Mitglied
- Beitritt
- 19.01.2015
- Beiträge
- 119
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 25
Moritz
Moritz war der dickste Junge in der Klasse. Er war ein schwabbeliger Pummel mit fleischigen Jungenbrüsten, behäbig, immer der letzte im Sportunterricht, egal, ob beim Laufen, beim Turnen oder bei der Auswahl für Gruppenspiele. Niemand wollte Moritz bei sich im Team haben. Er konnte hinter keinem Ball herrennen, keinen Korb werfen und wurde beim Völkerball immer als Erster abgeschossen.
Auch in den anderen Fächern hatte er keine besonders guten Noten. Wenn er in Deutsch oder Religion aufgerufen wurde, saß er stumm an seinem Platz und der Mund stand ihm halb offen. Nicht, weil er blöd war oder so, sondern, weil er so schnaufend besser atmen konnte. In Mathe stand er vorne an der Tafel, presste die Lippen zusammen und hielt das Stück Kreide umkrallt, ohne zu wissen, was er damit tun sollte. Seine Schultern hoben und senkten sich in asthmatischem Keuchen. Einzig in Kunst war er nicht schlecht. Zwar zeichnete, hämmerte oder stickte er nie das, was unser Lehrer von uns verlangte, aber er zeichnete, hämmerte und stickte und dabei wirkte er ungewohnt entspannt, fast leicht, und für sein Bemühen bekam er immerhin eine Zwei.
So war Moritz schon gewesen, als wir uns in der weiterführenden Schule kennenlernten und so blieb er auch, wuchs nur in alle Richtungen. Von Anfang an wollte ich immer neben ihm sitzen. Ich fand es unfair, wenn ihn beim Sport niemand in der Mannschaft haben wollte. Bis zur Oberstufe hing ich der naiven Vorstellung nach, dass es beim Spielen doch um den Spaß und nicht ums Gewinnen ginge. Was die anderen Lehrer mit ihm machten, erschien mir ebenfalls ungerecht. Sie sahen doch, dass er nichts zu ihren Themen sagen wollte und lieber schwieg. Ich verstand nicht, wieso sie ihn nicht einfach ließen und gleich Patrizia oder Laura fragten, die sich doch dauernd meldeten und offensichtlich gerne etwas zu den von ihnen erdachten, albernen Grammatik- oder Zahlenprobleme beisteuerten. Dass Moritz die Antworten vielleicht gar nicht hätte geben können, kam mir nie in den Sinn.
Neben mir wollte ja auch niemand sitzen. Das lag daran, dass ich ständig kotzen musste. Ich hatte einen für mein Alter noch viel zu stark ausgeprägten Ekelreflex, der einen unkontrollierten Brechreiz auslöste. Spuckte ein Junge in der Pause auf den Schulhof und ich stand daneben, musste ich mich übergeben. Hatte ein Kind in der Nachbarbank zermatschte Brotkrümmel am Mund, musste ich mich übergeben. Kleckerte jemand beim Tafelabwischen Wasser auf den Boden, in welchem dann Kreidebröcken schwammen und Schlieren zogen, musste ich mich übergeben. Ständig spie ich über den Tisch und konnte es nicht beherrschen oder verhindern. Aber Moritz, den störte das nicht. Er stand dann routiniert auf, holte Papiertücher und half mir unter dem „iiiiih“ und „ääääh“ und „schon wieder“ unserer Klassenkameraden, die Kotze wegzumachen. Mehr als einmal hatte er Flecken von mir an seinem Ärmel. Und wenn ich das sah, musste ich beinahe sofort noch einmal brechen. Dann krempelte er sie schnell hoch oder zog die Jacke drüber und schwitze noch mehr. Davor ekelte ich mich allerdings nie. Und so saßen wir nebeneinander, der Dicke und die Kotzkuh, in jedem Halbjahr wieder, auch, als gemischte Bänke anfingen peinlich zu werden.
