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Serie Als wir uns verloren [2]: Lebkuchen und Kerzenduft

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Als wir uns verloren [2]: Lebkuchen und Kerzenduft

Russland, 26. November 1941

Liebe Erika,

wenn Du diesen Brief bekommst, ist vielleicht schon Weihnachten. Wer kann das schon vorhersehen in diesen unsicheren Zeiten. Es ist so furchtbar kalt, dass mir sogar das Denken an Dich schwer fällt. Noch nie in meinem bisherigen Leben habe ich so eine Kälte gespürt. Hoffentlich hast Du es daheim schön warm, das wünsche ich mir sehnlichst.
Ich soll Dich grüßen von Dangson und Biegel. Du kennst ja beide aus meinen Briefen. Dangson ist vor drei Wochen Vater geworden und vielleicht bekommt er bald Urlaub. Und auch der Biegel Franz hat mal ein paar Tage Erholung nötig. Wir alle haben das …
Wenn Du kannst, schick mir doch ein wenig von der Hartwurst, die der Metzger Brandmeier immer macht. Die hält sich doch ewig hier, weil sie so gut geräuchert ist. Hm, mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich daran denke.
Und jetzt muss ich meine Worte beenden, denn ich kann nur ohne Handschuhe schreiben, und schon nach den paar Sätzen meine ich, meine Finger frören mitten in der Luft ein. Mach Dir keine Gedanken, wir sehen uns bald wieder. Dann werden wir uns gegenseitig wärmen.

Bis bald, Dein Dich liebender Hannes.

Ich starrte auf die wenigen Worte, als fiele mir noch mehr ein; da gab es so viel, was ich noch hätte schreiben wollen. Ganze Romane existierten in meinem Kopf, aber kein einziges Wort mehr als diese armseligen hier, schafften es durch den Frost auf das kleine Stück Papier. Ich hoffte, mich direkt aus diesem Kälteinferno hinüber in unser warmes Wohnzimmer retten zu können, ein paar Worte mehr seien wohl in der Lage, mich zu entführen, heim nach Nürnberg. Mir fielen die Lebkuchen ein, die der alte Eckstein im Erdgeschoß ab Fronleichnam herstellte, als noch Frieden war, und niemand von uns an Russland dachte; eine halbe Ewigkeit schon her, das alles. Mit dem Fäustling rieb ich über mein Gesicht, die Worte an Erika in meinem Kopf, die Müdigkeit wie Blei in meinen Knochen. Ich fühlte Tränen aufsteigen, atmete tief ein und aus, ein paar Mal.
»Ganz ruhig, Hannes«, flüsterte Franz und legte mir seine Hand auf die Schulter, »ganz ruhig. Das wird schon alles. Wir schaffen das. Wir kommen hier raus. Glaub mir.«

Es war nicht gut zu weinen. Selbst in der Unterkunft, dem requirierten Haus eines Volkskommissars, lagen die Temperaturen bei minus zehn Grad, und im Nu hatten wir all die Möbel darin komplett verheizt. Die Pioniere rissen Tag für Tag Holz aus der Nachbarscheune, aber die Wärme verpuffte zwischen unseren gefrorenen Augenbrauen und aufgeplatzten Lippen.
»Komm, Hannes, gehen wir nach nebenan und trinken uns ein wenig Wärme in den Bauch.«
Ich sah zu Franz, musterte sein von den Temperaturen gezeichnetes Gesicht, den Vollbart, und dachte dabei an all die Vollbärte um mich herum, die wir nur trugen, weil sie uns wärmten. Vorsichtig faltete ich das brüchige Backpapier und steckte es in meinen letzten Umschlag, schrieb Empfänger, Absender und Feldpostnummer drauf und ließ ihn in der Manteltasche verschwinden.
»Wie viel Uhr ist es jetzt?«
Er stand auf und zog umständlich seine Taschenuhr aus dem weiten Umhang.
»Kurz nach Mitternacht.«
»Dann hab ich den Brief falsch datiert.«
»Das wird diesen Krieg nicht aufhalten, oder?«
Ich schüttelte den Kopf und erhob mich ebenfalls.
»Nein. Wohl eher nicht.«

Das Loch, in dem wir hausten, war lediglich über eine notdürftig gezimmerte Treppe zu erreichen, denn es war der Erdkeller unter dem ehemaligen Wohnzimmer. Die Pioniere hatten einfach die Dielen herausgerissen, im gusseisernen Ofen verheizt, und den gestampften Lehm mit einer dicken Lage Stroh ausgelegt. Das machte die Kälte ein wenig erträglicher. Franz und ich setzten uns zwischen die Männer, die dösten, sich leise unterhielten oder Löcher in die Luft starrten. Zwischendurch zerquetschte jemand mit einem vernehmlichen Knacken eine Wanze, die es hier zuhauf gab. Vor mir lag Dangson, unser Fahrer, und schnarchte. Ich dachte an Erika, an ihre braunen Haare, die feine Stupsnase; je länger ich dieses Bild vor meinem inneren Auge betrachtete, desto mehr entglitt es in einen Nebel, der dem Atem von Gevatter Tod ähnelte.

»Hannes! He, Hannes! Hör auf zu grübeln. Trink was.«
Franz reichte mir eine Flasche. Ich setzte sie an und ließ die Flüssigkeit in mich laufen. Inzwischen war es mir völlig egal, was für eine Flüssigkeit. Hauptsache, sie entrückte mich ein wenig dieser Welt, brachte mich ein Stück zurück nach Nürnberg, zu Brandmeiers Hartwurst, Ecksteins Lebkuchen und Erika, die im flackernden Schatten des Kerzenlichts an Schönheit nicht zu überbieten war. Ich suchte in meinen Erinnerungen nach weiteren Bildern von ihr, aber da gab es nur die Nase, ein wenig von ihrem Schmollmund, aber keine Augen. Wo waren ihre Augen? Ich erschrak, riss meinen Kopf hoch und starrte auf die grauen Lumpen um mich herum. Es knackte im Gebälk des Nebenraums. Major Kappler stieg die Treppe zu uns herab. Außer einem dichten Bart war wenig von seinem Gesicht zu erkennen. Er lehnte sich an die lehmige Wand und musterte jeden einzelnen von uns, dann zog er sich die vielen Mützen und Stofffetzen vom Kopf.

