Mitglied
- Beitritt
- 12.01.2015
- Beiträge
- 19
Sprechstunde beim Richter
„Schuld war König Friedrich Wilhelm I. Er mochte die Juristen nicht, weil allein der Wille des Königs Recht und Gesetz sein sollte. In seinem Herrschaftsbereich führte er daher im Jahr 1726 ein einheitliches Erkennungszeichen ein, mit ironischem Unterton: ‚Wir ordnen und befehlen hiermit allen Ernstes, dass die Advocati wollene schwarze Mäntel, welche bis unter das Knie gehen, unserer Verordnung gemäß zu tragen haben, damit man diese Spitzbuben schon von weitem erkennt.‘ Seitdem müssen Richter und Rechtsanwälte Roben tragen.“
Ulrich Rosemann übersetzte. Gelächter im schmucklosen und an diesem Montagvormittag zweckentfremdeten Gerichtssaal, der einem Schulklassenzimmer glich.
„Und wie viele Urteile sind bei Ihnen gekauft“, fragte einer aus der Gruppe in fast perfektem Deutsch, Rosemann hatte seinen Namen vergessen, einer der Rechtsanwälte.
Richter Zintl schmunzelte, fasste sich ans Kinn, suchte Augenkontakt zu seinen Referendaren, schien sich zu amüsieren, seht her, ist lustig der Job, immer was zu lachen.
Der junge Mann lachte nicht. Er wiederholte seine Frage, klar verständlich, diesmal lauter.
„Der meint das ernst“, flüsterte ein Referendar zum anderen, was in dem hellhörigen Saal jeder mitbekam, der Deutsch verstand.
Rosemann errötete. Wie peinlich. Der blamierte die ganze Gruppe. Das kam dabei raus. Da saßen sie, Ankläger und Rechtsanwälte, Justizbeamte und Richter, die meisten unter vierzig, ein paar ältere, sie repräsentierten immerhin das Justizwesen seiner Wahlheimat, ein Journalist einer Berliner Tageszeitung war im Raum, und nun das. Sie kannten es nicht anders. Das war normal bei ihnen. Urteile vor allem der ersten Instanz wurden gekauft, der Gang zur Sprechstunde beim Richter war so selbstverständlich wie der morgendliche zum Bäcker. Manchmal riefen die Richter auch von sich aus an, nannten den Preis. Völlig alltäglich. Da musste man davon ausgehen, dass es woanders auch so war. Armer Tor.
Der schien noch immer auf eine Antwort zu warten, doch Richter Zintl lächelte nur leicht irritiert in den Saal und wandte sich dem nächsten Kapitel seines Vortrags über die deutsche Gerichtsbarkeit zu.
Ulrich Rosemann war einer von drei Partnern einer mittelgroßen Rechtsanwaltsgesellschaft und zugleich Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Juristenvereinigung. In dieser Funktion hatte er eine Fortbildungsreise für eine Juristendelegation aus Dnjepropetrowsk in sein Heimatland organisiert, aus dem er im ersten Jahr des neuen Jahrtausends ausgewandert war, um sein Glück im Osten Europas zu suchen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die Länder jenseits der Oder zum neuen Wilden Westen geworden, Sehnsuchtsorte für Abenteurer und Aussteiger, ein Paradies für moderne Goldsucher, doch Rosemann war eigentlich eher ein Ängstlicher. Er hatte in der DDR Russisch gelernt und nach der Wende in Dresden Jura studiert. Dann war er mit einsamem Herzen nach Kiew aufgebrochen, eigentlich nur, um einige Mädchen zu treffen, die ihm eine Partneragentur vermittelt hatte. Elf hatte er getroffen, Nummer zwölf ließ sich nicht mehr abschütteln und kam mit nach Dresden, wo sie nicht heimisch wurde und obendrein frustriert war, weil sie die Menschen nicht verstand, trotz einiger Jahre Deutschkurs, die sie zur Erhöhung der Vermittlungsfähigkeit belegte, aber Sächsisch war irgendwie was anderes. Und auch er hatte irgendwann genug, nachdem er von einem Anwaltspraktikum zum nächsten gehetzt war, ohne dass ihn jemand übernommen hätte, seine Noten waren mäßig. Rosemann wollte dann in die Ukraine, aber der menschliche Willen bildete sich manchmal auf Umwegen. Anastasia wollte, ihr Mann sollte wollen und ging solange in sich, bis er wollen konnte. Trotz seiner Misserfolge auf dem Arbeitsmarkt hing er an seiner Heimat, den Spaziergängen an der Elbe und durch die historischen Gassen. Er musste sich neue Glaubenssätze ins Gehirn impfen, sie einüben wie ein Depressiver, der durch ständiges Wiederholen positiver Sätze langsam seine negativen Einstellungen überwand. Steter Tropfen höhlte den Stein, die Gedanken des Menschen waren manipulierbar. Abenteuer! Weite! Kleinkarierte Heimat! Er schaffte es, sich die richtigen Einstellungen zu verpassen. Er wollte dann.
