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Copywrite Resurrectio

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01.01.2010
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Resurrectio

»- Schmerzen?«
Robert wendet den Kopf vom Fenster ab. »Bitte was?«
»Ich habe gefragt, ob Sie Schmerzen haben.« Pater Laske lächelt, vielleicht, um Trost zu spenden. Er hat die Leselampe über sich eingeschaltet, im grellen Schein wirkt seine Haut blasser. »Sie haben gestöhnt.«
Robert blickt wieder aus dem Fenster. Regentropfen verwässern die Sicht, er sieht Lichter in der Dunkelheit, die Umrisse einer Tragfläche.
»Nein«, antwortet er. »Momentan nicht. Aber ich fliege nicht gern.« Er weiß, es wird sein letzter Flug sein.
»Ich kenne das«, sagt der Pater. »Ich hatte früher schreckliche Flugangst. Heute macht es mir nichts mehr aus.«
»Ach ja? Was haben Sie dagegen getan?«
»Ich habe Bücher über das Fliegen gelesen. Gelernt, wie es funktioniert. Warum das Flugzeug oben bleibt. Ich meine - ist das nicht erstaunlich? Beinahe hundert Tonnen Gewicht, zwanzigtausend Liter Kerosin in den Tanks, und bei dreihundert Stundenkilometer hebt es ab. Als ich verstanden habe, warum das so ist, hatte ich keine Angst mehr.«
Robert sagt nichts. Die Wissenschaft hat in den vergangenen zwanzig Jahren Entwicklungen hervorgebracht, gegen die ein Flugzeug wirkt wie das Spielzeug eines Vierjährigen.
»Was ist? Haben Sie gedacht, ich hätte meine Angst durch Beten wegbekommen?«
»Nein. Nein, das nicht.« Schon bei der ersten Begegnung mit Pater Laske hat er bemerkt, dass sich der schmächtige Mann für den Fortschritt interessiert. Mehr, als Robert einem Mann der Kirche zugetraut hätte. »Ich dachte nur -« Robert beendet den Satz nicht. Das passiert ihm oft in diesen Tagen.
»Herr Bachmann, machen Sie sich keine Sorgen.« Pater Laske greift nach seiner Hand; sie fühlt sich kalt an. »Es ist normal, dass Sie Angst haben. Aber Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Das Purgatorium ist kein Ort, den man fürchten muss. Im Gegenteil, es garantiert, dass Ihre Seele in den Himmel aufgenommen und nicht verstoßen wird. Dass Sie auferstehen.«
»Ja, ja.« Robert ist genervt. Er hat bereits unterschrieben, Laske kann sich die Werbung sparen. Robert hat keine Angst vor dem Purgatorium, der Hölle oder irgendeinem anderen Ort im Jenseits. Ihn plagen irdische Sorgen: Schmerzen, die Aussicht auf das Hospiz. Das Sterben. Es wird kontrolliert ablaufen, aber macht es das einfacher? Er denkt an die letzten Momente; an den Arzt mit der Spritze, an seine beiden Töchter am Bett. Wird er ihre Hände halten, ihnen in die Augen sehen? Was spürt er, wenn die Spritze angesetzt wird? Wie soll er das Ausmaß dieses Augenblicks ertragen?
Der Schemen des Flughafengebäudes zieht an ihm vorbei. Er versucht, die leuchtenden Buchstaben zu entziffern; sie verschwimmen im Regen. Er hat das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Ich freue mich darauf, meine Töchter wieder zu treffen«, sagt er, weil ihm nichts anderes einfällt. Und weil es wahr ist.
»Das glaube ich«, sagt der Pater. »Ich freue mich darauf, Ihre ältere Tochter kennenzulernen. Agnes - nicht wahr?«
Robert nickt. Auf dem Monitor über ihm laufen Sicherheitsanweisungen.
Bei den bisherigen Treffen mit Laske war nur Sophie dabei. Agnes meidet alles, was auch nur entfernt mit der Kirche zu tun hat.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, wiederholt Laske. »Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.«
Robert denkt an Agnes. Ob er sie nochmal sieht? Bestimmt taucht sie nicht im Sankt-Katharinen-Hospiz auf, und er wird ohne sie sterben. Er fühlt sich verlassen, und während das Flugzeug in Richtung Startbahn rollt, kommt es ihm vor, als sei er der einzige Mensch darin.