»Leute, hört mir zu!«
Kaum einer sah zu ihm auf, und ihm war es herzlich egal. Noch vor einem Jahr wären wir dafür strafversetzt worden.
»Wir hatten jetzt zwei Tage Ruhe, aber in der Früh müssen wir wieder ran. Sie haben unsere Einheit mit einem Panzerpionierbataillon zusammengeschmissen. Wir werden mit den Pionieren auf Chimki vorstoßen, um auszubaldowern, wie es dort mit Widerstand und Straßenzustand aussieht. Und da außer drei Sturmgeschützen momentan nichts funktioniert, werden wir zu Fuß gehen.«
Kappler zog sich die Lumpen über den Kopf, wendete sich ab und stieg die knarzenden Stufen hinauf.
»Was sollen wir da?«, hörte ich Franz Stimme neben mir.

Oben angekommen, drehte er sich noch einmal und neigte seinen Kopf seitwärts. Die dunklen Augen blieben im Verborgenen. Sekunden starrte das gesichtslose Loch auf uns herab, dann verzog er sich. Als ich an dieses augenlose Nichts dachte, lief es mir eiskalt den Rücken hinab, meine Haare stellten sich. Irrlichternd, wie Fackelschein im Wind, erinnerte ich mich an Drucke aus dem Mittelalter, die ich als Kind fasziniert in Büchern betrachtet hatte. Zeichnungen von der Schwarzen Pest, dem Tod, der in einem weiten Umhang durch die Lande zog, die Sense in der knöchernen Hand, das Leben mähte, wo es gerade liebte und schuftete, hoffte und bangte. Kappler verschwand, und ich lehnte meinen Kopf an den gefrorenen Lehm. Vorsichtig tastete ich nach dem kleinen Brief in der Manteltasche, dachte an Erika und bewunderte Dangson, der offenbar wie ein Murmeltier diesen Winter hinter sich zu bringen gedachte.

*​

Ein Zugführer der Grenadiere holte unsere kleine Abteilung gegen sechs Uhr. Ich warf den Brief in den Holzkasten, auf dem Feldpost stand, dann fetteten wir unsere Karabiner, klemmten Handgranaten unter Gürtel und in vorhandene Löcher der Uniformen oder Lumpenreste, die wir mehrlagig um uns wickelten, und marschierten los. Man sah kaum die Hand vor Augen, lediglich das brennende Moskau warf einen Feuerschein an die Wolkendecke, was uns ein wenig Licht bescherte. Immerhin war es bewölkt. Das hielt die Temperaturen auf einem erträglichen Maß. Schweigend stapfte unser Haufen aus dem kleinen Weiler Korostovo hinaus in südöstliche Richtung. Aufgefächert und versetzt durchquerten wir einen lichten Birkenwald. Laut Kappler hatte sich die Rote Armee bis an die nördliche Stadtgrenze von Moskau zurückgezogen, so dass wir keinen Feindkontakt zu erwarten hatten. Es war windstill und ich war gottfroh darüber, denn so blieben die Geräusche unserer Schritte um uns herum und wurden nicht zu den Roten getragen.

Bis zur Stadtgrenze von Chimki waren es keine fünf Kilometer. Eine lächerliche Entfernung für eine Sonntagswanderung mit Erika hinaus nach Altdorf zu ihren Eltern. Doch hier, im knietiefen, verharschten Schnee, war jeder Schritt ein Wagnis, eine Qual. War der Schnee zu hart und bestand er aus vielen vereisten Lagen, brachen wir nicht mal ein. Doch schon der nächste Schritt ließ uns wieder ruckartig versinken, die scharfen Kanten rissen uns die Fellhosen auf, die wir grundsätzlich jedem Iwan abnahmen und irgendwie an unsere ausgemergelten Körper anpassten. Die Augen nach unten gerichtet, erblickten wir das ewige Weiß, und unseren stoßweisen, nebligen Atem, der sich als Eis in den Bärten verfing. Allen war klar, dass sich mit zunehmendem Tageslicht jederzeit das Auge eines Scharfschützen an unsere Köpfe heften konnte. Zwei, drei Kilometer waren für die guten sowjetischen Gewehre kein Problem. Und wen wählte er aus? Immer den Offizier. Aber sie waren nicht mehr zu erkennen, die Offiziere, denn alle trugen wir die Lumpen, die geklauten Filzjacken, die dem toten Iwan mit letzter Kraft von den Füßen gezogenen Filzstiefel, die unsere Zehen vor der Erfrierung schützten. Also wählten die Scharfschützen einfach denjenigen aus, der ihnen besonders gefiel. Vielleicht würfelten sie im Kopf, hatten auch so etwas wie ein „ene mene muh“. Ich sah auf und drehte den Kopf hin und her. Vom Zugführer kam ein Zischen und wir verharrten, gingen in die schmerzenden Knie und lauschten.

»Minen«, war das geflüsterte Wort, das auch mich erreichte. Das hieß für uns alle abwarten auf mehr Tageslicht. Im Schnee hockend, nicht stehen, nicht rauchen, kein Streichholz, jedes Fünkchen ein Ziel für Scharfschützen. Wir bewegten die Füße rauf und runter, wackelten mit den Zehen, traten vorsichtig auf der Stelle. Die Zeit war ebenso gefroren wie alles um uns herum. Ein Schrei steckte in meiner Lunge, ein Schluchzen, ein Verlangen nach Wärme, nach sanften Händen. Denk an Lebkuchen, denk an Lebkuchen, Lebkuchen … und Kerzen, duftende Kerzen auf dem Fenstersims. Denk an Erika. Ihre Augen. Was hatte Erika für eine Augenfarbe? Blau? Nein, nein, so eine Art Grün mit grauen Sprengseln darin. Grün. Mein Gott, was waren ihre grüne Augen doch eine magische Schönheit. Das war es, was ich schreien wollte. Erika! Ich liebe sie! Ich will sie lieben! Ich will diesen gottverdammten Krieg nicht! Jemand ächzte neben mir und ich erschrak heftig. Biegel kniete ein paar Meter vor mir, Dangson rechts hinter mir. Ich starrte auf den grauen Schatten zu meiner Linken. Er fiel einfach um, flüsterte Wortfetzen, die ich nicht verstand, dann verstummte das graue Bündel. Es war einer der Panzergrenadiere. Nicht bewegen, war die Devise. Jeder Schritt der mögliche Tod.

