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Anatomiekunde

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05.11.2005
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Anatomiekunde

Auf dem Fahrrad manövrieren sie geschickt durch die Ruinen. Wehende Haare, Sonne auf den sommersprossigen Wangen, der Wind bauscht die schmutzigen Hemden auf. „Wer am schnellsten und ohne Rempler bei der Finte ist gewinnt!“ ruft Willi seinem kleinen Bruder Micha und dessen Freund Hans zu. „Einverstanden. Eins, zwei, los!“, erwidert Hans keck. Das Tempo wird angezogen, Füße treten in rasendem Tempo in die Pedale.
Die laue Luft treibt die Menschen aus den Häusern, betriebsame Eile auf dem Trottoir. Einige Frauen widersetzen sich, die vollen Einkaufstüten zu ihren Füßen auf dem Boden abgestellt stehen sie in einem Grüppchen zusammen und schwatzen. Verbündet in der Fremde.
Breslau heißt nicht mehr Breslau und ein Zurück zum Vertrauten gibt es nicht.
Willi ist schnell, Hans folgt in einigen Metern Abstand. Micha will nicht den Anschluss verlieren, er kennt die Gegend, aber die Straße ist voll und er hat kaum mehr Kontrolle über sein Rad, so schnell drehen sich die Reifen. Plötzlich steht ihm ein Mann im Weg.
„Achtung!“, ruft Micha und reißt den Lenker herum, streift ihn nur im Vorbeifahren. „Bist du denn bescheuert? Keine Augen im Kopf? Pass doch auf!“, ruft der Mann Micha hinterher und macht drohende Gebärden mit seiner Holzkrücke.
Willi hat gebremst und die Szene beobachtet: „Pass doch selber auf, man. Reflexe an der Front gelassen oder was?“ Lachend fahren sie weiter, dem Fluchen und Kopfschütteln davon.
Als sie die Finte erreichen ist die Wette vergessen. Einsam steht der alte Bauwagen zwischen den Kastanien, auf dem Löwensee spiegelt sich träge die Nachmittagssonne.
Willi steht gelassen vor dem Bauwagen, dessen weißer Anstrich von Wind und Regen Risse bekommen hat. Seine blonden Haare sind seitlich gescheitelt und aus blauen Augen beobachtet er Micha und Hans, die am Ufer des Löwensees stehen und Steinchen springen lassen.
„Micha, Hans, los, kommt her! Das Treffen beginnt.“ Micha dreht sich um, sieht seinen großen Bruder an und läuft sofort los. Hans folgt in einigen Metern Abstand. Schließlich betritt er den Bauwagen und wirft einen letzten sehnsüchtigen Blick hinaus auf den sonnenbeschienen See, bevor der vertraute Geruch von muffigen Polstern und staubiger Luft ihn umfängt. Micha und Willi sitzen schon auf einer der zwei Bänke, auf dem kleinen Tisch vor ihnen liegt ein kleiner Spatz, dessen Flügel mit einem Nylonfaden zusammen gebunden sind. Es ist dunkel, nur durch zwei kleine Fenster kommt etwas Tageslicht herein. Hans setzt sich den beiden gegenüber auf die andere Bank. Willi sieht ihn argwöhnisch an: „Hast du dich entschlossen, uns Gesellschaft zu leisten? Wie schön. Dann können wir ja beginnen. Micha, schreibst du mit?“ Hastig klappt der kleine Bruder das Logbuch auf und spitzt den Bleistift. „Jawohl.“ „Sehr gut. Du wirst protokollieren. Hiermit erkläre ich das fünfte Treffen des Vogelschutzbundes für eröffnet. Datum: 04. Juli 1954. Vorsitzender: Willi Gerschröder. Anwesende: Micha Gerschröder, Hans Friese. Ort: Alte Finte. Thema: Anatomiekunde.“
Hans Augen weiten sich, als er den Spatz betrachtet. Sein Köpfchen ist abgeknickt und die blanken Augen starren panisch. „Wo habt ihr den her?“
„Ist bei uns gegen die Scheibe geflogen“, flüstert Micha.
„Ich habe ihn gefunden“, sagt Willi laut. „Was? Noch nie einen Spatz gesehen?“ Hans schluckt.
Willi legt ein Messer und einige Nägel auf den Tisch: „Micha, du wirst ihn aufschneiden. Letzte Woche haben wir Fahrradproben gemacht, damit wir einen verletzten Vogel im Notfall retten können.“ Unauffällig berührt Micha seinen Ellbogen, der immer noch schmerzt. „Heute lernen wir über ihre Anatomie, damit wir ihm auch richtig helfen können.“
Michas Hand zittert, als er das Messer ansetzt. Fest zusammen gepresste Lippen. Schon berührt die Messerspitze die Brustfedern des kleinen Vogels. Willis Augen sind starr auf das Gesicht des kleinen Bruders gerichtet, dessen Blick ist gesenkt. Eine Träne rollt salzig über verschwitzte Haut, verfängt sich in den bebenden Lippen. Schwer ist das Messer in seiner Hand, unendlich schwer.
„Ich mach’s“, ruft Hans.
Willi steht langsam auf, er ist so groß, dass sein Kopf die Decke berührt. Er grinst die beiden an, greift nach einem der Nägel auf dem Tisch und sticht damit dem Spatzen zweimal in die Brust.
„Da ist das Herz.“

 

Hallo Mücke,

Liebe Geschichte gut erzählt. Der kleine Willi hat ja echt Führungsqualität :) es ist wie ein Rückblick in die gute alte Zeit. Kein Telefon, kein Facebook oder WhatsApp und kein Wikipedia, also muss man miteinander reden. Wie schön währe es doch, wenn wir sie zurückdrehen könnten, die Zeit.

Letzte Woche haben wir Fahrradproben gemacht, damit wir einen verletzten Vogel im Notfall retten können.“

Bei dem Satz steh ich auf der Leitung. Was haben Fahrradproben mit Vogelretten zu tun???

Es war ein Genuss deine Geschichte zu lesen.

LG
BRM

 

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