Alles war eine Frage des Marktwerts. Wer den höheren hatte, befahl. Gewann. Anastasia war eine Schönheit der obersten Kategorie. Und Herr Rosemann im Vergleich? Je besser die Kleidung, desto mehr kaschierte sie männliche Hässlichkeit. Aber wenn er nach Feierabend in die Hauskleidung schlüpfte, zeigte sich seine wahre natürliche Ausstattung erbarmungslos, der schlaffe Oberkörper, die unreine Gesichtshaut mit den vielen roten Pünktchen und den Falten eines Sechzigjährigen, die schildkrötenhaften Züge mit den schmalen Augen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schwerfällig sein Gang, die Aussprache und seine ganze Art, was viele Menschen, die mit ihm zu tun hatten, zu der irrigen Annahme verleitete, dass hinter der müden Fassade ein ebensolcher Geist steckte. Das Gegenteil war richtig, Rosemann analysierte messerscharf. Er wusste seinen Marktwert einzuschätzen. Intelligenz, Hochschulabschluss, sein freundlicher Charakter, das alles und noch einiges mehr sprach für ihn, aber er wusste auch, wenn eine Kröte einen Morpho wollte, dann verlangte das eine gewisse Kompromissfähigkeit.
Und auch wenn Frauen noch so sehr auf Gleichberechtigung pochten, die entscheidenden marktwertbildenden Faktoren waren noch immer allzu ungerecht verteilt und leider allzu oberflächlich. An erster Stelle kam das Aussehen, danach lange Zeit nichts, mit großem Abstand folgten die anderen Kriterien, etwa der Charakter, ob sie schon Kinder am Hals hatte, Interessen oder auch gesundheitliche Aspekte.
Er hatte also entschieden, mit ihr nach Kiew zu gehen, ein paar Aufbaustudiengänge durchzuziehen, sich selbständig zu machen und eine Kanzlei nebst Familie aufzubauen. Mittlerweile unterhielt er neben einer vierjährigen Tochter namens Tanja und seiner Anastasia zwei weitere Büros in Lemberg und Odessa und beschäftigte zusammen mit zwei Ukrainern, die gleichberechtigte Seniorpartner waren, fast einhundert Juristen und ungefähr genauso viele weitere Angestellte.
Rosemann blickte auf die Uhr, während der Richter seinen Monolog fortsetzte, hier und da unterbrochen von kleinen Anekdoten, die witzig sein sollten, bei denen aber nur die kriecherischen Referendare schmunzelten. Rosemann musste den ganzen Mist auch noch übersetzen, die meisten verstanden kaum ein Wort Deutsch. In einer Stunde mussten sie weiter. Neben einem touristischen Programm standen an den Folgetagen Besuche bei der Rechtsanwaltskammer, einigen Bundesministerien und anderen Behörden auf dem Programm. Man wollte sich austauschen, fortbilden und persönliche Netzwerke ausweiten. Doch gleich der erste Besuch am Amtsgericht in Berlin-Lichtenberg hatte durch eine einzige Frage bereits sämtliche Vorurteile über die ukrainische Justiz bestätigt.