»Was sehen Sie hier?« Laske hielt ihm seine ausgestreckte Hand entgegen.
Robert überlegte, ob der Pater ihn veralbern wollte. Er blickte zu Sophie, doch die starrte auf Laskes Hand.
»Nun - Ihre Hand?«
Der Pater lächelte geduldig, als habe er mit einer falschen Antwort gerechnet und sei nicht enttäuscht worden. »Und warum sehen Sie meine Hand?«
Robert rutschte auf seinem Stuhl herum. Er hatte sich das Gespräch in Laskes Büro anders vorgestellt und mit Fragen zu seinem Glauben gerechnet. Hatte überlegt, ob der Pater seine Überzeugungen und Motive prüfen wolle.
»Also - wie meinen Sie, warum ich sie sehe? Weil sie da ist?«
Laske zog die Hand zurück. »Im Grunde sehen unsere Augen nichts. Sie lassen lediglich reflektierte Lichtwellen einfallen, die auf der Netzhaut in Impulse umgewandelt werden. Das eigentliche Bild entsteht im Gehirn.«
Der Pater machte eine Pause. Er wirkte winzig hinter seinem Schreibtisch. Über ihm hing ein Gemälde, das drei Frauen zeigte, die in einem Flammenmeer standen und flehentlich die Hände zum Gebet erhoben.
»Worauf ich hinauswill - die Lichtwellen erzeugen elektrische Impulse im Gehirn, die dazu führen, dass Sie eine Hand wahrnehmen. Sagen wir, es gäbe ein unsichtbares Feld zwischen meiner Hand und Ihren Augen, welches die Lichtwellen verändert - Sie würden etwas ganz anderes sehen. Andere Formen, andere Farben. Aber es wäre immer noch meine Hand, die ich Ihnen entgegenhalte, oder?«
Robert sagte nichts.
»Und das führt uns zur Frage, was wir eigentlich unter der Wirklichkeit verstehen. Ist sie die Summe unserer Wahrnehmungen? Falls ja, ist sie manipulierbar. Und falls nein - falls die Wirklichkeit unsere Wahrnehmung übersteigt - wie können wir sie dann erfahren? Und das führt uns in ein Dilemma.«
Robert verstand nun, worauf der Pater hinauswollte. Es waren Fragen, die mit Beginn des Simulierten Bewusstseins vor zwanzig Jahren aufgekommen waren. Wie jede tiefgreifende technologische Veränderung in der Geschichte der Menschheit hatte sie nicht nur zu wissenschaftlichen, sondern auch zu gesellschaftlichen und philosophischen Fragen geführt.
»Alles, was wir sehen, was wir fühlen, was wir denken - kurz, all das, was wir sind - lässt sich auf Impulse in unserem Gehirn zurückführen. Das Simulierte Bewusstsein macht sich genau diesen Umstand zunutze. Es erzeugt künstlich hervorgerufene Impulse, die zu beliebigen Wahrnehmungen führen können. Aber macht sie das weniger real?«
Robert hatte sich nie mit derartigen Fragestellungen beschäftigt. Er fand sie mühsam. Überhaupt hatte er sich nie für das Simulierte Bewusstsein interessiert, bis er vor drei Monaten die Diagnose bekommen hatte. Dann war ihm auch das Angebot der katholischen Kirche wieder eingefallen.
»Ist das für die Kirche nicht eine ziemlich rationale Sicht auf die Dinge?«, fragte Sophie. »Wir sind nicht mehr als irgendwelche Impulse, die wir noch nicht einmal selbstständig steuern können?«
Pater Laske hob die Hände. »Moment, nicht so voreilig. Das ist die Sicht der Wissenschaft. Selbstverständlich geht die Kirche weiter, denn wie wir wissen, besitzt der Mensch eine Seele. Und genau um sie geht es, wenn wir vom Purgatorium sprechen.«
Er lächelte. Robert griff nach Sophies Hand. Er war froh, dass sie ihn begleitete. Agnes hatte er sich nicht zu fragen getraut.
