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Auszeit

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03.03.2015
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Auszeit

Maren gibt immer ihr Bestes:
Schmiert Brote für die Kinder und lächelt für den Mann,
verrenkt sich für die Kunden und schminkt sich für den Chef,
kniet nieder für den Haushalt, spart fleißig für die Bank,
fährt Fahrrad für die Umwelt, schluckt Pillen für den Arzt,
bäckt Kuchen für die Nachbarn und joggt für die Figur.
„Sei doch mal locker“, sagt ihr Mann.
Ihre Muskeln und Sehnen zerren die Mundwinkel nach oben zu einem Lächeln. Das schmerzt bis zu den Ohren, den Hals hinunter ins Genick, von dort den Rücken herab bis zum Steiß.
Du bist nicht mehr wie früher, sagen ihre Freunde.
Freue dich! Wir schenken dir zum Vierzigsten ein Wellnesswochenende.
Sei einfach mal du selbst! Entspanne!
Auch das noch, denkt Maren.

Von der Terrasse ihres Ahlbecker Kurhotels blickt sie auf das Getümmel an der Seebrücke. Ganz in Ruhe. Jetzt bloß nicht nach Souvenirs hetzen.
Vorsichtig nippt sie an der Teetasse und freundet sich mit dem säuerlich mulchigen Sanddorngeschmack an. Sie schaut auf die Uhr. Anwendungszeit.
Im Wellnessbereich liegt sie bäuchlings auf der Liege und lauert auf die Entspannung.
Achtung. Eine brühwarme Moorpackung klatscht auf den unteren Rücken.
Falls es zu heiß wird, Bescheid sagen, hört Maren noch von Weitem.
Bloß nichts zugeben. Wenn es gesund sein soll, muss es schmerzen.
Maren erduldet alles.
Am Strand bremst sie ihr Tempo in den Zeitlupen des Chi Gong.
Sie unterwirft sich Massagen und öffnet sich den Klangschalen und Meditationen.
Manche benötigen Jahrzehnte, um den ersehnten Zustand des Zen zu erreichen. Maren will es in drei Tagen schaffen.
Sie schwebt mit guten Vorsätzen bis zu den Ohren im warmen Kräuterbad.
Genießen Sie eine Minute für sich selbst, sagt der Bademeister, als er durch den Vorhang verschwindet.
Eine Minute bloß? Und das ohne Uhr. Ihre Zehen zappeln und schicken sanfte Wellen zur Nase.
Der grüne Geruch des Wassers erinnert sie an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Freundin auf der Wiese spielte. Sie kochten auf ihrem imaginären Herd Sauerampfer und Käseecken. Schmeckten Gras. Käseecken? Wie hieß das Kraut mit den dreieckigen Blättchen wirklich?
Stopp. Sie soll an nichts denken, an nichts. Absolut nichts. Aus dem Lautsprecher wabert ein leises Stöhnen. Ein auf- und abschwellender Ton. Geisterstimmen. Nichts denken. Wale singen. Nichts denken. Pause. Eine zarte, ferne Antwort. Maren lächelt.
Es gibt nichts zu erreichen, nichts zu tun und nichts zu besitzen. Wenn der Geist Ruhe findet, verschwindet er von selbst. Ihr Ich löst sich, wird eins mit ihrer Umgebung, verflüssigt sich.
Der Bademeister kommt zurück, sieht nur das trübe Badewasser in der Wanne. Er greift zur Kette, zieht. Mit einem Plupp löst sich der Stöpsel.
Das Wasser gurgelt.
Und Maren fließt im Strudel der Essenzen völlig entspannt durch den Abfluss ins Nichts.

 

Ich fand das witzig, Morla, und das überrascht mich selbst am meisten. Immerhin ist der Text mit einer Fülle von Begriffen gespickt, von denen jeder einzelne üblicherweise einen spontanen Fluchtreflex in mir auslöst. (Wellnesswochenende, Chi Gong, Klangschalen, Meditationen. Jessasmaria!)
Tatsächlich hatte ich anfangs schlimme Bedenken, in so einen klassischen Frauenillustriertentext (verzeih das Vorurteil) geraten zu sein, aber das bizarre Ende konnte mich dann echt überzeugen.
Herrlich schräg. Ja, mir hat das gefallen.

Willkommen hier, Morla.

offshore

 

Hallo Morla,

warum muss ich bei deinem Nick an die unendliche Geschichte denken? :)

Sei gegrüßt bei den Wortkriegern.

Eine kleine nette Geschichte hast du da geschrieben. Sie ließ sich gut lesen, dein Schreibstil deutet für mich darauf hin, dass es nicht deine erste Geschichte ist.

