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Stichlinge mögen keine Einmachgläser
Manchmal kommen Erinnerungen zu uns. Wie Blubberblasen in einem Seerosenteich, oder einer Sprudelflasche. Sie tauchen auf und gelangen an die Oberfläche. Wer weiß schon woher sie kommen? Mit einem Male, sind sie da. Wiedergefundene Schätze, kostbare Fundstücke. Ähnlich wie alte Münzen, die wir nach Jahren des Vergessens eines Tages unvermutet in unserer Hosentasche wiederfinden.
Von einem ganz besonderen Fundstück möchte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser erzählen. Eine Geschichte, die schon viele Jahre zurückliegt. Als ich ein kleiner Junge war. Die Geschichte von den Stichlingen.
„ Huh, lass uns Stichlinge fangen“, rief Helmut. Ich freute mich. „Ja, das ist eine gute Idee“. „Das machen wir heute“.
Damals wohnte ich mit meinen Eltern und meinem älteren Bruder in einem kleinen Dorf in Norddeutschland, nicht weit vom Meer entfernt. Die Landschaft war flach wie ein Handtuch. Übersät mit grünen Wiesen und Feldern. In meiner Erinnerung war der Himmel im Sommer immer blau. Weiße, flauschige Wolken zogen darunter her und schwebten bis zum Horizont, wo sie verschwanden.
Zwischen den Feldern und Wiesen schlängelten sich hier und da 2 bis 3 Meter breite Wassergräben. In Friesland wurden sie Tief genannt. Und in diesen Tiefs lebten Stichlinge. Kleine, silberfarbene Fische mit Stacheln auf dem Rücken. In der Laichzeit hatten die Männchen leuchtend rot-orangene Bäuche, um den Weibchen zu imponieren.
Stichlinge fangen machte Spaß und wir Jungen aus dem Dorf fuhren im Sommer mit unseren Fahrrädern auf der holprigen Feldstraße gerne dorthin. An den Lenkern unserer Räder baumelten Eimer und Kescher. Meistens hatten wir schon unsere Badehose an, weil fast immer einer von uns dabei ins Wasser fiel. Das Tief in der Nähe unseres Dorfes war bestimmt 4 Meter breit, und um es zu überqueren, wurde irgendwann einmal in der Vergangenheit eine Brücke gebaut. Eine Holzbrücke, mit dicken Stützpfeilern und einem Geländer.
„Hier!“ Ich hielt den Grabespaten hoch. „Wir brauchen Regenwürmer“. „Lass uns buddeln“. Um die Fischchen zu fangen, nahmen wir Regenwürmer als Köder. Die banden wir an einen Faden und schon war die Angel fertig. Ein spitzer Haken woran der Fisch sich festbiss und hängen blieb war nicht nötig, denn Stichlinge sind von Natur aus neugierig und gefräßig. Deshalb war es leicht sie zu fangen.
Wir gruben ungefähr ein Dutzend Regenwürmer aus. Alle steckten wir in eine große Dose mit Erde, die wir mit einem Deckel verschlossen und in den Rucksack packten. Und schon ging es los, auf die Räder und hin zum Tief.
Dort saßen oder lagen wir auf der Holzbrücke und ließen die Würmer baden. Sogleich biss ein Sticklebaak, wie wir sie auch nannten, an, und wollte nicht mehr loslassen. Wir brauchten den Faden nur noch hochholen, den Wurm aus dem Fischmaul ziehen und den Stichling in einen mit Wasser aus dem Tief gefüllten Eimer geben. Wenn wir nach Hause mussten, gaben wir den Stichlingen ihre Freiheit zurück und ließen sie im tiefen Wasser davon schwimmen.
Eines Tages nahm ich jedoch ein paar Stichlinge mit nach Hause, weil ich mir ein Aquarium mit lebenden Fischen wünschte. Helmut half mir, die Wassereimer mit den Fischen nach Hause zu schaffen.
Früher kochte Mutter noch Obst ein, weshalb in unserem Keller eine Kiste mit leeren Einmachgläsern stand.
