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Kurt, der Schweinehirte

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02.01.2015
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Kurt, der Schweinehirte

Als mein Großvater noch lebte, pflegte er gerne Geschichten zu erzählen. Er bestand darauf, dass alles, was er mir sagte, der Wahrheit entsprach. Später, - ich arbeitete schon in einer großen Firma und war imstande, die Dinge objektiv zu hinterfragen - versuchte er mich immer noch davon überzeugen.
Ich weiß genau, wie er in seinem Schaukelstuhl saß, den er mit einem Schaffell belegt hatte für die Gemütlichkeit, durch das Fenster in den Garten sah, in dem die Vögel zwitscherten, und seinen Tee schlürfte. Er machte dabei die Lippen spitzt, setzte sie vorsichtig an den Rand der Tasse. Einmal hatte ich gesehen, wie mein Großvater meine Oma küsste. Damals hatte sein Mund genau dieselbe Form.
Am Küssen und an Frauen war mir zurzeit nicht besonders gelegen. Meine Anja und ich, wir hatten das, was man als klassische Beziehungskrise bezeichnen könnte. Entweder es würde mit uns weitergehen, oder eben nicht. Ich war mir eigentlich sicher, dass es keinen Sinn mehr hatte, an dieser Liebe festzuhalten. Mein Großvater allerdings war anderer Meinung.
„Ihr jungen Leute könnt doch nicht alles wegwerfen, was euch nicht mehr gefällt.“
„Opa, ich werfe Anja nicht weg.“
„Tust du doch.“
„Tu ich nicht!“
„Doch. Da legt euch das Schicksal mal einen Stein vor die Füße und was macht ihr? Gebt dem anderen die Schuld dafür anstatt zusammen zu halten und gemeinsam drüber zu springen!“
„Anja hat auch ein Wörtchen mitzureden …“, versuchte ich ihm klar zu machen.
„Genau das ist es! Ihr redet nicht miteinander, sondern gegeneinander. Junge, glaubst du, deine Großmutter und ich hätten es immer leicht gehabt? Ach ich weiß noch, damals …“
Ich ahnte, dass sich eine seiner Geschichten anbahnen würde. Und auch, wenn ich wenig Zeit hatte, weil ein bevorstehendes Meeting an meinem Rücken kratzte, wollte ich ihm die Freude machen und ein wenig zuhören.
„Was war damals los?“

„Junge“, fing er an und setzte seine Lippen an die Tasse. „Junge, du weißt gar nicht, was deine Großmutter und ich alles durchgestanden haben.“
Sein Blick bekam diese blasse Nuance, mit der er durch die Zeit hindurch zu sehen schien.
„Vor langer Zeit, in einer Stadt mit vielen Fachwerkhäusern, in einer dieser kleinen Gassen mit Kopfsteinpflaster, unter einem Torbogen, da machte ein Schweinehirt namens Kurt eine kurze Rast. Die Schweine, fett genährt, grunzend und quiekend, drängten sich dicht um den Hirten, wühlten mit ihren Schnauzen in der Gosse und kratzten sich an den Pfosten der Häuser.
In einem dieser Häuser befand sich eine Kneipe. Eine „Schenke“, wie man damals noch sagte. Darin saßen viele Menschen und Kurt, der zwar schon müde war von seinem langen Weg, stellte sich ans Fenster und lauschte.
Er hörte vielerlei Dinge, aber einen rechten Reim drauf machen konnte er sich nicht.
„Dieses verfluchte Weib! Wo ist es nur? Ich will es wiederhaben, sie soll meine Wäsche waschen!“
„Seit Tagen schon esse ich immer nur Brot. Brot, Brot, Brot. Ich wünschte, es gäbe mal etwas anderes, aber meine Elise ist fort!“
„So ergeht es Dir doch noch nicht so schlimm wie mir“, sprach da eine andere Stimme. „Sowohl die Wäsche als auch das Essen … alles Einerlei! Es wird nichts mehr bestellt. Als ob bei den Bauern die Felder brach lägen!“
Kurt kratzte sich am Kopf, prüfte seine Manteltasche und fand, wonach er suchte. Einen goldenen Taler, mit dem er sich gewiss das ein oder andere Bier genehmigen durfte.