Oft sagte ich Moritz ein. Da die Lehrer das bemerkten, entwickelten wir immer feinere Techniken, wie ich ihm die Antworten zuraunen, zuschieben, aufkritzeln oder sonstwie signalisieren konnte. Doch meistens fanden sie es trotzdem heraus. Moritz hingegen brachte mir immer Comics mit. Ich selbst durfte mir keine kaufen. Er schien über einen unerschöpflichen Vorrat an Micky Maus, Donald Duck, Super- und Batman oder auch Asterix und Prinz Eisenherz zu verfügen. Wir blätterten gemeinsam unter der Bank darin herum, kicherten, und wenn die Lehrer etwas merkten und uns aufriefen, hatte ich immer eine mehr oder weniger richtige Antwort parat, während Moritz mit halb offenem Mund keuchte und schwitzte und ich versuchte, ihm etwas zuzuflüstern. Weshalb ich immer etwas sagen konnte – ich wusste es nicht. Vielleicht war es ein Übermaß kindlicher Cleverness, eine perfide Furchtlosigkeit vor dem Versagen oder ein ausreichendes Maß infantiler Unerschütterlichkeit. Ich bekam viel mit und hörte wenig, nahm alles auf und gab es halbsortiert wieder zurück, was den Lehrern ausreichte, mir einigermaßen gute Noten zu geben und mich ansonsten weitgehend in Ruhe zu lassen. Denn wenn ich einmal nichts sagen konnte, lag das wahrscheinlich daran, dass ich gerade sah, wie Patrizia beim uns Auslachen ein wenig Spucke vom Kinn tropfte und ich somit kurz davor war, mich wieder zu übergeben.
In der 7. Klasse begann ich nachmittags nach der Schule Moritz zu besuchen. Es war die Idee seiner Mutter und zunächst ging es darum, ob ich ihm nicht bei den Schularbeiten helfen könnte, ein bisschen Nachhilfe geben. Doch das ließen wir beide bald wieder bleiben, da wir keine Lust dazu hatten. Stattdessen saß ich dann mit Moritz und seinem Vater stundenlang draußen, vor ihrer Garage, und wir spielten Karten. Moritz' Mutter ging arbeiten. Sie war Kassiererin im einzigen Großmarkt im Ort. Er hatte noch eine ältere Schwester, die arbeitete auch und fuhr danach immer zu ihrem Freund, obwohl sie zu Hause noch ein Zimmer hatte. Der Vater von Moritz war krank und arbeitete nicht. Ich wusste nicht, was er hatte. Meistens, wenn ich dort war, schien es ihm gut zu gehen. Er lachte auch viel. Manchmal allerdings zitterten seine Hände so stark, dass er seine Spielkarten nicht halten konnte. Dann benutzte er einen Ständer, auf dem er sein Blatt aufreihte, und die einzelnen Karten nur herausziehen und vor uns auf den Tisch werfen musste. Wohin sie durch sein Zittern flogen, war uns egal. Meine Eltern gingen beide arbeiten und ich fand es schön, dass hier immer jemand da war. Moritz' Familie hatte keinen Garten, so wie wir. Stattdessen saßen wir in diesem Sommer um einen Plastiktisch mit bedruckter PVC-Decke vor ihrer offenen Garage, wo wir lachten und auch grillten, während links und rechts um uns andere Mieter ihre Autos vorfuhren, parkten, wuschen und hin und wieder ein Fahrrad reparierten. Die Familie von Moritz besaß kein Auto. Zumindest stand nie eins in der Garage. Dort waren nur der Grill und Gerümpel.
Einmal liefen Moritz und ich nach der Schule gemeinsam zu ihm nach Hause. Es hatte sich routiniert, dass sein Vater für mich mitkochte und ich den Nachmittag dort verbrachte. Meine Mutter war froh mich versorgt zu wissen und kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, dass ich sonst alleine zu Hause wäre. Wir gingen über den Friedhof, der gegenüber der Schule lag. Man konnte ihn auch umrunden, doch quer hinüber war kürzer und wenn gerade keine Beerdigung stattfand, schaute uns Kinder mit den großen bunten Tornistern auch niemand böse an. Wir redeten nicht, da wir nicht wie viele Erwachsene fanden, dass man das ständig tun müsse, sondern trotteten einfach in angenehmem Schweigen nebeneinander her. Ich beobachtete meinen Turnbeutel, den ich festhielt und beim Laufen mit jedem Schritt wegtrat, dass er hochflog. Moritz schaute in die Gegend.