Mit der fortschreitenden Stunde wurde es heller und wir blickten uns um, senkten unsere Köpfe auf die Schneefläche, so dass wir gerade eben drüber spähen konnten. Da gab es die kleinen Erhebungen. Jeder von uns deutete auf eine dieser Erhebungen und daraus ergab sich eine Struktur, ein Netz von Linien. Über den metallenen Minen war der Schnee schneller aufgefroren, was zu den leichten Beulen führte. Per Handzeichen führten wir uns selbst aus den Minen heraus, in drei Reihen. Den Panzergrenadier ließen wir liegen. Für ihn war an diesem Ort seine Reise zu Ende. Ich nahm ihm seine Hundemarke ab und steckte sie ein. Zügig marschierten wir aus dem Wald heraus, querten einen zugefrorenen Bach und erreichten eine kleine Anhöhe vor Chimki, die sich von Norden kommend in südlicher Richtung erstreckte. Auf der Anhöhe zog sich ein teilweise geräumter Feldweg entlang. Unser Trupp ging im parallel angelegten Graben in Wartestellung und einige von uns spähten über den Rain ins Städtchen hinein.

Ich fischte drei Zigaretten aus meinem Umhang, gab Biegel und Dangson je eine, entzündete unter dem Mantel mein Glimmfeuerzeug und reichte es an die beiden weiter. Wir rauchten unter dem Stoff und bliesen den warmen Rauch in unsere Lumpen. Es knirschte neben uns.
»Hört mir zu.«
Alle drei sahen wir auf. Kappler saß im Schnee und nickte uns zu.
»Franz, Du gehst mit vier Besatzungen in südlicher Richtung um Chimki herum«, Kappler rutschte heran, zog Franz an seiner Uniform auf den Rain und deutete in eine bestimmte Richtung. »Siehst Du dieses weiße Band dort hinten?«
»Sehe ich«, bestätigte Franz.
»Das ist der Moskau-Kanal. Erkennst Du den dunklen Streifen über dem Kanal?«
Franz nickte.
»Gut. Das ist eine Eisenbahnbrücke. Die Strecke Moskau-Leningrad. Direkt vor dieser Brücke ist der Bahnhof. Dort treffen wir uns. Ich stoße an der Eisenbahn-Linie bis zum Bahnhof und Leutnant Moser kommt von der anderen Seite der Eisenbahn. Laut Karte gibt es am Bahnhof ein mehrstöckiges Kulturgebäude. Das ist der Treffpunkt. Alles klar?«
»Um wie viel Uhr spätestens?«
»Jede Gruppe hat zwei Stunden. Jetzt ist es acht Uhr. Wer um zehn Uhr nicht aufgetaucht ist, hat Pech. Ich werde hier nicht länger bleiben als unbedingt nötig. Seht Euch um, in den Häusern, Positionen für Hinterhalte. Achtet auf Sprengfallen und Minen, und … keine Gefangenen.«
Er händigte Franz eine Karte und zwei Fotos aus.
»Hier, Luftbilder die vorgestern gemacht wurden. Tragt die wichtigen Sachen auf dem Foto und der Karte ein.«
Kappler musterte unsere kleine Runde.
»Passt auf Euch auf«, sagte er noch, dann rutschte er davon. Ich verkroch mich unter den Umhang und rauchte fertig.

*​

Wir umgingen Chimki am westlichen Rand, entlang des kleinen Baches. Nichts und niemand begegnete uns. Außer einem Aufklärer unterhalb der Wolkendecke. Das schmale Gewässer bog nach Westen ab und umrundete dann nach Osten drehend einen Hügel. Franz bedeutete uns, ihn hinaufzugehen. Wir schwenkten ein und stapften durch den harten Schnee in ein Kiefernwäldchen hinein. Oben auf dem Hügel angekommen, machten wir Halt an einer teilweise eingestürzten, mannshohen Mauer. Sie trennte das Kiefernwäldchen von einem großen, parkähnlichen Areal, in dessen Mitte zwei langgezogene Gebäude standen. Über dem Eingang des einen prangte der rote Stern und ein Stalin-Porträt. Franz winkte uns zusammen.
»Was denkt ihr, was das ist?«
»Krankenhaus? Ein Sanatorium?«
»Oder eine Parteischule.«
Er überlegte kurz.
»Wir gehen da hinein. Hannes und Sigurd, wir drei voraus. Immer genau auf die Stirnseite zu, dort sind keine Fenster. Sind wir an der Giebelwand, folgt der Rest. Ihr anderen nehmt die Dächer und möglichen Öffnungen ins Visier bis wir drin sind.«
Das Schweigen war Zustimmung genug. Franz ging voran, völlig unbekümmert, als wäre dies ein Gang in die nächste Wirtschaft. Die Waffe im Anschlag, marschierte er schnurstracks auf die etwa einhundert Meter entfernte Stirnseite des linken Gebäudes zu. Dangson und ich folgten ihm, unentwegt um uns schauend. Schwer atmend und tatsächlich schwitzend, erreichten wir das Haus. Franz schielte ums Eck zum Eingang, bedeutete uns aber, auf der rückwärtigen Seite weiterzugehen. Er winkte den Rest der Truppe heran. Dangson und ich liefen geduckt die Rückseite bis zu einem kleinen Kellerabgang, stiegen die Treppen hinab und drückten die Türklinke. Es war offen. Wir warteten ab, bis Franz mit dem Rest zu uns stieß, dann öffneten wir mit einem Ruck die Holztür. Alles blieb ruhig, lediglich ein kalter, modriger Geruch schlug uns entgegen. Durch den Keller drangen wir ins Gebäude ein, was sich tatsächlich als eine Art Krankenhaus oder Sanatorium herausstellte. Es war völlig leergefegt. Ein paar Laken, zwei, drei Betten, Stühle, Schreibtische, mehr fand sich nicht. Wir sammelten uns im Foyer und Franz erläuterte uns seinen Plan.
»Keine fünfzig Meter quer zu den Gebäuden ist eine Art Herrenvilla, vielleicht das Hauptgebäude. Die Fenster alle nach Westen auf uns gerichtet. Idealer Platz für einen Scharfschützen. Im Keller gibt es eine Art Versorgungsgang dort hinüber. Sigurd, Hannes und ich gehen da hindurch und klären drüben auf. Ihr bleibt hier. Geht nicht! an die Fenster, bewacht die Eingänge.«

