ganz stimmig mit dem Rest der Geschichte.

Noch was zum Stil:
Die Großbuchstaben sollen die Wortwahl der Lifestyle-Magazine hervorheben, schon klar, aber mich stört das in einem Text immer, wenn dem Leser da immer solche Wörter entgegenleuchten, schon bevor man an dieser Stelle angekommen ist. Die Absätze, wo sozusagen aus diesen Magazinen zitiert wird, da finde ich es okay, aber ansonsten kann man meiner Meinung nach darauf verzichten.
Und wo wir gerade beim Nicht-Mögen sind: Die Auslassungspunkte, haben die eine besondere Bedeutung für dich? Die kann man doch auch durch Bindestriche oder (besser) Kommas ersetzen.
Vielleicht finden andere das gut, aber mich stört das eher, wenn ich auf einen Text schaue und da drängen sich meinem Auge als erstes Großbuchstaben und Punkte auf.

MosesRabe, mein Kommentar hat jetzt irgendwie so einen negativen Beigeschmack, aber wie schon eingangs erwähnt: Ich fand das keineswegs schlecht. Deinen Stil finde ich interessant, vielleicht hat dein Text einfach nicht so ganz meinen Geschmack getroffen oder die Figurenzeichnung ist tatsächlich noch verbesserungswürdig. Ich würde mich auf jeden Fall freuen, wenn ich noch weitere Geschichten von dir lesen kann.

Gruß,
rehla

 

hallo rehla,
hallo BRM,

danke für eure ausführliche kritik. die war mir eine große hilfe!

im nachhinein ist mir klar geworden, dass der gerhard-teil viel zu überladen und übertrieben dargestellt ist. werde vor allem diesen teil nochmal komplett überarbeiten.

was die formatierung des textes angeht, suche ich noch nach einem geeigneten mittel, wie ich bestimmte betonungen, gedankenwirrnisse und übertreibungen darstellen soll. das war also ein experiment. nach euren kommentaren ein noch nicht ganz gelungenes. ;) muss da mal drüber nachdenken, wie ich das besser und für den leser verständlicher machen kann ...

grüße
MR

 

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