Der erste Absatz charakterisiert eine Frau, die in unserer modernen Gesellschaft ihren Mann stehen (will). Nur keine Schwäche zeigen. Vor allem gefällt mir, wie du zeigst, dass sie alles für andere macht, aber nichts für sich selbst.

schluckt Pillen für den Arzt

Sie tut es aber scheinbar auch, ohne Widerrede.

Den Aufenthalt im Kurhotel will ich jetzt nicht weiter beleuchten, da passiert nichts Gravierendes, aber das Ende. Ich verstehe das Ende so, dass sie endlich begriffen zu haben scheint, dass um sie herum alles so ziemlich schnurz ist und sie ihr alle mal den Buckel runter rutschen können. Die Moral? Manche müssen zu ihrem Glück gezwungen werden. So hab ich’s empfunden.

Hat mir gefallen.

Eine kleine Sache, die ich entdeckt habe:

Ein auf und ab schwellender Ton.

Ein auf- und abschwellender Ton.

Schönen Gruß
khnebel

 

Hallo Morla,

Gut geschrieben, gut zu lesen. Hat mich zum schmunzeln gebracht ;-) Vor allem der Aufenthalt im Kurhotel.

Genießen Sie eine Minute für sich selbst, sagt der Bademeister, als er durch den Vorhang verschwindet.
Eine Minute bloß? Und das ohne Uhr.

Genau so stellt man sich das vor, entspannen und auf die Uhr schauen, der Wiederspruch in sich :-)
Sehr lebensnah und von der richtigen Seite beleuchtet.

Gratuliere

LG BRM

 
Zuletzt bearbeitet:

Vielen Dank, lieber Ernst, ich bin überrascht, wie schnell ich hier eine Reaktion bekomme. Und es beruhigt mich, dass du es witzig findest. Ich versuche Frauenliteratur der anderen Art. Hatte schon Angst vor den Wortkriegern. Der Empfang ist ja freundlich.
Hallo Khnebel, ich danke dir für dein gründliches Lesen. Den Rechtschreibfehler will ich gleich ändern, wenn es geht. Deine Interpretation des Schlusses ist viel positiver, als ich es mir dachte. Auch interessant. Ich bin eher gegen das Wellnesswesen.
Danke auch an BRM für das Lob.
Seid gegrüßt von Morla

 

Hey Morla,

und Willkommen bei uns Wortkriegern. Ich habe die Kleine auch gern gelesen und am Ende wirklich geschmunzelt. Fand ich gut. Ich habe es übrigens auch nicht so positiv gedeutet, sondern fand es herrlich absurd. Die "Geschichte" lebt natürlich von dem Ende, wenn das nicht wäre, wäre sie ziemlich ... flach? Aber so, feiner kleiner Lese-Imbiss für Zwischendurch.

Ich wünsche Dir hier noch viel Freude auf der Seite.
Beste Grüße, Fliege

 

Hallo Fliege, stimmt, es ist eine Vorspeise, bevor ich mich traue, eine verhedderte, längere Geschichte zur Operation am offenen Text freizugeben. Dankbare Grüße Morla

 

»Die “Modernen Performer” sind das jüngste Milieu in Deutschland. In ihm finden sich Menschen mit einem hohen Bildungsniveau zusammen, die sich sehr selbstbewusst als Trendsetter verstehen. Sie sind offen für religiöse Fragen, wehren sich jedoch gegen eine moralisierende, belehrende oder vereinnahmende Kirche.

Und dennoch hat Kirche eine eigene Anziehungskraft für Achim Quinke. Nicht, weil er in einem westfälisch-katholischen Elternhaus groß geworden ist. Nein, weil er in ihr einen Experten für Sinnfragen sieht, ein Wellnesshotel für die Seele. … „Warum nicht als Kirche eine Ruhezone auf einer LAN-Party einrichten? Mit dem Selbstbewusstsein: Das können wir, das ist eine unserer Spezialitäten!“ …«

Hallo und herzlich willkommen hierorts,

liebe Morla,
das ausführliche Eingangszitat versteht sich keineswegs als Satire und erst recht ist es keine Erfindung von mir, sondern aus einem ernstgemeinten Beitrag zu einer Fachtagung der katholischen Kirche „Kirche muss sich mehr zeigen./Bericht aus einem Forum des Pastoralkongresses von Marc Boos“, der freilich nach Satire oder doch zumindest Parodie schreit.