In diesem Gang war es wärmer als draußen. Nach den abgeschätzten fünfzig Metern öffnete sich vor uns ein kleines Treppenhaus, über das wir auf ein Podest im Hochparterre gelangten, offenbar in einem der beiden Seitenflügel. Die russischen Filzstiefel waren bestens geeignet, so leise wie möglich durch ein Gebäude zu gehen. Unsere Knobelbecher wären völlig ungeeignet gewesen. Wir stellten uns nach drei Richtungen auf das Podest und lauschten. Selbst unsere Atemgeräusche verloren sich in den Stofflappen um unser Gesicht. Es herrschte Grabesstille. Keiner wagte sich zu bewegen, dann plötzlich gab es ein Geräusch, ein Scharren von Holz auf einem Steinboden, als hätte jemand einen Stuhl verschoben. Franz hob die Hand, zeigte auf Dangson und mich, dann auf die Treppe. Wir nickten. Dann beschrieben seine Finger einen Kreis. Er wollte von der anderen Seite kommen. Wir griffen unsere P38 und nahmen die Treppe nach oben. Ich blieb stehen, Dangson bewegte sich Stufe für Stufe, dann umgekehrt, er sicherte nach oben und ich stieg voraus. Das Gebäude war zweistöckig über dem Hochparterre, und ein Heckenschütze benötigte eine überhöhte Position, weshalb wir den ersten Stock ausließen und gleich Richtung obersten Stock schlichen. Oben angekommen, lugten wir ums Eck. Nach Westen stand nur eine Tür offen. Tageslicht kam aus der Öffnung und auf dem Boden bildete sich ein Schatten, der sich ab und an bewegte. Wir warteten. Nach kurzer Zeit nickte Dangson, als er den Gang entlang sah. Franz musste auf der anderen Seite sein. Wir bewegten uns an der Wand entlang, vielleicht fünfzehn Meter, Franz kam uns entgegen. Einen Meter vor der Tür blieben wir stehen. Franz zeigte uns seine Faust, hob den Daumen, den Zeigefinger, den Mittelfinger. Wir taten einen Schritt, äugten ums Eck und schossen.

*​

»Das ist ein Kind«, sagte ich fassungslos. »Wir haben ein Kind erschossen.«
Dangson kickte den Jungen mit dem Fuß auf den Rücken. Die Kugeln waren durch die Brust wieder ausgetreten und hatten große Löcher gerissen. Das Blut gefror bereits auf dem Boden.
»Es ist nur ein Kommunist. Kind hin oder her«, erwiderte Sigurd mit eisigem Ton.
Franz stand am Fenster und sah hinaus.
»Besonders viel Munition haben sie ihm nicht gegeben. Insgesamt zwanzig Schuss«, stellte er fest. Er kaute auf einer Speckscheibe, von denen wir fünf in einer Blechbox fanden. »Sigurd, geh hinüber. Der Rest soll durch den Tunnel hierher kommen.«
Dangson nickte und machte sich auf den Weg. Ich setzte mich auf den Stuhl und schloss die Augen.
»Nicht älter als dreizehn oder vierzehn. Was meinst Du, Hannes?«
Ich schüttelte nur leicht den Kopf. Letztendlich war es völlig egal. Es war ein Kind.
»Dreizehn oder vierzehn, es ist ein Kind …«, ich sah zu der kleinen Leiche, »… es war ein Kind.«
»Der Iwan setzt die Kinder ein. Nicht wir, Hannes. Sie könnten die Kinder auch Getreide ernten oder die Straßen fegen lassen. Nicht wir sind die Verbrecher, sondern sie. Das Dumme ist nur, dass unsere Großkopferten ebensolche Verbrecher sind. Ich wette, dass auch wir eines Tages unsere Kinder schicken. Und die werden es büßen müssen. Büßen für all das, was wir tun.«
Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Eine tiefe Müdigkeit überfiel mich. Auf der Stelle hätte ich in einen hundertjährigen Schlaf fallen können.
»Es ist jetzt kurz vor neun Uhr, Hannes, lass uns …«
Ein an- und abschwellendes Jaulen ließ ihn verstummen und mir bescherte es eine Panikattacke. Wie eine abgestochene Sau rannte ich aus dem Zimmer, die Treppe hinab in den Keller. Dort prallte ich mit Dangson zusammen und fiel zurück auf den Treppenabsatz. Die Männer duckten sich oder flüchteten zurück in den Durchgang.
»Was ist, Hannes?! Beschuss?!«, brüllte Sigurd und zog mich in den Winkel unter die Treppe. Aber nichts geschah. Nur das durchs Mark reißende Jaulen war zu hören. Keine Einschläge.
»Mein Gott«, hörte ich einen der Männer sagen.

*​

»Für unser Vorhaben gar nicht schlecht«, erklärte uns Franz laut. »Die Stalinorgel sorgt dafür, dass man uns nicht hört. Wir gehen weiter Richtung Bahnhof.«
Unser Trupp stand vor dem Hauptgebäude, die rauchenden Linien der Katjuschas über unseren Köpfen, das endlose Jaulen in den Ohren.
»Wir marschieren entlang dieser Straße …«, Franz Finger fuhr entlang einer Linie, »… aber wir nehmen die Gärten hinter den Häusern. Zwei Reihen, eine deckt, eine geht. Klar? Und stopft euch was in die Ohren. Dabei wird man ja wahnsinnig.«
Wir nickten und zogen weiter. Ich sah nach oben und verlängerte im Kopf die rauchenden Flugbahnen nach Westen. Die Ziele mussten in der Nähe unserer Stellungen liegen. Ich reihte mich ein und dachte an den kleinen Jungen, der dort oben in seinem gefrorenen Blut lag. Wie wohl sein Name war?
Franz schlich sich immer wieder zwischen den kleinen Bauernkaten hindurch auf die Straße und suchte sie nach Minen oder Sprengfallen ab. Vor einem größeren Platz stoppten wir, bezogen Stellung zwischen Mauerteilen und einigen verrosteten Traktoren. Auf dem Platz lag ein totes Pferd, keine dreißig Meter von uns entfernt.
»Tiefgefrorenes Fleisch hält sich doch«, meinte Schmid, ein noch blutjunger Richtschütze unserer Sturmgeschütztruppe. »Wir könnten uns da ein gutes Stück herausbrechen.«
»Können wir nicht«, widersprach ihm Dangson.
»Das ist richtiges Fleisch, Kameraden«, setzte er nach. »Wann habt ihr zuletzt einen ordentlichen Braten gegessen?«
Wir ignorierten ihn, rauchten unter unseren Umhängen, starrten auf den Boden. Niemand nahm es bewusst zur Kenntnis, dass der junge Schmid, seit zwei Monaten Richtschütze beim Nachbar-Sturmgeschütz, sich davonschlich, sein Bajonett in der Hand, und erst als er vor dem Pferdekadaver stand, stupste Dangson mich an und deutete auf den Platz. Ich erschrak und presste meine Hand vor den Mund, als er versuchte, sein Bajonett in den Tierkörper zu treiben. Eine wuchtige Explosion riss das Pferd und ihn in Stücke. Instinktiv ließen wir uns auf die Seite fallen. Als wir wieder hochkamen, sahen wir Franz auf dem Platz stehen. Weder vom Pferd, noch von Schmid war etwas übrig geblieben. Unentwegt jaulten die Stalinorgeln ihre tödliche Fracht über uns hinweg, dann setzte ein dunkles Wummern ein. Wir spürten den Druck in der Luft, jeden Schlag, als klopfte uns einer pausenlos mit seinem Finger auf den Kopf.
»Artillerie. Die schmeißen uns zusammen«, hörte ich eine dunkle Stimme hinter mir. Franz kam zu uns.
»Wer hat Schmid gehen lassen?«, wollte er wissen.
»Niemand. Er hat sich einfach davon gemacht«, erklärte ich ihm.
Franz nickte.
»Lasst es euch eine Lehre sein. Es geht weiter.«