»Pater, wie wird das genau ablaufen?«
»Was wissen Sie über das Purgatorium?«
»Es ist das Fegefeuer. Seelen landen dort, bevor sie in den Himmel kommen.«
»Nun, wir nennen es nicht Fegefeuer. Das klingt so altertümlich. Es ist ein Zustand der Läuterung. Die Seele muss von ihren Sünden gereinigt werden, bevor sie in Gottes Gnaden auferstehen kann. Wir machen uns dabei die Technik des Simulierten Bewusstseins zunutze. Heutzutage kann man beinahe alles simulieren. Ferne Länder, vergangene Zeiten. Sie kennen die Angebote. Es gibt Menschen, die den Großteil ihrer Zeit in einer Simulierten Welt verbringen. Und wir simulieren das Purgatorium. Wie Sie wissen, ist es seit dem Dritten Vatikanischen Konzil unser achtes Sakrament. Es garantiert, dass Ihre Seele noch vor dem Tod geläutert wird und so direkt in den Himmel fährt.« Pater Laske beugte sich vor. »Mit anderen Worten, wir verhindern, dass sie in die Hölle kommt. Vielleicht würde sie das auch ohne unser Angebot nicht. Aber durch unser Angebot bekommen Sie Gewissheit.«
Fegefeuer, Hölle. Eigentlich glaubte Robert nicht an diese Dinge, aber was, wenn er sich täuschte? Schließlich hatte er auch mal geglaubt, gemeinsam mit seiner Frau alt zu werden.
Nun war seine Frau seit zwei Jahren tot, und er selbst würde das sechzigste Lebensjahr ebenfalls nicht erreichen.
»Wie sieht das aus?«, fragte Sophie. »Was simulieren Sie genau?«
»Das sagen wir nicht. Wir können es nicht sagen, selbst wenn wir es wollten. Das Purgatorium ist die einzige Simulierte Welt, aus der noch keiner zurückgekehrt ist. Wir lassen das nicht zu. Es gibt nur einen Ausweg, und der führt nicht zurück in das irdische Leben.«
Die Stille im Raum war bedrückend. Robert blätterte durch den Prospekt auf seinem Schoß. Im Grunde stand da dasselbe, unterlegt mit Bildern aus dem Hospiz. Ein blühender Garten. Geräumige Zimmer mit frisch bezogenen weißen Betten. Selbst das Jenseits - der »Himmel« - war abgebildet - ein gelber, scheinender Kreis vor blauem Hintergrund; wie die Sonne an einem Tag im Frühling.
»Aber man wird Schmerzen fühlen?«
»Nun, wir sind da ganz offen. Natürlich wird der Aufenthalt mit Qualen verbunden sein. Aber auch mit Hoffnung. Die Armen Seelen spüren die Liebe Gottes, empfinden sich ihrer aber nicht als würdig.«
Robert zeigte auf das Bild über Laske. »Ich finde nicht, dass die Frauen hoffnungsvoll aussehen.«
Er wusste, das Simulierte Bewusstsein konnte jede Empfindung vortäuschen, jede Art von Schmerz beliebig lange ausdehnen. Der Körper blieb dabei unversehrt unter Narkose.
Pater Laske schien seine Gedanken zu lesen. »Herr Bachmann, machen Sie sich keine Sorgen. Bedenken Sie, das Purgatorium ist der einzige Weg in die Auferstehung. Ganz gleich, was Sie dort wahrnehmen - die Alternative ist tausendmal schrecklicher.«

Das Flugzeug startet. Einhundert Tonnen erheben sich in die Dunkelheit, den Regenwolken entgegen. Roberts Hände sind feucht.
Im Geiste geht er den Ablauf der nächsten Wochen durch. Den Aufenthalt im Hospiz. Sie werden den Tag seines Ablebens frühzeitig festlegen. Dann die Spritze, die ihn narkotisieren und auf seinen ersten Aufenthalt in einer Simulierten Welt vorbereiten wird.
»Sie haben noch nie jemanden zurückgeholt?«, fragt er.