„Guck mal“, sagte er plötzlich. Ich ließ den Turnbeutel baumeln und schaute hoch. In einiger Entfernung lümmelten sich einige 9. und 10. Klässler hinter einem Grabstein. „Die rauchen bestimmt wieder“, meinte ich. Das taten sie hier öfter, manchmal sogar in den Pausen, obwohl es natürlich verboten war, währenddessen den Schulhof zu verlassen. Aber das interessiert mich eigentlich nicht weiter.
„Patrizia ist bei ihnen“, sagte Moritz.
„Echt?“, fragte ich und schaute nun genauer, konnte aber niemanden richtig erkennen. Vielleicht brauchte ich damals schon eine Brille. Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und starrte konzentriert. Das bemerkten zwei, drei der größeren Jungs und machten sich untereinander auf uns aufmerksam. Der Dicke und die Kotzkuh.
„Ey, was guckst'n so!“, rief einer herüber. Ich verstand es erst nicht: „Hä?“ rief ich zurück. Das war nicht besonders clever. Die Gruppe kam nun auf uns zu. Es waren doch mehr, als ich aus der Entfernung gedacht hatte: sechs Jungs und vier Mädchen und eine von ihnen war tatsächlich Patrizia. Das erkannte ich, als sie näherkamen.
„Komm“, sagte Moritz, griff mich am Arm und wollte mich wegziehen. Ich verstand nicht so ganz, was das alles sollte, weder, weshalb die jetzt zu uns herüber kamen, noch, wieso Moritz es plötzlich so eilig hatte. Doch als ich sah, wie schnell sich die Gruppe nun näherte stieg in mir ein diffuses Unwohlsein auf. Ich folgte Moritz hastig ein paar Schritte. Dann waren die ersten Jungs heran.
„Hey, was macht ihr denn hier?“ fragte einer von ihnen. Die anderen begannen uns einzukreisen. Moritz keuchte schwer und war knallrot im Gesicht.
„Wir gehen nach Hause“, sagte ich.
„Nach Hause? Ihr beide zusammen? Geht ihr etwa miteinander?“, fragte der Wortführer. Die Mädels kicherten, die Jungs machten „uuuuhh“, Patrizia wurde nun auch rot. Ich verstand nicht, was die von mir wollten.
„Wir gehen miteinander nach Hause, ja“, sagte ich und stellte fest, dass meine Stimme heiser war, ohne dass ich wusste, warum. Nun lachten alle und kamen noch näher. Der eine Junge boxte den anderen in die Seite: „Ey, haste gehört, die gehen zusammen nach Hause.“
„Der Dicke und die dumme Kotzkuh“, antwortete der und kicherte.
„Wen nennst du hier 'dumme Kotzkuh'“, sagte nun Moritz. Er sprach auch sehr leise und krächzend und er schaute dabei Patrizia an, obwohl diese noch gar nichts gesagt hatte und ich glaube, er tat das auch nicht absichtlich. Oder vielleicht doch, keine Ahnung.
Wieder machten die Jungs „heeee“ und „uuuaah“ und „hey, hey“ und der eine rempelte Moritz von hinten an, so dass der zwei Schritte nach vorne stolperte und im gleichen Moment riss mir ein anderer von der Seite meinen Turnbeutel aus der Hand und hielt ihn hoch in die Luft wie eine Trophäe.
„He“, rief ich, doch aus meinem diffusen Unwohlsein war nun inzwischen eine undefinierte aber handfeste Angst geworden und so sprach ich sehr leise und ein 'Was soll das!', das ich eigentlich noch hatte hinterher schieben wollen, blieb mir im Hals stecken. Der Junge, der meinen Turnbeutel genommen hatte, riss diesen nun auf und begann meine Sportsachen herauszuwühlen, meine kurze Hose, das verschwitze Shirt, die alten, stinkenden Schuhe.
„Seht mal, guck mal hier“, rief er dabei und verteilte meine Turnkleidung an die anderen. Diese begannen an meinem Shirt und den Schuhen zu riechen und es war mir unerträglich peinlich ohne, dass ich in diesem Moment hätte sagen können, warum.
„Hier, guck mal, wie das stinkt“, sagte einer.
