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Puffbesuch

Monster-WG
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10.09.2014
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Puffbesuch

Volles Haus, ausverkauft. Anspannung überall. Ich muss auf Matthias achten.
Er arbeitet über mir.
Leider gelingt es ihm nicht immer, sein Lampenfieber wegzutrinken, ohne dass es auffiele.
Matthias ist ein großartiger Schauspieler, nur etwas versoffen.
Einige Abende geraten so an den Rand der Katastrophe. Aber es gibt auch unvergessliche Vorstellungen mit tosendem Beifall und rasendem Publikum.
Die Beleuchtung ist heute nicht auf Draht, auch das Bühnenbild finde ich misslungen. Allerdings habe ich in meinem Souffleurkasten kein Mitspracherecht bei solch wichtigen Dingen.
Metallisch klappern Pantöffelchen die schmale Wendeltreppe herunter. Sigrid mit der gleichen Frisur wie Marge Simpson, nur eben silberweiß und perlenverziert, erreicht die letzte Stufe. Sie kann ihren Text, wirbelt über die Bühne; ich genieße ihr Parfüm.
Und jetzt Matthias! Er hat schon Luft geholt für die anspruchsvolle Rede.
Doch das erste Wort will und will nicht kommen. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, um sein Schwanken zu kaschieren. Ich muss ihn retten!
Ich flüstere: „ Hier treffe ich dich? Unter rostigen Kronleuchtern in dieser erbärmlichen Absteige, die nie ein Grand Hotel war, auch wenn es über dem Eingang steht.“
Matthias? Nichts. Ich klatsche zweimal in die Hände (unser Geheimzeichen), leise, doch so laut, dass er es trotz seiner schlechten Verfassung hören kann, nein - hören muss. Ja, es funktioniert! Er gestikuliert und bewegt den Mund, als wäre sein Text für Taubstumme gemacht. Während er mit merkwürdigen kleinen Schritten seinen hohen Seegang zu überspielen versucht, schreie ich weiter an seiner Statt das, was ich ihm geflüstert habe.
„Ein Stundenhotel ist das, mit unzumutbaren Betten und verschimmelten Bädern. Hier also bedienst Du Geilheit und Gier!“ Ich tupfe mir Mund und Stirn, denn ich arbeite für zwei. Bevor ich fortfahren kann, höre ich verblüfft:
„Nun gut, dieses Unglück mit der ständigen Unruh’ im Inneren hat sich kein Mann gewünscht. Wenn er sich hätte etwas wünschen können, dann hätte er sich genau das strikt verbeten.“
Ich glaube es nicht – das ist Matthias’ Stimme! Und sie gewinnt an Kraft:
„Da wär’ er doch tausendmal lieber Frau - eine Frau, die Herrin ihrer Taten, meist auch ihrer Gefühle ist, unbeeindruckt vom Gebalze der Männer. Eine Frau, die bestimmen kann, wann und mit wem sie schläft. Die auch mal pausieren kann, um ihre Gedanken zu ordnen – oder fünf Männer zu Tode reitet, wenn ihr danach zumute ist.“
Nun legt Matthias richtig los. Mit vor Entrüstung zurückgeworfenem Kopf hält er seine Brandrede, jeder Satz eine Anklage an die Schöpfung:
„Männer sind ein von fremder Gottheit programmiertes Nichts, nur Silhouetten eines Menschen. Sie sind im göttlichen Auftrag ihr ganzes Leben unterwegs in Sachen Arterhaltung und Vermehrung, sich selbst verleugnend. Müssen eine unrühmliche Rolle übernehmen, die sie angreifbar und unsicher, berechenbar und oft auch lächerlich macht, die sie vom Leben ihres eigentlichen Lebens abhält, es ihnen schlichtweg verwehrt.“
Er hat diese oft zitierten Zeilen H. M. Tribaquod-Alliers mit einer solchen Inbrunst bis zu den höchsten Rängen geschmettert, dass wir alle, wirklich alle erschüttert sind.