»Zurückgeholt?«
»Ja. Sie haben gesagt, Sie wissen nicht, wie das Purgatorium aussieht, weil Sie noch nie jemanden aus der Narkose zurückgeholt haben.«
Laske nickt. »Ja. Die Entscheidung ist endgültig. Aber selbst wenn -« Er zögert.
»Selbst wenn?«
»Selbst wenn wir jemanden zurückholen, wir würden kein genaues Bild bekommen. Das Purgatorium ist keine exakt definierte Umgebung. Die Leiden der Armen Seelen sind verschieden und hängen mit ihren Sünden zusammen. Das bilden wir nach. Wir scannen die Erinnerungen nach Sünden, und basierend darauf erzeugen wir unterschiedliche Wahrnehmungen. Es ist kompliziert.«
Das Flugzeug ruckelt; Robert spürt seinen Herzschlag im Augenlid.
»Letzten Endes«, fährt Pater Laske fort, »geben wir äußere Wahrnehmungen vor. Das Purgatorium unterscheidet sich da nicht von einer anderen Simulierten Welt. Sie können immer noch eigenständig denken, haben weiterhin einen freien Willen. Es bleibt Ihnen überlassen, wie Sie sich verhalten.«
Robert wünscht sich, Laske würde weitersprechen; das Gespräch lenkt ihn ab.
Drei Tage Narkose. Drei Tage Läuterung. Dann würde man ihn für immer einschlafen lassen.
»Warum drei Tage?«
»Bitte?«
»Warum ist man ausgerechnet drei Tage im Purgatorium?«
»Weil dies die Zeit ist, die Jesus im Totenreich verbracht hat, bevor er auferstanden ist.«
Robert kennt die Begründung, ebenso die Antwort der Kritiker. Papst Pius XIII. legte im Dritten Vatikanischen Konzil diese Zeit als ausreichend fest, um von den Sünden geläutert zu werden. Die Kritiker sagen, bei einer Dauer länger als drei Tage würde sich keiner dem Sakrament unterziehen. Die empfundene Zeit in einer Simulierten Welt entspricht immer der Echtzeit.
Er spürt weitere Erschütterungen, sieht unten kein Licht mehr. Sie müssen in die Wolken geflogen sein.
Robert fragt sich, ob er die richtige Wahl getroffen hat. Hör auf dein Herz, hat Sophie gesagt. Im Gegensatz zu Agnes, die etwas ganz anderes sagte.

»Wie kannst du nur so bescheuert sein?«
Sie griff nach dem Prospekt. »Das Purgatorium? Das kann unmöglich dein Ernst sein.«
Robert saß mit Sophie beim Essen, als Agnes hinzukam. Er hatte sie für heute Abend nicht erwartet.
»Ich spiele mit dem Gedanken«, antwortete er. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Wie kannst du überhaupt nur darüber nachdenken? Du hast nie was mit der Kirche zu tun gehabt, und jetzt willst du - jetzt willst du dich darauf einlassen?« Ihre Wangen waren gerötet, wie jedes Mal, wenn sie sich über etwas aufregte. Was oft vorkam. Sie war schon immer impulsiver gewesen als Sophie.
Robert holte Luft, überlegte, wie er es erklären sollte. Die Diagnose, keine sechs Monate mehr zu leben, zwang einen, die Dinge zu überdenken. Die Perspektive verschob sich. Aber Agnes würde das nicht verstehen. Sie war nicht nur Atheistin, sondern gleichzeitig eine der größten Kritikerinnen des Simulierten Bewusstseins. Darüber führte sie einen Blog im Internet, den jede Woche tausende von Menschen lasen.