„Wie müssen erst die Sachen von dem Dicken stinken!“, rief eines der Mädchen. Ein Junge nahm meine Hose und rieb sich damit in den Achseln herum, was ich sehr eklig fand. Ich spürte, dass ich mich gleich würde übergeben müssen. Schon stieg mir die Kotze in den Mund. Aber da geschah etwas Sonderbares oder besser, etwas Besonderes.
Ich stand schon halb zusammengekrümmt und presste mir beide Hände vor den Mund, da sah ich aus den Augenwinkeln, wie ein Ruck durch Moritz ging, seine ganze Gestalt schien sich zu straffen und von einer Sekunde auf die andere viel weniger zu schwabbeln und er ging auf den Jungen mit meiner Sporthose zu, entriss sie ihm, schubste ihn zurück, griff dann auch nach dem Beutel und einem Schuh, der sich in Reichweite befand, stellte sich damit vor mich und sagte sehr laut und mit sehr fester Stimme: „Lasst sie in Ruhe!“ Da ich gekrümmt war sah ich nicht genau, was dann geschah, sah auch Moritz nicht mehr richtig, roch ihn nur, da er nun ganz dicht vor mir stand und er roch beruhigend nach sich selbst, wie immer ein bisschen verschwitzt, ein bisschen nach Knoblauch und nach kaltem Frittierfett, die Hände mit meiner Hose ein wenig nach Knetgummi und Fahrradschmiere. Aber dieser Geruch war überhaupt nicht eklig, sondern ganz im Gegenteil betörend vertraut. Er strömte er eine beruhigende Geborgenheit aus, wie ich sie noch nie zuvor bei einem Menschen außer meiner Mutter empfunden hatte. Und ganz plötzlich hatte ich gar nicht mehr das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Langsam richtete ich mich auf, ließ meine Hände vom Mund sinken, stand dann schon ganz gerade neben Moritz und sagte ebenfalls laut und mit fester Stimme: „Genau. Lasst uns in Ruhe!“ Dann sah ich Patrizia direkt ins Gesicht: „Lass uns in Ruhe!“, wiederholte ich. „Haut ab!“, sagte Moritz. Die Gruppe um uns war erstarrt. Keiner lachte mehr oder machte noch „iiiih“.
Da sagte Patrizia: „Kommt, lasst uns abhauen. Lasst doch die Freaks. Ist doch egal. Lasst uns gehen.“ Sie versuchte sich betont lässig umzudrehen, doch es gelang ihr nur halb. Die Jungs begannen nun ebenfalls sich zurückzuziehen. Sie grummelten. „Scheiße“, murmelte einer. „Fettsack!“ rief ein anderer. Ein dritter spuckte in unsere Richtung. Es war mir egal. Mir wurde nicht schlecht. „Kotzkuh“, kam es von irgendwo und ein halbverlegenes Lachen begleitete das Wort. Mein Sportshirt flog durch die Luft und landete auf einer Friedhofshecke. Moritz und ich standen nebeneinander und plötzlich stellte ich fest, dass wir uns an den Händen hielten. Ich konnte nicht sagen, wann er meine oder ich seine gegriffen hatte. Die Gruppe zog sich zurück. Ein paar Wort- und Lachfetzen flogen noch um uns, einen hörte ich noch Patrizias Namen sagen. Dann hatten sie sich wieder hinter irgendwelchen Grabsteinen verkrümelt.
Ich war unglaublich erleichtert und hatte das Gefühl so frei und ohne einen Anflug von Übelkeit atmen zu können, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Moritz hingegen begann in meiner Hand zu zittern. Ich drehte mich zu ihm um und konnte es da auch ganz deutlich sehen, wie sogar unter seiner Jacke sein Fett wabbelte, weil er so stark bebte.
„Was ist mit dir?“, fragte ich erstaunt, da ich mich selbst so gut fühlte und ließ ihn los. Da sank er auf die Knie, fiel nach vorne und stützte sich mit den Händen auf.
„Ic … “, er krächzte und brauchte einen zweiten Anlauf: „Ich sammle eben dein Sportzeug ein“, nuschelte er dann und begann auf allen Vieren meine Shorts und meinen einen Schuh zusammenzuklauben und in den nun dreckigen Beutel zu stopfen. Ich lief vor, sprang hoch und fingerte nach meinem Shirt, das im Gebüsch hing.