Helmut und ich schleppten die Eimer die Treppe hinunter und holten die Einmachgläser aus der Kiste hervor. Zum Glück war Mutter nicht da, denn gewiss hätte ihr unser Treiben dort unten im Keller nicht gefallen. So konnten wir aber in aller Ruhe die Gläser mit dem Wasser auffüllen und die Fische hinein geben. Stets 2-3 in einem Glas. Zum Schluss hatten wir 3 Einmachgläser mit Stickelbaaken, die wir ordentlich in Reih und Glied auf einen Tisch unter dem Fenster aufstellten. „Die brauchen mehr Licht zum gucken“. Helmut machte ein ernstes Gesicht und schob dabei den Tisch noch etwas weiter zum Fenster hin. Ich warf den gefangenen Fischchen ein paar Brotkrummen zum fressen ins Wasser und dann wurde es auch Zeit nach oben ins Haus zu gehen, denn es war schon spät geworden.
„Tschüss“ rief Helmut zum Abschied „Wir treffen uns morgen wieder.“ „Bin gespannt, was dann die Fische machen“. „Ja“, ich auch“. Helmut sauste mit seinem Fahrrad um die Ecke davon. Seine Eltern warteten auf ihn.
Beim Abendessen hüllte ich mich in Schweigen und behielt das Geheimnis für mich. Als ich später im Bett lag, dachte ich noch lange an die Fische, traute mich aber nicht noch einmal nach unten zu gehen, weil ich Angst hatte dabei gesehen zu werden. Ich befürchtete, dass Mama und Papa mir nicht erlauben würden, die Tiere zu behalten.
Mitten in der Nacht wurde ich wach. Vater stand an meinem Bett „ schnell, steh auf“, die Fische sind in Not“, flüsterte er. Ich schoss hoch wie eine Rakete und lief aufgeregt die Treppe hinunter zu meinen Freunden. Denen ging es schlecht. Das sah ich mit einem Blick. Einige von Ihnen waren schon tot und trieben mit dem Bauch nach oben im Einmachglas. Die anderen schwammen dicht unter der Wasseroberfläche. Dabei bewegten sie ihre kleinen Mäuler kläglich auf und zu. Es sah aus, als wenn sie nach Luft schnappen würden.
Zum Glück ging Vater abends noch einmal in den Keller um etwas zu holen. Dabei bemerkte er dass Unglück. „Hier können sie nicht bleiben“, sagte er mit seiner ruhigen Stimme. „Wir müssen sie ins Tief zurück bringen“. Kurzerhand legten wir los.
Ich trug ein Glas nach dem anderen die Treppe zur Einfahrt hoch. Dort hatte Vater das Auto schon aus der Garage gefahren. Der Motor lief, die Beifahrertür stand offen. Unten im Fußraum hatte Papa einen Karton aufgestellt. Dort hinein stellten wir die Gläser mit den Fischen.
Wir stiegen ein und fuhren los. Glücklicherweise war es nicht weit. Ganz langsam, damit das Wasser in den Gläsern nicht überschwappte, fuhren wir auf dem holprigen Weg zum Tief. Es war stockdunkel dort draußen. Keine Laterne weit und breit. Nur der Mond schien durch die Äste der Bäume, die auf den Feldern standen. Am Tief angekommen, spiegelte sich das Mondlicht auf der Wasseroberfläche wider. Leicht kräuselten sich die Wellen. Vater hielt den Wagen neben der Brück an und stoppte den Motor. Eilig stiegen wir aus. Es galt keine Zeit zu verlieren, denn den Stichlingen ging es zunehmend schlechter.
Gemeinsam brachten wir sie die Böschung zum Ufer hinunter. Der Mond schien jetzt so hell, dass ich die sanfte Strömung des Wassers deutlich erkennen konnte. Es war Sommer und die Nachtluft roch nach feuchtem Gras und Heu. In der Ferne rief ein Käuzchen.
„Lass uns die Fische aussetzten“, sagte Vater. „Dann wird es ihnen wieder gut gehen“. Das taten wir. Ich war glücklich, als ich sie im Wasser untertauchen und fortschwimmen sah. Die Sticklebaak hatten ihre Freiheit zurück. Als wir mit den leeren Gläsern zum Auto gingen, blieben wir oben auf der Brücke stehen.
„Das ist noch einmal gut gegangen“. Vater sah mich freundlich an. „Stichlinge brauchen fließendes Gewässer um leben zu können“. „Ja“, antwortete ich. „Stichlinge mögen keine Einmachgläser“.
Auf der Rückfahrt schlief ich vor Müdigkeit ein. „Helmut wird staunen“, dachte ich noch, “ wenn ich ihm morgen diese Geschichte erzählen werde“.
Ja, manche Erinnerungen sind wie alte Münzen. Wiedergefundene Schätze und Fundstücke unserer Seele. Wir können sie dankbar in unser Herz aufnehmen und leuchten lassen.