So ließ er die Schweine Schweine sein, um im Gebäude selbst mehr zu hören von diesen merkwürdigen Gegebenheiten.
„Grüß Gott!“, sprach er zu dem Wirt, der missmutig dreischaute.
„Ein Fremdling hier bei uns in der Stadt?“, fragte der Wirt und machte sich am Zapfhahn zu schaffen.
„Auf der Durchreise“, sagte Kurt und legte seinen goldenen Taler auf den Tresen.
Der Wirt nickte bloß. „Ein kurzes Päuslein, ja, das ist recht.“
„Gewiss“, sagte Kurt und blickte in der Kneipe umher.
Da saßen viele Männer doch keine einzige Frau, die mit roten Nasen und speihfeuchten Mündern ihre Geschichten zum Besten gaben.
Kurt nahm sein Bier, nachdem es gezapft worden war, und setzte sich an den nächstbesten Tisch.
„Ach, die Marie, die war eine Göttergattin …“, hörte Kurt noch die letzten Worte eines Gesprächs, das dann, sobald er Platz genommen hatte, sogleich verstummte.
„Ich bin Kurt, ein Schweinehirt“, sagte Kurt, als alle Augen auf ihn gerichtet waren.
„Ein Schweinehirt!“, brüllten die Männer und schlugen sich auf die Knie. „Der hat uns gerade noch gefehlt!“
Das Bier schwappte aus den Krügen, die sie Kurt hinhielten, um ordentlich mit ihm anzustoßen.
„So bringst du auch Schweine?“, wollte der Eine mit dem Schnurrbart, in dem noch ein Rest des Schaumes hing, wissen.
„Na klar“, sagte Kurt und nickte gen Fenster. „Sie sind dort draußen und tun sich an all dem Abfall gütlich.“
„So so“, sagte der Schnäuzige. „Wisst, früher war das hier nicht so. Da hat meine Mathilde immer noch den Schrubber geschwungen.“
„Und wo ist sie jetzt?“, fragte Kurt.
„Sie sind alle verschwunden!“, rief der große, Dicke am Ende der Tafel.
„Als wären sie in Luft aufgelöst, man glaubt es kaum!“
„Wer ist verschwunden?“, fragte Kurt, „Eure Frauen?“
„Ja!“, rief der Dicke, „Unsere Frauen und Töchter, Großmütter und Enkelinnen, und alles, was es an weiblichen Wesen in dieser Stadt einmal gab.“
„Warum?“, fragte Kurt, doch seine Frage ging unter im Stöhnen und Klagen der trunkenen Männer.
Und dann hörte er Erzählungen, die die Kraft des Weibes priesen, vielerlei Dinge, die es einem angenehm erscheinen ließ, dieses Leben und noch vieles mehr, das Kurts Ohren erröten ließ.

„Fakt ist“, schloss der Schnäuzige, „Wir haben seit Tagen nichts mehr zu fressen bekommen, und würden uns über das ein oder andere Schwein sehr freuen. Denn wenn wir auch Männer sind: Grillen können wir!“
Und es war ein Heidi-Heida in der Schenke.

Doch Kurt, dem die Ohren rot geworden waren, stieg nun auch das dunkle Bier in den Schädel. Und als er hörte, dass den Schweinen etwas zuleide getan werden sollte, da erhob er sich und sprach:
„Niemals!“
Und als die Männer lachten und ihn einen Narren schalten, als sie versuchten, sich hinaus zu begeben und eines der fetten Schweine zu fangen, da stellte sich Kurt ihnen entgegen und hinderte sie daran, zu tun, was sie tun wollten.
Die Männer fragten sich, was ihr neuer Freund im Schilde führte, dass er sich so merkwürdig verhielt, hatte er doch sonst jeden Prost und jeden Stoß freudig erwidert. So fragten sie ihn und Kurt schien fast unter den Tisch zu sinken, sagte dann aber mit leiser Stimme zwischen den Zähnen hindurch:

„Eines Tages kam eine Frau zu mir, die mich bat, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Da verwandelte ich sie in ein Schwein. Und nun. Wenn ihr eure Frauen wiederhaben wollt, dann kommt und streichelt sie.“