Zwei schöne Beispiele, an denen gezeigt wird, wie frei unsere durchorganisierte Freizeit eigentlich noch ist. Es ist eine Weiterführung und Verquickung der Arbeitswelt, wenn man so will, durch Bismarck initiierten Kuren, finanziert durch die gesetzliche Rentenversicherung mit dem durch und durch kommerzialisierten American Way of Life. Auch die gesetzl. Rentenversicherung will die Arbeitskraft erhalten …

Kurz: Mir gefällt Dein Schlaglicht, das auf verknappte Weise aufzeigt, dass die durchorganisierte Freizeit alles andere als eine selbstbestimmte freie Zeit ist.

Gern gelesen vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hach, lieber Friedel, deinen Beitrag zu lesen, ist mir eine Lust. Hier bekomme ich mehr heraus, als ich eingegeben habe. Wellness für die Schreibseele. Morla

 

Hallo Morla,

Tolle Geschichte! Habe ich gerne gelesen. Ich finde vor allem der erste Abschnitt sehr stark: in wenigen Sätzen wird sehr gut deutlich, dass die Protagonistin zum Perfektionismus neigt, doch sich selber dabei konstant vergisst.

Im zweiten Abschnitt ist dein Text nicht mehr ganz so verdichtet, was anlässlich des Kontextwechsels (nun geht es ums Entspannen) auch nachvollziehbar ist. Nur finde ich den einen oder anderen Satz hier etwas überflüssig. Beispiel:

Und? Wen wundert es? Auch dabei ist sie wieder die Beste.

Dass Maren Perfektionistin ist, habe ich an dieser Stelle ja längst begriffen. Da braucht es diese Verdeutlichung meiner Meinung nach nicht mehr. Finde den darauffolgenden Satz viel stärker!

Gegen das Ende erreicht Maren ihr Ziel der perfekten Entspannung für meinen Geschmack etwas zu schnell. Mit der Verbissenheit deiner Protagonistin scheint mir dieses Ziel kaum erreichbar.

Der Schluss lässt sich auch anders lesen: da Maren auch hier wieder auf perfekte Adaption macht, verliert sie sich selbst und löst sich gewissermassen auf.

Für mich lässt dein Ende beide Interpretationsmöglichkeiten offen, was mir einerseits zusagt. Andererseits ist für mich die zweite Interpretation insgesamt stimmiger. Weswegen ich wohl dazu tendiert hätte bezüglich der verzweifelt-perfekten Selbstauflösung deiner Protagonistin noch ein bisschen prägnanter zu werden.

- Niklas

 

Danke Niklas, ich habe den Erläuterungssatz gleich entfernt. Die Perfektionierung der Selbstauflösung fällt mir schwer. Verschiebe ich auf später. Ich habe aber verstanden, was du meinst. War sehr hilfreich. Gruß Morla

 

Freue dich! Wir schenken dir zum Vierzigsten ein Wellnesswochenende.
Sei einfach mal du selbst! Entspanne!
Auch das noch, denkt Maren.
So schön, so wahr, so plausibel!

Hallo Mora,

Dein Text enthält sehr schöne Formulierungen, die mir viel Spaß machten. Ich empfinde ihn angenehm ironisierend und hatte eine rechte Freude am Schluss: "Das Ungeheuer von Well Ness" fiel mir spontan dazu ein. Gerade die individuelle Interpretierbarkeit gefällt mir, mag gar nicht wissen, was du dir dabei so vorgestellt hattest. Ob methaphorisch oder als Horror-Realität, beides passt für mich, beides macht zufrieden.

"Oommmmmm" kann ich da nur sagen.

Hilfreiche Verschlimmbesserung fällt mir leider nicht dazu ein

Grüße
oisisaus

 

Hallo Mora,

Auch ich habe die Geschichte gerne gelesen. Du beschreibst sehr gut eine Frau mit einem Helfersyndrom, die es allen recht machen möchte und dabei ihre Bedürfnisse vergisst.
Mir kam da einiges bekannt vor.

Allerdings sehe ich es auch so wie Niklas. Um eine Änderung herbei zu führen, braucht es mehr als ein Entspannungs-Wochenende. Es ist ein längerer Prozess. Doch hat Deine Protagonistin sicher einen guten Anfang gemacht.

Liebe Grüsse
Marai

 

Marai schrieb:
Um eine Änderung herbei zu führen, braucht es mehr als ein Entspannungs-Wochenende. Es ist ein längerer Prozess. Doch hat Deine Protagonistin sicher einen guten Anfang gemacht.

Morla schrieb:
Und Maren fließt im Strudel der Essenzen völlig entspannt durch den Abfluss ins Nichts.

:rotfl:

 

Vielen Dank für die freundlichen Kritiken, lieber oisisaus, Marai und Ernst.
Khnebel hat Recht. Mein Name bezieht sich auf die Uralte Morla in der "Unendlichen Geschichte". Diese Schildkröte ist bergförmig, bemoost und langsam wie ich. Liebe Grüße Morla

 

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