Wir drehten nach Osten, durch einen vereisten Graben entlang einer schmäleren Straße. Weder in den kleinen Holzkaten noch in den ab und zu auftauchenden größeren Steingebäuden stießen wir auf Bewohner. Jedes zweite Haus unterzogen wir einer kurzen Untersuchung. Dann standen wir vor dem Bahnhofsplatz, legten uns in den harten Schnee am Grabenrand und verschnauften. Ich starrte in den Himmel und entdeckte die eine oder andere Wolkenlücke. Das war nicht gut, denn mit den Lücken kam auch immer ein Kälteschub. Und es war schon kalt genug. Franz zog den Grabenspiegel heraus und suchte die Umgebung gewissenhaft ab. Wieder und wieder. Ich robbte zu ihm hinüber.
»Was ist? Auf was warten wir?«
»Ich kann mich täuschen«, meinte er, »aber dort drüben in diesem runden Giebelfenster habe ich etwas aufblitzen sehen.«
»Aufblitzen?«
»Ja, als würde ein Spiegel hin und her bewegt.«
»Zielfernrohr?«
»Gut möglich.«
»Wenn er gut ist, hat er jetzt schon den Grabenspiegel entdeckt. Was sollen wir jetzt tun, Franz?«
»Wir müssen ihn umgehen.«
»Es ist sinnlos, ein so großes Areal mit nur einem Scharfschützen abzudecken«, warf ich ein. »Da hockt sicherlich noch einer, wenn nicht zwei, die aus unterschiedlichen Winkeln feuern.«
Franz sah mich lange an. In diesem Augenblick verstummten die Stalinorgeln und die Artillerie. Wir sahen uns an.
»Zu kurz, als dass der Iwan jetzt losschlägt. Die wollten uns nur mürbe machen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Er zog die Karte aus dem Umhang und faltete sie auseinander.
»Tja, Kappler kommt von Norden. Hinter dem Bahnhof liegt die Bahnlinie. Moser kommt von Osten. Laut der Karte gibt es im Osten nur Wald. Und Kappler kann abseits der Bahnlinie in der Deckung vorrücken. Wir könnten warten, bis sie den oder die Scharfschützen ausgeschaltet haben.«
Ich war davon nicht überzeugt.
»Die Bahnlinie führt direkt nach Moskau, Franz. Über den Kanal. Ist also enorm wichtig für die Russen. Meinst Du, ein paar Scharfschützen genügen, um das zu halten?«
Er sah sich um unter den Männern. Zwei von uns trugen einen Stahlhelm.
»Linke, gib mir deinen Helm.«
Franz nahm den Helm entgegen, stopfte ihn mit Lumpen aus und band sein Fernglas drunter. Dann nahm er einen Karabiner, steckte den Helm auf den Lauf und hob die Konstruktion langsam aus dem Graben. Er drehte ihn ein paar Mal hin und her, und als ich schon dachte, wir machten uns zu viele Sorgen, peitschte ein Schuss über den Platz und Linkes Helm wurde vom Lauf gerissen. Ein glatter Durchschuss. Das Fernglas war heil geblieben.
»Gut«, lächelte Franz. »Ein Anfänger.«
»Ein Anfänger?«, wiederholte ich zweifelnd.
»Schieß niemals auf den Helm. Immer ins Gesicht, die Nase, zwischen die Augen. Könnte ja auch mal sein, der Lederring im Helm ist zu klein eingestellt, dann sitzt der Helm zu hoch und der Schuss zieht dir bloß eine Narbe auf dem Kopf.«
Ich starrte ihn an.
»Vielleicht ist es mal wieder ein Kind, und es hat die Hosen gestrichen voll?«
Franz grinste mich an.
»Dein Humor wird langsam besser.«

