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Hassliebe
Prasseln. Lautes Prasseln der herabfallenden Regentropfen, die unbarmherzig auf die Straßen einschlugen. Dieses beruhigende Geräusch, wenn der Himmel weinte. Sie liebte es.
Jeden einzelnen Tropfen genoss sie. Sie verliehen ihr ein Gefühl von Melancholie.
Die hellen Scheinwerfer eines Autos erschienen. Es rauschte an ihr vorbei, doch sie nahm es kaum wahr.
Ihr leerer, nachdenklicher Blick war schon seit gefühlten Stunden auf das Plakat gerichtet.
Es wölbte sich im Regen, die ersten Ecken begannen bereits abzublättern von der dicken Pappe.
Sie beneidete die Frau. So glücklich, unbeschwert. Die Reklame ließ sie alles um sich herum vergessen.
Unwillkürlich dachte sie daran, wie unglücklich sie war. Wie verloren, und einsam.
Eingesperrt. Das traf es wirklich gut. Ja, sie war eingesperrt.
Ein Teil von ihr wünschte sich, diesen Körper einfach zu verlassen. Aus ihrer Hülle auszutreten und über all das hier hinweg zu schweben. Die Welt, wie sie ist, aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Manchmal fragte sie sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie einige dieser Fehler nicht begangen hätte. Wenn sie damals nicht von zu Hause abgehauen wäre. Wenn sie sich einen vernünftigen Job gesucht hätte, etwas aus ihren Leben gemacht hätte. Etwas, was sie glücklich gemacht hätte.
Sie erinnerte sich an die vergangenen Wochen, als ihr Vater sich bei ihr meldete.
Völlig unerwartet.
Und ihr sagte, er wäre stolz auf sie.
Worauf? Worauf war er stolz? Nichts an ihr war bewundernswert. Im Gegenteil, sie war verächtlich.
Plötzlich verwandelte sich ihr Neid in Wut.
Die Frau verspottete sie.
Am liebsten würde sie die gesamte Pappe mit der Reklame von der Laterne reißen. Und schreien.
Wie oft hatte sie doch dieses Gefühl sich zu befreien. Alles aus sich rauszuschreien.
Doch sie tat es nicht. Aus irgendeinem gottverdammten Grund tat sie es nicht.
Eine junge Frau riss sie aus ihren Gedanken.
,Wann ist es denn soweit?` fragte sie freundlich.
Einen Moment schwieg sie. Ihr Blick huschte zu der Fragenden.
Hübsch war sie. Ein freundliches Lächeln.
,Ein Monat noch` sagte sie leise, kaum hörbar.
,Wie schön, herzlichen Glückwunsch`
Ihr Blick heftete sich wieder auf die Reklame.
Und sie dachte nur daran, wie glücklich diese Frau sein musste. Die Hände auf den kugelrunden Bauch, den Mund zu einem Lächeln verzogen. Diese Reklame, diese Reklame zeigte eine lebensfrohe Frau.
Bedrückung, das empfand sie jetzt.
Ihre Hände legten sich automatisch auf ihren Bauch, ihren ebenso runden Bauch.
Vier Wochen.
Dann wäre alles vorbei.
Wie es danach weitergehen würde, das wusste sie nicht.
Wie ihr Leben sich entwickeln würde.
Ihr Gewissen. Ihr Herz. Was geschah damit?
Würde sie sich schuldig fühlen?
Nein.
Sie wusste, sie würde es nie lieben können.
Dieses Kind.
Wird es die gleichen Augen wie sein Vater haben?
Sie würde nicht in diese Augen schauen können.
Nicht ohne diese unglaubliche Unglücklichkeit, diesen Hass.
Es wären seine Augen.
Die Augen des Mannes, der ihr das angetan hatte.
Der Mann, der ihr Leben zerstörte.
Vergewaltiger.