„Wo ist der zweite Schuh?“, rief ich. Moritz ächzte von hinten, rappelte sich umständlich hoch und streckte mir meinen Turnbeutel entgegen. Dabei wabbelte er immer noch aber schon viel weniger als zuvor, nur noch ein bisschen.
„Weiß nicht“, krächzte er. Da nahm ich wieder seine Hand und wir liefen los über den Friedhof zu Moritz nach Hause. Ich hielt links und rechts nach meinem zweiten Schuh Ausschau, sah ihn aber nirgends. Bei Moritz angekommen zitterten unsere Knie immer noch aber wir redeten uns ein das sei deshalb, weil wir die ganze restliche Strecke gerannt waren. Sein Vater wartete schon mit dem Mittagessen. Wir erzählten ihm nichts und sprachen auch selbst nie wieder von diesem Erlebnis auf dem Friedhof. Aber seitdem musste ich mich nie wieder übergeben, wenn ich etwas eklig fand. Das stellte kurze Zeit später sogar meine Mutter fest und war sehr erfreut darüber.
„Die Schule härtet halt ab. Gut so“, sagte sie. Ich schwieg, weil ich sie lieb hatte. Beim nächsten Sportunterricht musste ich in Socken teilnehmen und behauptete, ich hätte meine Schuhe vergessen. Am Wochenende suchte ich ihn dann heimlich mit Moritz den Friedhof ab. Er entdeckte meinen zweiten Schuh auf einem Grabstein stehend. In der Nähe fand gerade eine Beerdigung statt. Als ich auf das Grab lief, um ihn vom Stein zu klauben, schauten die Leute böse herüber.
So vergingen unsere Jahre. Nach der 8. Klasse blieb Moritz sitzen. Noch ein Jahr später ging er ganz von der Schule. Ich war erst sehr traurig darüber, hatte aber bald keine Zeit mehr an ihn zu denken, da meine Mutter mich triezte. Die Lehrer hatten ihr gesagt, ich könnte mehr leisten und viel besser sein, wenn ich mich mehr konzentrieren und lernen würde. Ich war allerdings bockig genug, mein Abitur nur mit einem mittleren Dreier-Schnitt zu bestehen und dann wegzugehen.
Moritz traf ich erst knapp 20 Jahre später bei einem Klassentreffen wieder.
Als er durch die Tür des Lokals hereinkam, in dem die im Ort Verbliebenen sich regelmäßig, die öfter Wiederkehrenden sich jährlich und alle anderen, Ausgewanderte und Studierte wie ich, sich nur zu runden Anlässen trafen, erkannte ich ihn sofort. Vor allem war er groß geworden, der Moritz. Knapp zwei Meter würde ich ihn nun schätzen. Dick und speckig war er immer noch. Kein Wandel vom hässlichen Entlein in einen durchtrainierten Mister Right, dem die Frauen am Bizeps hingen. Aber durch seine Größe wirkte er nun kompakter und nicht mehr so schwabbelig. Mit Boxen habe er vor über zehn Jahren angefangen, erzählte er mir als Erstes, nachdem auch er mich erkannt und sich sichtlich erfreut zu mir gesetzt hatte, die anderen Klassenkameraden einfach von der Bank drängend. Er war also jetzt nicht nur kräftig, sondern auch stark unter seinem Speck. Er hatte einen langen, sehr dünnen Zopf, trug schwarze Sachen, ein Shirt mit dem Schriftzug eines bekannten Onlinespiels und machte jetzt irgendwas mit IT oder Web-Administration oder Gamedesign oder so.
Wir lachten, erzählten uns, was wir so getrieben hatten, die vergangenen Jahre, und heute so trieben, tranken zusammen Bier – zum ersten Mal überhaupt. Und dafür hatten wir beide erst über 30 werden müssen, stellten wir fest. Dann beschlossen wir, woanders hinzugehen, da wir keine Lust auf die restlichen Quarktaschen mit ihren Betriebsgeschichten, Hausbauproblemen und Familienbildchen hatten. Und so kehrten wir in die nächste Eckkneipe ein, wo es Dart gab und Stammtische und dieselben ewigen Barhocker, die wahrscheinlich schon zu unserer Schulzeit dort gesessen hatten. Aber vielleicht waren es auch inzwischen ihre Kinder, unsere ehemaligen Klassenkameraden. So saßen wir und plauderten und es fühlte sich an wie früher.