Auch das ist Matthias! Wenn der Feuer gefangen hat, dann geht er hoch – auf den Kirchturm, auf den Fockmast, auf den Zehntausender ohne Proviant. Okay, vielleicht hat er etwas Trinkbares dabei.
Immerhin haben wir drei Vorhänge, und das ist für unperfekte Leute, wie wir es sind, ein schöner Erfolg.

Es wird schnell leise im Großen Haus, die meisten Lichter sind schon ausgeschaltet, und die grünen Männchen spenden fast mehr Licht als die Notbeleuchtung. Immerhin finden wir nach draußen.
Einige von uns gehen auf direktem Weg nach Hause, andere drehen noch eine Runde mit ungewissem Ausgang. Matthias hat sich etwas erholt, wahrscheinlich hat ihm der reichliche Applaus gut getan. Weil wieder mal Freitag ist, gehen wir ins Bordell.
Bordell ist natürlich Quatsch, wir sind keine Franzosen. Schulter an Schulter schreiten wir in den Puff.
Viele Neuzugänge registrieren wir, die Szene wird international. Jedes Mal sind wir aufgekratzt. Wir möchten die Fähigkeiten des Chamäleons haben: Das eine Auge filmt alles links, das andere rechts.

Wir scheuen das Risiko neuer Begegnungen und bekennen uns zum Bewährten: Agnes, Roswitha oder Daniela. Nicht gerade originell, schließlich kennen wir die schon zwölf, dreizehn Jahre.

An der Bar des Etablissements treffen wir uns wieder.
„Eh, Ralph“, stößt mir Matthias in die Rippen „weißt du, dass wir uns eben strafbar gemacht haben?“
„Nee, kann ich mir nicht vorstellen.“
„Na ja, noch nicht. Aber wenn wir das schwedische Modell übernehmen, dann sind wir die Blöden. Weil wir Männer sind.“
Ich bestelle das letzte Bier des Abends. „Geht’s auch ein bisschen konkreter?“
„Gerne doch. Wenn sie dich auf dem Treppchen zu Agnes, Roswitha oder Daniela erwischen, dann braten sie dir ein’s drüber. Eine saftige Geldstrafe, wenn du liquide bist. Wenn nicht, musst du paar Tage absitzen, bis dir die Eier weh tun.“
„Aber essen und trinken darf ich noch?“
„Bis jetzt – ja.“
Ich sinniere, wieso man zehn Bier trinken kann, aber nur zwei Limo.
„Ich habe auch schon was von diesem bullshit mitbekommen“, sage ich. „Sie wollen nicht, dass Frauen sexuell ausgebeutet werden. Es wäre gesellschaftlich nicht in Ordnung, wenn sich Männer Frauen für Sex kaufen.“
„Aber wenn Frauen Sex für Geld verkaufen – das ist in Ordnung?“, erregt sich mein Kollege und Freund. Und haut noch mal in die Kerbe: „Ich glaub’, die sind alle verrückt geworden! Die wollen den Milliarden-Sexmarkt möglichst koscher machen, als ob in anderen Branchen alles schön transparent und gesetzestreu liefe. Phantasten sind das. Die schreien: ’Bestraft die Freier!’ Was ist mit den männlichen Singles? Sollen die sich das Ding abschneiden und auf Eis legen, bis wieder normale Zeiten kommen?“
Sein Ärger springt auf mich über: „ Das schärfste ist ja, dass dieselben Leute seit Jahren unbeeindruckt zuschauen, wenn Flatrate-Puffs werben ‚Sex mit allen Frauen, solange du willst, sooft du willst und wie du willst.’ Da hat sich noch niemand dran gestört, wie dort mit den Frauen umgegangen wird. Und die dort arbeiten, tun das garantiert nicht freiwillig. Das ist doch der mieseste Sklavenmarkt der Neuzeit! In Deutschland! Das muss man sich mal vorstellen: Jeder Schmeerlappen kann mit den Frauen machen, was er will! Im Jahre 2015!“

Wir könnten jetzt die Klappe halten, doch Matthias kann das offenbar nicht:
„Wir sind alte Männer.“
„Ach ja?“
„Ja. Vor zwanzig, dreißig Jahren hätt’ ich mir kein’ Kopp gemacht wegen Flatrate. Da wär’ ich hin.“

 

Hola Anakreon,

Von dem her nahm ich es angenehm wahr.
Ich wachse. Und ich nehme auch angenehm wahr, dass ich Post von Dir erhalte.