Die Männer, blass wie sie waren, taten, wie ihnen geheißen. Und ein jeder erhielt seine Frau zurück, die schimpften und zeterten, aber doch war es eine Freude für jeden, der dieses Spektakel gesehen hätte.“

Großvater schlürfte zufrieden am Tee.
„Das war es?“, fragte ich.
„Das war es“, sagte Großvater.
„Also meinst du, Anja sollte sich in ein Schwein verwandeln und alles würde wieder gut?“
„Nun ja …“, sagte Großvater. „Vielleicht so, vielleicht auch anders. Eine Eidechse ist auch ein interessantes Tier.“

Ich schüttelte den Kopf, erhob mich und ging zur Tür. Ich sah den alten Mann noch einmal aus dem Augenwinkel, als ich ihm die Hand zum Abschied hob.
Seither habe ich ihn nicht noch einmal besucht. Ich glaube, er ist senil geworden.
Anja und ich …
Ach, das ist eine andere Geschichte.

 

Hallo Runa Phaino,

am Anfang Deiner Geschichte ist mir ein Fehlerchen aufgefallen.

Er machte dabei die Lippen spitzt
. Das letzte t ist zu streichen.
Die Idee der Geschichte gefällt mir, aber das Ende ist mir zu abrupt. Es sieht ja so aus dass der Enkel die Geschichte nicht verstanden hat und deshalb seinen Opa nicht mehr besucht - der ja, wie Du am Anfang erwähnst, inzwischen verstorben ist. Es sieht so aus, dass der Enkel sich verweigert und man kann wohl davo ausgehen, dass seine Beziehung nicht mehr lange halten wird. Das ist schon unbefriedigend, zumal auch das Märchen eine eher schwa che Lösung hat:
„Eines Tages kam eine Frau zu mir, die mich bat, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Da verwandelte ich sie in ein Schwein. Und nun. Wenn ihr eure Frauen wiederhaben wollt, dann kommt und streichelt sie.“

Die Männer, blass wie sie waren, taten, wie ihnen geheißen. Und ein jeder erhielt seine Frau zurück, die schimpften und zeterten, aber doch war es eine Freude für jeden, der dieses Spektakel gesehen hätte.“

Was für ein Leiden hatte denn die Frau befallen? Die Lieblsogkeit ihres Ehemannes? Das sollte näher ausgeführt wrden.
Ein wenig streichel reicht zur Rückverwandlung? Keine Reue? Keine Einsicht? Das ist doch zu simpel.
Und tatsächlich: Die Frauen schimpften und zeterten. Über die Behandlung der Ehemänner vor der Verwandlung? Oder über ihr Leben als Schweine? Oder über das Verhalten der Ehemänner nach der Rückverwandlung?
Gewiss, die Männer hatten begonnen, zu erkennen, was sie an ihren Frauen hatten, aber diese Einsicht sollte tiefer gehen. Wie es der Großvater zu Beginn ganz richtig ausführt. M itein ander reden und nicht gegeneinander. Dieses Rezept könntest Du als Mittel zur Rückverwandlung einsetzen.

Viele Grüße

Jobär

 

Hallo Runa,

mir geht es wie Jobär. Die Idee deiner Geschichte finde ich spannend. Aber die Auflösung ist unbefriedigend. Das passt irgendwie auch nicht zusammen. Dass der Hirte sich so wundert über das Gerede der Männer. Denn ich erkläre mir das Leid, von dem er die Frauen erlöst hat, damit, dass sie genug von der Unterdrückung zuhause hatten. Als Schwein ist das Leben mit Sicherheit einfacher.
Auch ist mir das Gewicht auf dem Wort Schweinehirt zu mächtig. Letztlich ist er ja viel mehr, anschinend sogar eine Zauberer. Also rund finde ich es nicht.
Die Rahmenhandlung ... Weiß gar nicht, ob es die braucht. Also den Bezug sehe ich da nicht.
Ich denke, hier muss noch ein Weilchen gefeilt werden, um aus der netten Idee eine in sich stimmige Geschichte zu basteln.

grüßlichst
weltenläufer

 


