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Herr Meier
Herr Meier
Herr Meier war schon immer ein sehr ängstlicher Mensch. Niemand wusste, warum das so war. Vielleicht kam es durch seine Mutter, die immer zu besorgt um ihren kleinen Jungen war. Vielleicht gab es auch ein traumatisches Kindheitserlebnis, dass er verdrängt hat. Vielleicht war es aber auch einfach nur das Wesen von Herrn Meier, vor allem und jedem Angst zu haben.
Auch heute war wieder so ein Tag, den Herr Meier am liebsten überspringen würde. Schon beim Drücken der Türklinke lief ihm der Angstschweiß über den Rücken. Ein Spalt reichte und schon schlug ihm der widerliche Gestank des Desinfektionsmittels ins Gesicht. Er drückte die Tür weiter auf und setzten einen Fuß auf das grüne Linoleum. ’Ein Schritt nach dem anderen, ganz behutsam’ sagte er sich. »Guten Morgen Herr Meier« begrüßte ihn die Dame freundlich am Empfang. Ihr hübsches Lächeln konnte ihn jedoch nicht täuschen, er wusste genau welch Qualen ihn hier erwartete. »Nehmen sie schon einmal im Wartezimmer Platz, ich hole sie, sobald sie dran sind.« Wartezimmer…Vorplatz der Hölle wäre eine angemessenere Beschreibung gewesen! Ein knappes »Danke« musste reichen. Bei mehr Worten hätte seine Stimme wahrscheinlich versagt. Zähneknirschend steuerte er auf das Wartezimmer zu, den freien, unbequemen Plastikstuhl fest fixiert. ‘Ein Schritt nach dem anderen, ganz behutsam’. Der Weg dort hin schien endlos, doch irgendwie schaffte es Herr Meier, Platz zu nehmen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung. ’Ganz ruhig! Tief ein- und ausatmen, so wie es der Therapeut dir gezeigt hat’. Die Anspannung ließ ein wenig nach und Herr Meier öffnete wieder seine Augen.
Das Wartezimmer war in einem warmen Gelbton gestrichen. Zwei Palmen umrahmten die Glastür. Ein Tisch stand in der Mitte des Raumes auf dem Zeitschriften und Kinderbücher lagen. An den Wänden hingen einige Bilder mit verschiedene geometrischen Figuren in unterschiedlichen Farben. Das Zimmer in seiner Gesamtheit strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. ’Alles Lug und Trug’ fand Herr Meier. ’Soll nur darüber hinwegtäuschen, was gleich geschehen wird’.
Mit ihm wartete noch eine Mutter mit ihrer Tochter. Unbekümmert las sie dem Mädchen aus einem Kinderbuch vor. ‘Wahrscheinlich das erste Mal für die Kleine. Das Lachen würde ihr im Halse stecken bleiben, wenn sie schonmal hier gewesen wäre!’ entschied Herr Meier.
Eine Assistentin steckte ihren Kopf durch die Tür. »Herr Meier? Folgen Sie mir bitte.« Wortlos stand Herr Meier auf und folgte der Dame schweren Schrittes. Sie öffnete die Tür zu Behandlungszimmer zwei und bat ihn mit einer Handbewegung herein. »Bitte nehmen Sie schon einmal Platz, Dr. Peters kommt gleich.« Herr Meier trat ein und die Assistentin schloss hinter ihm die Tür. Vorsichtige näherte er sich dem Stuhl und nahm Platz. Der Desinfektionsgeruch war hier noch stärker, raubte ihm fast den Atem. Das Ticken der Wanduhr schien immer lauter zu werden, pochte laut in seinen Kopf. ’Durchhalten, bald ist es vorüber! Du hast das schon öfter geschafft, heute wirst du auch überstehen.’
Eine gefühlte Ewigkeit später kam endlich Dr. Peters. “Herr Meier, wie geht’s es Ihnen?” fragte er und gab ihm die Hand. “Bestens!” log Herr Meier und versuchte so gut es ging seine Angst zu überspielen. Doch die Fassade hielt nicht lange. Als er die Werkzeuge des Arztes sah, traten die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn hervor. Seine Herz pochte immer schneller. Die Welt um ihn herum fing an sich zu drehen. Herr Meier konnte sich plötzlich an keine einzige Übung mehr erinnern um seine Angst in den Griff zu bekommen. Das schrille Kreischen des Bohrers als Dr. Peters diesen testete, gab ihm den Rest. Um Herrn Meier wurde die Welt schlagartig schwarz.
Als Herr Meier wieder zu sich kam, stand eine Schwester neben ihm. “Da sind Sie ja wieder. Hier trinken Sie.” Sie gab ihm ein Glas Wasser, welches er mit großen Schlücken leerte. “Bleiben Sie noch liegen, bis es Ihnen wieder besser geht. Ich warte am Empfang auf Sie!” Mit den Worten verschwand sie durch die Tür.
Herr Meier konnte sich nicht mehr erinnern, was gerade passiert war. Aber vielleicht war das auch besser so. Anscheinend hatte er alles überstanden. Herzschlag und Atmung beruhigten sich und er bekam langsam wieder einen klaren Kopf. Nach ein paar Minuten begab er sich zur Empfangsdame. Sie gab ihm einen Zettel und ohne weitere Worte verließ er die Praxis. Dr. Peters kam aus einem anderen Behandlungszimmer und gab ihr eine Akte. “Ist er schon weg?” “Gerade zur Tür raus, wie immer ohne ein Wort zu sagen.” Er schüttelte nur den Kopf. “Ein komischer Kautz! Seit 15 Jahren kommt er regelmäßig zur Untersuchung und fällt jedesmal in Ohnmacht…und das, obwohl ich noch nicht ein einziges Mal bei ihm gebohrt habe!”
Mit jeden Schritt, den Herr Meier sich von der Praxis entfernte, fühlte er sich besser. ‘Wieder einmal geschafft, du Teufelshund!’ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Laune stieg und stieg, die ganze Welt könnte er umarmen.
Doch als er den Zettel in seiner Hand sah, verpuffte seine Euphorie in einem Sekundenbruchteil. Seine nächste Zahnarztuntersuchung stand schon fest. ‘In sechs Monaten…wie soll ich das bloß überstehen?’ Mit gesenktem Haupt machte sich Herr Meier auf den Heimweg.