Schade für die verpasste Chance.
Nun ja, solange ich meine Chancen selbst produziere, ist das nichts Tragisches.

...könnten so unter verschleiernden Textformen nicht mehr recht wahrgenommen werden.

Tut mir leid.

Aber nicht wirklich. Es ist so: diese KG ist natürlich keine. Das weiß ich.
Ich meine, schon ein wenig dazugelernt zu haben – und so danke ich den Wortkriegern und nicht zuletzt auch Dir als meinem ersten Kommentator für so manche Erhellung.
Langsam wurde meine Schreiberei allerdings eine andere Beschäftigung, als sie eigentlich gedacht war.
Schreiben als Hobby und aus Spaß wurde zu Schreiben mit Ernsthaftigkeit. Jetzt konnte es jeder lesen – und auch kommentieren. Der Vorteil war, dass ich mir deswegen mehr Mühe gab und auch das Gefühl hatte, langsam voranzukommen. Mit dem „Winterspaziergang“ hatte ich mir gute Chancen ausgerechnet.
Leider war die Resonanz dürftig.
Mit meiner jetzigen Geschichte läuft es ein bisschen besser. Einige sagen, es wäre ordentlich geschrieben. Aber es ist eben trotzdem keine richtige Kurzgeschichte. Und auch mein nächstes „Werk“ wird die Anforderungen nicht erfüllen, doch ungeachtet dessen werde ich mich anstrengen, wenigstens ein bisschen Lesespaß zu fabrizieren. Für mehr wird’s nicht reichen.

Deshalb nicht unfroh, grüße ich Dich!
Joséfelipe

 

Hallo Josefelipe, vorneweg: Ich mag Deine Geschichte, auch wenn ich finde, dass da noch etwas fehlt.

Mir gefällt Dein Stil, diese leichte, fröhliche und klare Art des Schreibens. Es ist für mich eine gelungene Mischung aus umgangssprachlichem Ausdruck (die Beleuchtung ist heute nicht auf Draht) und gehobenem, ironischen Tonfall (mit vor Entrüstung zurückgeworfenem Kopf hält er seine Brandrede, jeder Satz eine Anklage an die Schöpfung/ Wir scheuen das Risiko neuer Begegnungen und bekennen uns zum Bewährten). Das finde ich wirklich toll.

Inhalt und Thema werden von Dir quasi diskret umkreist. Es geht nicht, wie Du ja auch im Kommentar erwähnt hast, um eine erschöpfende Darstellung oder Analyse der Prostitution, sondern um die mehr oder weniger tiefgründige Reflexion der dahinterstehenden Moral durch ein paar Freier. Hier wird auch eine Differenzierung getroffen zwischen Old School Puff und Modern Flatrate Erotic Center. Die Protagonisten sinnieren darüber, wie die graduellen Unterschiede bezüglich der persönlichen Freiheiten der Nutten zu bewerten sind, wo ist es noch das älteste Gewerbe der Welt und wo beginnt der Menschenhandel (wie alt ist dieses Gewerbe?).

Es ist liegt in der Natur der Sache, dass die beteiligten Personen den grundlegenden Konflikt nicht erkennen und lösen können. Ich mach das mal schnell :D Zwar könn(t)en Gesetzesveränderungen für bessere Lebensbedingungen von Prostituierten (Krankenversicherung, Altersvorsorge und andere Sozialleistungen) hilfreich und wertvoll sein, und in der Umsetzung wäre es bei entsprechendem politischen und administrativen Willen auch möglich, einen gewissen Schutz vor Zuhältern und Menschenhändlern zu gewährleisten, aber der grundlegende Konflikt liegt in einem gesellschaftsübergreifenden Mangel an Verständnis für das Wesen der menschlichen Sexualität.