„Und, musst du immer noch ständig kotzen?“, fragte mich Moritz. Ich kicherte albern.
„Nee, gar nicht mehr. Seit dieser Sache auf dem Friedhof nicht mehr. Erinnerst du dich daran? Wo wir … “ Moritz unterbrach mich indem er nickte. Er lächelte auf den Tisch.
„Ja. Ja, das weiß ich noch. Das war … “ Nun unterbrach er sich selbst. Auch ich lächelte nun. Wir sahen uns nicht an und schwiegen eine Weile, tranken, sinnierten. Man musste auch nicht immer reden, wie typische Erwachsene.
„Eigentlich“, sagte Moritz dann, „also, irgendwie hätte ich die Zeit von damals gern zurück.“
„Wirklich?“ Ich war erstaunt. Das hätte ich nicht gedacht.
„Ja“, fuhr er fort, „damals war alles so … unanstrengend. So klar. Also, ich weiß nicht, eigentlich war es auch total furchtbar. Aber irgendwie auch ganz leicht. Du warst einfach immer da und wir haben gelacht und Karten gespielt und es war halt einfach so gut, wie es war. Du hast nie Ansprüche an mich gestellt oder versucht mich zu ändern. Hast mir nicht gesagt, dass ich in irgendwas schlecht bin oder irgendwas nicht kann oder mir was vorgeworfen, wie die Lehrer oder die anderen.“ Er nickte mit dem Kinn in einem Bogen über den Tisch, obwohl da ja niemand saß: „Du hast mich einfach sein lassen wie ich war.“
Ich war gerührt und verlegen, schwieg wieder kurz, antwortete dann: „Ich habe dir aber auch nie gesagt, dass du in irgendwas gut bist.“
„Aber mit dir hat es sich gut angefühlt“, widersprach Moritz, „das hätte ich gerne zurück. Genau diese Jugend. Den Rest nicht. Aber das schon.“
Ich schaute Moritz nun intensiv an und sah zum ersten Mal den Mann, der er geworden war. Nicht schön oder markant oder herausragend. Und doch gerade in seiner unaufgeregten Ehrlichkeit besonders. Ein anderes Leben, dachte ich. Ein anderes Leben, das ich hätte führen können. So weit weg und so real zugleich. Was wäre gewesen wenn. Ich dachte an die vielen Männer, die ich seit der Schulzeit kennengelernt oder auch gehabt hatte. Paul, der Künstler, Stefan, der Modefotograf, Birol vom Film, Mark, der Wanderer. Promovierte Geisteswissenschaftler, ausstellende Künstler, Musiker, Medienmacher – die ganze verkappte, hartzende Berliner Boheme. Das war meine Version der Flucht. Ich hatte mich entschieden, vor Jahren schon und ein Gedanke an Reue hieße, die Verschwendung verstehen zu wollen. Doch das wollte ich gar nicht. Niemand wie Moritz war dabei gewesen. Moritz war ein anderes Leben.
„Ja“, sagte ich nun zu ihm und schaute fest in seine mattblauen Augen: „Ja! Diese Jugend wünsche ich mir auch zurück.“ Ich legte meine Hand in die seine und wir lächelten uns an, froh darüber, einfach hier und für uns zu sein. Dann schwiegen wir wieder und tranken.
Später fuhr Moritz mich nach Hause. Wir umarmten uns fest. Mehr geschah nicht. Wir tauschten unsere Mailadressen aus, schrieben uns aber nie. Denn das war ja das Schöne, an der vergangenen Kindheit, dass man sie idealisieren, in der süßen Erinnerung an den anderen wiederfinden und immer wieder träumen konnte, ganz ohne Realität. Zwei Tage später reiste ich wieder ab, in meine stinkende und laute Medienmacher-Metropole. Zu den Hipsterbärten und Matetrinkern. Denn Moritz und ich, wir hatten uns beide entschieden.