Es war kein Kind, sondern eine Frau. Zwei Frauen, eigentlich. Kapplers Trupp schaltete die beiden Frauen aus, die im Bahnhofsgebäude auf Lauer lagen. Uns hätten sie eiskalt erwischt. Ein Teil der Männer stand auf dem Dach des örtlichen Kulturpalastes, der Rest sicherte den Platz und suchte nach Essbarem. Moser zog aus seinem Rucksack eine Schere und verankerte sie mit einem Dorn auf der Dachbrüstung. Er ließ sich aus dem Kinosaal einen Stuhl bringen, setzte sich vor die Okulare und spähte hindurch. Mit einem Mal pfiff er kurz.
»Da schau her. Ob Väterchen Stalin vor dem Kamin sitzt?«
Wir blickten uns fragend an. Moser stand auf.
»Franz, von Dir weiß ich, dass Du Russisch kannst, in Russland warst vor dem Krieg. Sieh mal durch. Was ist das?«
Franz setzte sich und schaute in die Optik.
»Das ist die Archangelsk-Kirche im Kreml … zum Greifen nahe.«
Kappler schob ihn weg.
»Lass mich mal sehen … tatsächlich. Das gibt’s doch nicht. Wie weit ist das weg?«
Franz rechnete im Kopf.
»Ist eine 1.000er-Markierung drin, also ich würde mal sagen, um die 20 Kilometer«, sagte er dann.
»Was meint ihr, kommen wir da hin?«, fragte Kappler und stierte weiter durch die Optik. Keiner von uns antwortete. Kappler drehte sich um.
»Was habt ihr?«
Franz grinste ihn an, fast schon mitleidig.
»Niemand von uns wird je dorthin kommen, Kappler. Wir sind fertig. Und die da drüben«, er streckte seinen Arm Richtung Moskau, »fangen jetzt gerade erst an.«
Kappler erstarrte für einen Moment und zumindest ich dachte, er spränge Franz jetzt an die Gurgel, aber dann war dieser Moment wieder vorbei. Er zog den Dorn samt Optik aus der Brüstung und gab sie Moser.
»Pack ein. Wir gehen. Los, sammelt die Männer und Abmarsch.«

Auf dem Platz fanden wir sieben Russen unter Bewachung vor. Sie hatten sich in einem Keller des Rathauses versteckt und Mosers Leute hatten sie hergetrieben. Kappler, Moser und Franz grübelten über der Karte.
»Wir gehen entlang dieses Bachs und biegen dann in nordwestlicher Richtung ab, an diesem kleinen Teich hier«, schlug Franz vor.
Kappler nickte.
»Und die Russkis lassen wir vorneweg laufen. Als Minenhunde, sozusagen.«
»Gute Idee, Moser«, lobte ihn Kappler. »Und du, Franz, erklär das diesem Lumpenpack mal.«
Ich sah Franz an, dass er davon nicht begeistert war, aber er erklärte es den Russen, und bis auf einen, der anfing zu schluchzen, sich vor ihm auf die Knie schmiss und an seinen Hosen zerrte, nahmen es alle teilnahmslos auf. Dieser eine jedoch ließ nicht los. Er schrie, was das Zeug hielt, klammerte sich um Franz' Schienbein, bis Moser herantrat und den Mann mit drei Schüssen tötete.
»Gott, wie ich dieses Land hasse«, sagte er zu sich selbst. Er füllte sein Magazin nach und drehte sich um. Franz starrte auf den Toten, der immer noch sein Schienbein hielt. Das warme Blut sickerte tief in den Schnee ein. Ich drehte mich weg und ich weiß nicht warum, aber ich dachte an Lebkuchen, an Lebkuchen und Kerzenduft, daheim in Nürnberg. Mir gegenüber diese grünen Augen …
»Abmarsch!«, rief Kappler.

 

Hallo,

diese Geschichte ist der Nachfolger von jener und deren Vorgänger. Diese Reihe wird sich weiter füllen. Ob das nun aber die Kriterien einer Serie erfüllt, weiß ich nicht.

Auch hier möchte ich dazu erklären, dass alle diese Geschichten viele wahre Elemente enthalten, die mein Großvater mir erzählte. Sie sind keine Bewertungen (wie ich jetzt schon ein paar Mal vernommen habe). Der Leser muss bewerten, er muss seine Schlüsse daraus ziehen.

Morphin

 

»Es ist nur ein Kommunist. Kind hin oder her«, …
zeigt die Verrohung in unruhigen Zeiten, nicht nur in dem Schlachten um Moskau,

lieber Morphin,
und dank des Opas gewinnen wir ein weiteres Mal einen kleinen Einblick an der Front, das weit über die Verklärung der Landser-Hefte hinausgeht (hab als Junge Groschenhefte von Bastei gelesen). Das ist wie immer solide gemacht und weist trotz der wieder einmal stattlichen neun Seiten Manuskript unter Times New Roman 12 pt. fast keine handwerklichen Schnitzer auf. Umso erstaunlicher, dass dieses Kleinod beinahe in den unendlichen Weiten des WeltWeitengeWerbes vergessen/übersehen wird ...

Hier gibt’s mal eine Verdoppelung

Als ich an dieses augenlose Nichts dachte, lief es mir eiskalt den Rücken hinab, [...] lief es mir eiskalt den Rücken hinab, meine Haare stellten sich. …

Hier wäre ein Komma nachzutragen
Ich warf den Brief in den Holzkasten[,] auf dem Feldpost stand, dann …

Einmal wird das engl. to make sense buchstäblich umgesetzt
»Es macht aber keinen Sinn, ein so großes Areal …
Das vermutlich erst mit den Siegermächten in den deutschsprachigen Raum einmarschierte.
Hier wäre ein Apostroph (für die Genitiv-Endung) einzufügen
…, klammerte sich um Franz[’] Schienbein, …
Hier stutzte ich
Das warme Blut schmolz den Schnee, sickerte tief ein.
und die Dudengrammatik war keine Hilfe: Denn ich bin überzeugt, dass hier nur der Schnee und gefrorenes Blut schmelzen könnte.
Da half der Wahrig weiter: Die frühere Trennung in eine schwach konjugiertes transitive Variante zeigte den Unterschied deutlich auf:
Das warme Blut [schmelzte] den Schnee, sickerte tief ein.
Ich selbst hätte nun keine Bedenkenken bekommen und den Satz so geschrieben (spielt ja auch zu einer anderen Zeit, da die Regelung noch gültig war)
Da war die Welt noch in Ordnung, denn selbst der Wahrig hat vor der Umgangssprache kapituliert: Die Reihe ist heute allein "schmelzen – schmolz – geschmolzen", ist aber immer noch unterschiedlich zu handhaben: „Das warme Blut hat den Schnee geschmolzen, …“ oder „Der Schnee ist durchs warme Blut geschmolzen …“


Gruß und wie immer gern gelesen vom

Friedel

 

Servus Friedrichard,

vielen Dank fürs Lesen, Kommentieren UND Fehler aufzeigen. Hab es schon geändert, auch ein wenig umformuliert. Bin gerade am vierten Teil. Das Schwierige ist die Geschichte um diese erzählten Erlebnisse herum zu basteln. In diesem Teil sind es die Scharfschützen und der Blick auf die Kreml-Kirche. Der Recherche-Aufwand ist schon erheblich. Zwar habe ich alle Unterlagen der Wehrmacht-Auskunftsstelle in Berlin abgerufen, aber so Feinheiten wie Dienstgrade, Frontverlauf, Truppenbewegungen, wer wo wann lag, das ist echte Google-Arbeit. Wobei das Internet hier schon eine Goldgrube ist. Gerade Frontberichte ehemaliger Soldaten findet man sehr oft und darin dann die "umgangssprachlichen" Begriffe.

