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Die letzte Reise
"Nein, ich lasse mich nicht umstimmen. Es ist entschieden." Müde legte Ella den Hörer auf. Sie war es leid, weiter darüber zu diskutieren. Ihre Tochter hatte sie angefleht, es sich nochmals zu überlegen.
"Mama, wir lieben Dich doch und wir helfen Dir. Du kannst nicht einfach gehen. Denk doch an Sophie, Deine Enkelin."
Seit ihr der Hausarzt vor drei Jahren die Diagnose Lungenkrebs mitgeteilt hatte, war für Ella eine Welt zusammengebrochen. Sie, die früher immer für andere sorgte, war nun selber auf Hilfe angewiesen. Nach der Operation und zwei Chemotherapien hoffte sie, die Krankheit besiegt zu haben.
Aber nun hatte sich der Krebs vor einem halben Jahr zurückgemeldet, mit Metastasen in anderen Organen.
Die körperliche Kraft hatte stark nachgelassen und ohne Sauerstoff war das Atmen mühsam. Aus Angst einmal ersticken zu müssen, hatte sie sich bei einer Sterbehilfeorganisation angemeldet. Morgen würde sie ihre letzte Reise antreten.
Sie wusste, dass ihre Tochter mit diesem Schritt nicht einverstanden war.
"Mama", hatte sie gesagt, "wenn Du Dein Leben selber beendest, geht etwas Wichtiges verloren. Es ist wie bei einer Stickerei, auf der einen Seite laufen die Fäden wirr durcheinander. Drehst Du die Stickerei um, kommt ein schönes Bild zum Vorschein. Wenn Du durch Selbsttötung Dein Leben beendest, bleibt das Bild unvollendet."
Ella hatte sich nie viel aus Kirche und Glauben gemacht. Für sie war es einfach wichtig, dass jetzt alles zu einem Ende kam.
Sie schaute sich im Wohnzimmer um. Den Flügel hatte sie Sophie, ihrer Enkelin, versprochen. Sie war eine gute Klavierspielerin und würde es weit bringen. Das Talent hatte sie von ihrem Grossvater. Sie hätte schon gerne noch erlebt, Sophie am Flügel in einem grossen Konzertsaal spielen zu hören. Aber es war besser so. Sie wollte niemandem zur Last fallen.
Ihr Blick wanderte weiter zu einem Bild, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Es war eine Landschaft von Gustav Klimt. Sie hatte das Bild geliebt. Nun sollte es ihre Tochter bekommen.
Ihr Leben war nicht leicht gewesen. Als Arthur, ihr Mann, bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, stand sie mit der kleinen Tochter allein da. Sie nahm ihren alten Beruf wieder auf und arbeitete für ein Modegeschäft als Änderungs-Schneiderin. Die Arbeiten konnte sie zu Hause erledigen. So musste sie Julia, ihr kleines Mädchen, nicht weggeben.
Früher war sie kein Kind von Traurigkeit gewesen. Mit ihrem Mann besuchte sie Theater und Konzerte und traf sich mit Freunden. All das hörte mit einem Schlag auf, als ihr Mann starb. Dafür fehlte die Zeit und das Geld. Doch war sie immer stolz darauf gewesen, dass sie für ihre kleine Familie selber sorgen konnte und von niemandem abhängig war. Aber das war lange her.
Vor ihr lag die letzte Nacht.
Ella knipste die Nachttischlampe aus und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Plötzlich erinnerte sie sich an ihre Mutter. Als sie klein war, kam Mutter abends an ihr Bett, sprach ein kurzes Gebet, deckte sie zu und gab ihr einen Kuss. Da fühlte sie sich immer so beschützt und geborgen. Ob sie die Worte noch zusammenbrachte? Laut sprach sie:
"Müde bin ich, geh zur Ruh, mache meine Augen zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.
Hab ich Unrecht heut getan, sieh es lieber Gott nicht an. Deine Gnad und Jesu Blut machen allen Schaden gut.
Alle, die mir sind verwandt, Gott lass ruh'n in deiner Hand. Alle Menschen gross und klein sollen dir befohlen sein.
Kranke Menschen heile du, nasse Augen trockne du. Nimm uns endlich allzumal auf in deinen Himmelssaal."
Ella staunte. Nach so vielen Jahren konnte sie den Text ohne Mühe abrufen. Aber etwas fehlte, das Gefühl von damals war nicht mehr da
.
Sie schlief in dieser Nacht unruhig. Ob es am Vollmond lag? Vor ihr sah sie im Dämmerlicht eine endlose Ebene. Kein Baum, kein Strauch, keine Blume war zu sehen. Alles kahl und leer. Sie glaubte eine Stimme zu hören:
"Ella, warum bist du hier. Ich habe dich nicht gerufen."
"Ich wollte niemandem zur Last fallen; aber wer bist du und wo bin ich?"
"Schau dich um, Ella, was siehst du?
"Ich sehe nichts."
"Sieh genauer hin."
"Das ist ja schrecklich," rief Ella. "Ich sehe lebende und sich unruhig bewegende Totengerippe. Was tun sie hier?"
"Sie haben das Leben abgelehnt und sind ungerufen gekommen", antwortete die Stimme. "Jetzt suchen sie verzweifelt das, was sie verloren haben.
Geh zurück, Ella, geh zurück, geh zurück"
Schweissgebadet wachte Ella mitten in der Nacht auf. Ihr Herz klopfte wild. Der Atem ging mühsam. Sie versuchte ruhig zu atmen und sich klar zu machen, wo sie war. Gott sei Dank, sie lag hier in ihrem Bett.
Tief im Innern wusste sie, was ihr der Traum sagen wollte. Aber alles sträubte sich dagegen. Pflegebedürftig und von anderen abhängig zu sein, war das Schlimmste, das sie sich vorstellen konnte. Auch hatte sie Angst vor Schmerzen. Sie war schon immer ein Angsthase gewesen, wenn es darum ging Schmerzen auszuhalten. Vor allem aber fürchtete sie sich davor, andern und sich selbst eine Last zu sein...
Aufgewühlt und völlig verzweifelt rief sie:
"Ich war mir doch so sicher. Was soll ich nur tun?"
Die Stille im Zimmer bedrückte sie.
Plötzlich erinnerte sie sich an einen Satz, den sie früher einmal bei einem Fernsehgespräch über das Altwerden gehört hatte. Er stammte von einem Mann, der an Parkinson litt und im Rollstuhl sass:
"Das Leiden annehmen und sich ganz und gar Gott überlassen, sei die wichtigste Aufgabe des Alters."
Damals war Ella beeindruckt, glaubte jedoch nicht, selber einmal in eine solche Lage zu kommen.
Als die Pflegerin am Morgen vorbeikam, um Ella beim Aufstehen, Waschen und Ankleiden zu helfen, musste sie als erstes einen Termin absagen. Die letzte Reise wurde aufgeschoben.