“We make her paint her face and dance
If she won't be a slave, we say that she don't love us
If she's real, we say she's trying to be a man
While puttin' her down, we pretend that she's above us

You know, woman is the nigger of the world, yeah

Woman is the slave to the slave”​


Was zitiert der da den ollen Lennon, magstu Dich fragen,

liebe Runa,
aber Dein zwoter Name erzeugt bei dieser Geschichte einen gewaltigen Sprung und ich glaube den Antipoden des erzählenden Großvaters zu Erkennen: Es wäre der (Groß?-)Vater der europäischen Literatur mit dem 10. Gesang der Odyssee, den Du, wäre es ein Hemd, auf links gedreht hättest.
Kann jetzt keiner so schnell was mit anfangen, bin ich mir sicher. Es ist die Geschichte, da die Irrfahrt auf der Insel der Kirke/Circe, der geheimen Verführerin – daher kommt das Verb „bezirzen“ – landet und viel von Schwanzwedeln erzählt wird, dass die Göttin, eben Kirke, die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt. So wie sich Kirke der Gewalt der Herren entledigt, so befreit der Hirte die Frauen aus der Sklaverei der Herrschaften, die sich gerne bedienen und verwöhnen lassen (denn – um nur ein Beispiel zu nennen, der „Schnäuzige“ könnte sich ja selber kümmern).

Wenn Du nun den Namen des Hirten bewusst eingesetzt hast, wär's fast genial, ansonsten wohl eher zufällig: Kurt ist eine Verkürzung des Namens Konrad.

Im ahd. kuoni können wir noch die Adjektive kühn und mutig erkennen und erst recht in der zwoten Silbe rat den Rat und die Hilfe: Kurt ist die kühne Hilfe der Frauen gegen ihre Herren.

Sollte der Großvater ein Gefährte des Odysseus gewesen sein? Oder doch immerhin ein Emanzipator? Unter den Voraussetzungen kann die Rahmenhandlung – dass es Probleme zwischen dem Erzähler und seiner Braut gebe – gar nicht entbehrlich sein. Aber bis zum Homer ist noch ein weiter Weg …

dehalb erst noch’n bissken Trivialerem:

Hier wäre der Schluss im Konjunktiv ehrlicher, statt

Er bestand darauf, dass alles, was er mir sagte, der Wahrheit entsprach.
besser
, der Wahrheit entspr[e]che.
M. E. hätte ich aber Zweifel an der Aussage, dass gar Konjunktiv irrealis angesgt wäre: bespräche“

Hier ist der Infinitiv zwofach zu korrigieren

- versuchte er mich immer noch[,] davon [zu] überzeugen.
Gebt dem anderen die Schuld dafür[,] anstatt zusammen zu halten und gemeinsam drüber zu springen!“

Eine „Schenke“, wie man damals noch sagte.
Die Erzählung des Großvaters beginnt und endet mit den üblichen „ … “, dass sich innerhalb der Erzählung einfache ‚ … ’ Gänsefüßchen empfehlen.
Hier ist ein Buchstabe verschollen. Ich hab mal ein n aus meinem Repertoire eingesetzt
dem Wirt, der missmutig drei[n]schaute.
Und noch’n Komma, aber auch die Frage, was „speihfeucht“ sei?
Da saßen viele Männer[,] doch keine einzige Frau, die mit roten Nasen und speihfeuchten Mündern ihre Geschichten zum Besten gaben.

Gruß

Friedel

 

Hallo zusammen!

Tut mir leid, dass ich jetzt erst dazu komme, einen Kommentar zu verfassen. Ist gerade viel los. Ich hab mir auf jeden Fall alles aufmerksam durchgelesen, möchte euch danken und finde, dass ihr recht habt, ibs. damit, dass die Geschichte halt noch nicht "rund" ist.
War auch ehrlich gesagt mal so ein "Schnellschuss", weil ich die Idee witzig fand und mal gucken wollte, wie die Idee ankommt.

Ich mach mir auf jeden Fall weiter Gedanken und werd die Geschichte bestimmt auch noch mal überarbeiten. Kommt Rat, kommt Zeit!

Vielen Dank für eure Gedanken!


Runa

 

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