Erschreckend ist auch, wie nahe einem diese Erlebnisse plötzlich kommen, wie nah diese Ära heranrückt. Gut, erst 64 geboren, also 19 Jahre danach, war es doch auch für mich als Kind unübersehbar. Die vielen Invaliden, die kaputten Häuser gab es teilweise noch in Pforzheim, die Geschichten der Großeltern, das Zucken meiner Mutter, wenn die Sirenen heulten ...

Nun, bis zum nächsten Teil.

Morphin

 

Lieber Morphin,
einer meiner Lehrer in den frühen Sechzigern war Kriegsheimkehrer, er hatte im Russlandfeldzug ein Bein verloren. Gegenwartsgeschichte war für ihn das Erzählen von Kriegserlebnissen. Die Ideologie des Dritten Reiches noch voll innerlicht, stellte er uns Kindern den Krieg als ein riesiges Abenteuer dar. (Übrigens war er der Grund, warum ich als Kind schon begann, mich für Geschichte zu interessieren.)
Böll und Borchert zeigten uns Jugendlichen dann ein ganz anderes Bild des Krieges und seiner Folgen.

Für mich wäre interessant, wie die Erzählungen deines Großvaters waren: Vielleicht im Vergleich zu meinem oben beschriebenen Lehrer?

Deine Beschreibung des Krieges erinnert mich an Remarques Beschreibung des Ersten Weltkrieges. Das Unfassbare wird zum Alltäglichen, Tod, Mord und Grausamkeit gehören zum Leben der Protagonisten.

Schieß niemals auf den Helm. Immer ins Gesicht, die Nase, zwischen die Augen. Könnte ja auch mal sein, der Lederring im Helm ist zu klein eingestellt, dann sitzt der Helm zu hoch und der Schuss zieht dir bloß eine Narbe auf dem Kopf.

Dieser eine jedoch ließ nicht los. Er schrie, was das Zeug hielt, klammerte sich um Franz' Schienbein, bis Moser herantrat und den Mann mit drei Schüssen tötete.

Die realistische und schnörkellose Weise, in der du das Geschehen beschreibst, ist m.M.n. die einzig mögliche. Mir gefällt dieser lakonische, nicht wertende Stil.

Deine Geschichte habe ich gewählt, weil du mir einen Kommentar geschickt hast und ich mir mal anschauen wollte, was du so schreibst. Eigentlich liebe ich keine Texte, in denen Grausames und Brutales beschrieben wird, das halte ich mir gerne fern. Und dann hat mich dieser Text gepackt und ich habe ihn zu Ende gelesen, obwohl ich eigentlich vorhatte, einen schönen sonnigen Frühlingsspaziergang zu machen.

Aber es hat sich gelohnt, ihn zu verschieben. Ich habe deinen Text gerne gelesen.

Freundliche Grüße
barnhelm

 

Nabend barnhelm,

herzlichen Dank fürs Lesen und den Kommentar. Du erzählst von deinem Lehrer, ja, auch bei uns gab es diese Lehrer noch, bei denen wir den Unterricht vergessen konnten, wenn zu Beginn der Stunde das Wort "Damals" fiel und der erhobene Zeigefinger kam. Dann hieß es, entspannt zurücklehnen. Aber du fragst nach meinem Opa. In der Geschichte "Götterdämmerung" wird er verschüttet. Dieser Sauerstoffentzug hatte auf sein späteres Leben enorme Auswirkungen. Als Goldschmied war es unabdingbar, feine und feinste Handbewegungen, Fingerfertigkeiten auszuüben. Mein Opa begann zunehmend zu zittern und arbeitete bald nur noch daheim, wo ich ihm zuschaute. Wenn ihn die Unruhe packte, nahm er mich an der Hand, wir liefen stundenlang durch den Schwarzwald, und er erzählte diese Geschichten. Im Prinzip sind es diese herausragenden Einzelheiten, die ich mir gemerkt habe.

Bei vielen Gelegenheiten saß er auf einer Bank und weinte. Irgendeinen Waldgeist bat er immer um Vergebung. Mit zunehmendem Alter bekam er Aussetzer. Ging nachts im Schlafanzug raus und lief über die Gleise in Richtung Stadt oder wollte sich von einer Brücke stürzen. Ich war damals ein Kind und konnte mir sehr wenig unter all dem vorstellen, allerdings haben seine Erzählungen es - so denke ich heute - durchaus geschafft, mein Weltbild aus der Balance zu bringen. Auch mein Faible für den Krieg rührt sicher daher. Zu der Zeit war der Vietnamkrieg, und schon mit zwölf fing ich wie verrückt an, Bücher und Infos darüber zu sammeln. Ich bastelte Revell-Modelle und hing in Bibliotheken, um zu lesen.

Dann, mit 17, hörte das schlagartig auf. Bis ich mit 18 meine Lehre als Landwirt begann, und mein Seniorchef, ein A. Lichtner, mein Wissen um den 2. WK entdeckte. Er führte mich in seine "gute Stube", eine private Bibliothek, abgedunkelt und belüftet. Darin tausende von Büchern. Und sehr viel Material aus der Zeit des 2. WK. Er war Stabsoffizier im OKW und erzählte mir ein Jahr lang an vielen Abenden vom WK aus der Sicht eines "Planers". Im Übrigen hatte er dort auch 100jährige Ausgaben von Dantes Inferno und andere Leckerbissen.