Es ist völlig egal, ob man sich nach skandinavischem, deutschem oder russischem Modell orientiert, das Problem der Prostitution hat etwas damit zu tun, dass es keine adäquaten gesellschaftlichen Umgangsformen und Traditionen (mehr) gibt, die es den Menschen ermöglichen, ihre sexuellen Bedürfnisse und Impulse zu bewältigen. Es gibt niemanden, der Heranwachsenden die körperliche Liebe "lehrt", niemanden, der ihnen beibringt, sexuelle Impulse/ Empfindungen in ihrer ganzen Bandbreite wahrzunehmen, zu erkennen, niemanden, der den Umgang damit unterrichtet. Die Kids von heute werden formal in Sexualkunde und real über Pornografie aufgeklärt. Sie werden von der bürgerlichen Moral in monogame Beziehungen gedrängt, und der Idee, viele, verschiedenartige sexuelle Beziehungen zu suchen und zu pflegen, begegnet man mit dem Vorwurf der Sittenlosigkeit. Innerhalb dieses Rahmes ist die Lösung des Prostitutionsproblems nicht möglich.

Was mir bei der Geschichte fehlt, ist der finale Punch. Vielleicht muss er auch nicht final sein. Aber es fehlt noch so ein Clou, ein besonderer Dreh, der das Ganze – das Du sehr gut arrangiert hast – auf eine höhere oder zumindest andere Bedeutungsebene bringt oder es abrundet und abschließt.

Man kann das formal erreichen, indem man das Ende symbolisch auf einen Aspekt des Anfangs zurückführt. Es könnte so sein, dass eine Frage, die ein Protagonist zu Beginn gestellt hat, am Ende aufgelöst wird, selbst wenn die Frage nur eine Nebenrolle spielt. Das aktuelle Ende finde ich gar nicht schlecht, Matthias outet sich. Das ist schon mal was. Aber vielleicht ginge da noch mehr.

Sehr gern gelesen.

Gruß Achillus

 

Hola @ Achillus,

über Deinen ausführlichen Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Bis ins Herz des Themas bist Du vorgestoßen! Danke schön.

Für die Geschichte habe ich etwas recherchiert. Dabei ging es mir wie den Klimaforschern – je mehr Informationen, desto mehr Verwirrung. Spricht etwas für eine Sache, so spricht auch sofort etwas dagegen.
Unterm Strich sieht’s so aus, dass diese harte Nuss wohl nicht zu knacken ist.
Zu viele gegensätzliche Standpunkte werden keinen gemeinsamen Nenner zulassen. Und Du hast völlig recht: Die jungen Leute werden für dieses Thema nicht ausreichend gebrieft.
Die wissen oft über das doppelte Rollengesetz mehr als über Dinge, die sie persönlich betreffen.
Das ist aber nicht verwunderlich bei 16 Kultusministerinnen und -ministern, um es gendermäßig korrekt zu sagen. Hinzu kommt der Einfluss der Kirchen (trotz Säkularismus).

Meine ganz private Meinung ist, dass zuviel Nachsicht und Toleranz – wie auf anderen Gebieten auch - zu Zuständen führen können, die aus dem Ruder laufen. Die liberalen Regelungen Anfang des Jahrhunderts waren in Ordnung. So hätte der Laden laufen können.
Als dann aber jedermann einen Saunaklub oder ein Bordell nach seinen Vorstellungen eröffnen konnte, begann der Wildwuchs. Da schaute man viele Jahre zu (besser gesagt: weg) und jetzt – da immer mehr Frauen unter unwürdigsten Umständen ausgebeutet werden, greift man zum Vorschlaghammer. Mit dem will man aber nicht Zuhälter und Menschenhändler erschlagen, sondern die männliche Kundschaft treffen.

Achillus, nochmals danke
und einen schönen Gruß!
Joséfelipe

 

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