So kehrte der Krieg also zurück in mein Leben. Als dann mein Vater starb, erbte ich eine Kiste mit Unterlagen, nahm sie mit zu mir und öffnete sie. Über meinen Opa väterlicherseits gab es die einhellige Aussage, er wäre in Russland gefallen. Bis ich die Kiste öffnete. Ich entdeckte, dass mein zweiter Opa als Kriegsverbrecher gehängt wurde, 1948. Ich fand Ordner mit handgeschriebenen Briefen aus seiner Gefangenschaft bis zum letzten Brief vor der Hinrichtung. Weil da aber immer dasselbe drin stand (Pflicht getan, für Deutschland usw. usf.), zog ich los, 3 Jahre lang, durch alle Archive bis nach London, trieb ehemalige Nachbarn auf, recherchierte an Orten, an denen er sich aufhielt und hatte am Ende die meisten Puzzleteile zusammen. Kurz und gut trat er 1932 in NSDAP und in die SS ein, wurde Wachmann in KoLaFu, machte eine Ausbildung bei der Gestapo, wurde in den SD aufgenommen, ging 1938 nach Berlin ins Gestapo-Ausbildungszentrum, kehrte 1940 nach HH zurück ans Holstenglacis, wurde stellv. Kommandant im KoLaFu und im April 43 sein Kommandant. Auf sein Konto gehen Erschießungen, Folter, Terror, Hunger, Demütigungen und die Organisation der Todesmärsche nach Kiel.

Da hatte mich diese Zeit dann zum dritten Mal eingeholt. Und ich musste mich ihr nun stellen. Und weil schreiben mein Metier ist, begann ich mit den Geschichten.

So, das mal in Kürze. Bis die Tage.

Morphin

 

Lieber Morphin,

als jemand, der den Krieg weder aus erster noch aus zweiter Hand so mitbekam, dass er sein ganzes Ausmaß begriff, fällt es mir leicht, den Text auf der üblichen handwerklichen Ebene zu loben oder je nach dem auch zu zerpflücken. Ich könnte in diesem Fall vielleicht sagen, so ehrlich wie es meine Art ist, sie plätschert dahin, trotz oder gerade wegen der ganzen Lakonie, den Spannungsbogen hätte ich nicht so richtig mitbekommen. Könnte an einer bestimmten Stelle anmerken, hier würde ich eher von Dielen schreiben, als von Boden, denn das hört sich für mich komisch an.
Aber will ich das? Ist das nicht pietätlos? Könnte ich nicht heute genauso eine Geschichte schreiben über einen Kopiloten, der seinen Kollegen aus dem Cockpit aussperrt, um in aller Seelenruhe –

Weißt du, solche Geschichten können in meinen Augen ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, die Erinnerungen wach zu halten und damit die Ablehnung jedweder Kriegshandlungen, der schleichenden Befürwortung derselben von wegen Kampf gegen den Terrorismus oder schmarrn begegnen. Andererseits wäre es noch schlimmer, wenn es diese Texte gar nicht gäbe. Wenn nur mal kein Neonazi daherkommt und die Lakonie fehldeutet ...

Schreib diese Geschichten, wenn du sie schreiben musst, und das ist gut, da du – mehr oder weniger direkt – damit konfrontiert wurdest als Kind, und ich habe großen Respekt davor. Ich verbiete mir dieses Thema, aus eingangs genannten Gründen. Und selbst wenn diese nicht zuträfen, könnte ich mir nicht zutrauen, sie mit einer solchen fast banal scheinenden, daher lakonischen Alltäglichkeit darzustellen. Die Verantwortung wär mir zu groß, allenfalls würde ich das dramatisch aufziehen.


Danke fürs Lesen lassen,
-- floritiv

 

Mahlzeit!

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Boden - Dielen ... ja, klingt besser. Geändert. Zur Geschichte hinter der Geschichte sage ich mal, dass ich den Menschen recht wenig zutraue. Seit 2003 bin ich in Schulen oder der Erwachsenenbildung unterwegs mit einer Doku über den SS-Opa. In einer Authoring-Software hab ich Fotos, Dokumente, Musik und Sprache zusammengebracht. Meist bekomme ich 2 Stunden. Die Doku selbst geht 35 Min., ich lasse sie erst mal durchlaufen. Danach ist Diskussion. In diesen Jahren seither wurde ich reichlich desillusioniert; vor allem von den Geschichtslehrern selbst.

Sprechen soll ich ja zum Thema 33 - 45, Nationalsozialismus, Hintergründe und WIE rutscht man als Normalo dort hinein. Das hat natürlich viel mit Mechanismen zu tun. Sehr auffällig ist, dass eine große Zahl von Lehrern diese Mechanismen nicht kennt. "Man hat die Menschen verführt" als Schema, ist einfach zu plump geworden. Das Banale kann es ja nicht gewesen sein, sagen viele Schüler. Es muss ja etwas Tolles gegeben haben, richtig Einschneidendes, einen Hype, der Trend schlechthin. Die Sprache für all das ist heute eine komplett andere. Das war so ne Art Flashmob, höre ich da, Twitter gabs ja nicht. Wie ging das?

Nun, aus all meinen Gesprächen mit alten Leuten, wenn man sie einfach erzählen ließ, kam heraus, dass es der banale Alltag war, dem sie unterworfen waren. Und dass der banale Alltag sie vor dem Blockwart bewahrt hat, dass man ja doch weiterleben musste, aufstehen, Sorgen machen, Schule, Mittagessen, Konfirmation, Nikolaus, Oma ist gestorben, nichts, was wir heute nicht auch haben.

Und auch in Russland ... weitermachen. Schnell vergessen. Wenn die Russen nach Deutschland kommen, dann wird es erst böse ... nicht drüber nachdenken. Die Worte des Russland-Opas waren banal. Das Böse oder unmenschliche Handlungen werden umso unmenschlicher, wenn sie banal werden.

Zu erkennen, dass dies keine Zeit außerhalb dieses Planeten war, ist eigentlich Aufgabe der Schüler. Die Lehrer, Eltern, die Erwachsenen, müssen ihnen Sensoren für das Banale geben, damit sie erkennen, wenn es wieder durch die banale Tür ins Zimmer schleicht. Für den Nazi muss man dieselben Worte wie für den Unbelasteten wählen, ansonsten bräuchte man tausend Dramaturgien für tausend unterschiedliche Sichtweisen. Der Nazi wird nicht weniger Nazi, denn er hat sich seine Antworten schon gegeben. Ein Haufen Dramatik wird ihn nicht ändern, verschiebt aber die Realitäten.

Ab und zu bin ich bei jungen Soldaten im Ausbildungszentrum. Da merkt man ganz deutlich, wer schon Nazi ist, schon vorher war. Die Mehrheit erkennt aber das Banale und kann daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Sie ahnen, dass sie selbst einmal ganz banal handeln, töten könnten.

Na ja, ein schwieriges Thema.

Morphin

 

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