»Ich weiß es noch nicht«, wiederholte er. »Wir waren dort nur zu einem ersten Beratungsgespräch, und jetzt -«
»Wir?« Agnes blickte zu Sophie. »Du hast ihn begleitet?«
Sophie nickte. »Herrje, Agnes. Es ist seine Entscheidung. Außerdem schadet es ja nicht, sich zu informieren, oder?«
Agnes setzte sich, stützte die Handflächen auf den Tisch. Diese Pose hatte sie schon als Kind eingenommen, wenn sie sich über eine Ungerechtigkeit in der Schule aufgeregt hatte. »Jetzt hör mal zu. Du darfst dich da auf keinen Fall drauf einlassen.«
Robert hatte keine Lust auf diese Diskussion. Er hatte an diesem Abend keine Schmerzen, wollte die Zeit nicht mit Streitereien verschwenden. »Agnes, lass doch -«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, was sie mit dir machen, das ist der Punkt. Du bist unter Narkose und ihnen völlig ausgeliefert. Du überlässt ihnen dein Bewusstsein, die totale Kontrolle. Ausgerechnet du. Du setzt dich noch nicht einmal in ein Flugzeug, weil du das nicht selber kontrollieren kannst.«
Robert nickte. »Ich weiß. Trotzdem -« Er beendete den Satz nicht.
»Es sind nur drei Tage«, sagte Sophie.
»Drei Tage? Weißt du, wie lang drei Tage sei können? Das Simulierte Bewusstsein wurde von der CIA als Folterinstrument eingesetzt. Sie haben die Opfer nur wenige Stunden betäubt, und die sind immerhin wieder aufgeweckt worden. Aber weißt du, in welchem Zustand die waren?«
»Das sind doch alles nur Spekulationen, die nie -«
Agnes hob die Hand. »Denk doch, was du willst. Es gibt glaubhafte Berichte. Aus dem Fegefeuer ist noch keiner zurückgekehrt. Die Kirche gibt keine Auskunft darüber, was sie dir vorspielen. Sie können alles Mögliche mit dir machen.« Agnes lehnte sich zurück. »Wenn Mama noch hier wäre, würde sie dir das ausreden. Sie würde das niemals zulassen.«
Robert bemerkte Tränen in ihren Augen. Das überraschte ihn. Selbst bei der Beerdigung ihrer Mutter vor zwei Jahren hatte Agnes kaum geweint. »Lass deine Mutter aus dem Spiel«, sagte er. »Sie hat damit nichts zu tun.«
»Ach ja?« Agnes blickte ihn an. »Bist du dir da so sicher?«
Niemand antwortete. Agnes stand auf. Sie nahm den Prospekt in die Hand. »Das Purgatorium - Ihr Weg in den Himmel«, las sie. »Wisst ihr, warum sie es Purgatorium nennen? Weil das harmloser klingt als Fegefeuer. Das ist doch alles Marketing. In Wirklichkeit ist es eine Qual. Sie lassen dich leiden, grundlos, und dann töten sie dich.«
Agnes zerknüllte den Prospekt.
»Moderner Ablasshandel ist das, nichts anderes. Das machen sie seit zweitausend Jahren. Verhalte dich so und so, und du kommst in den Himmel. Bezahle das und das, und du kommst in den Himmel. Jetzt sind sie eben im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen und sagen, geh in unser Fegefeuer, und du kommst in den Himmel. Es ist immer dasselbe. Blickt ihr das nicht? Das sind dieselben Versprechungen.«
Robert wünschte sich, ihm wäre dieses Gespräch erspart geblieben. Er hatte keine Argumente, es war sinnlos. Was hätte er sagen sollen? Dass es wichtig war, etwas versprochen zu bekommen? Dass ihm die Kirche das gab, was zuletzt so sehr fehlte: Hoffnung? Wie hätte Agnes das verstehen können?
Sie blickte ihn lange an. »Sie versprechen viel«, sagte sie. »Aber sie lügen.«

Sie sind jetzt über den Wolken. Robert sieht das Leuchten der Sterne, kalt und einsam; damit kommt es seiner Gefühlslage nahe.
»Ich war noch nie in einer Simulierten Welt«, sagt er. Er verspürt das Bedürfnis, zu reden. »Wie ist das mit Ihnen?«
Laske sieht in an. »Ja. Hin und wieder. Es entspannt mich.«
»Und wohin reisen Sie dann?«
»Meist auf den Bauernhof, in dem ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht habe. Ich bin dann wieder ein kleiner Junge und helfe meinem Großvater bei der Arbeit. Es sind schöne Erinnerungen.«
Der Flug wird ruhiger. Mit einem Klingen erlöschen die Anschnallzeichen. Für einen Augenblick ist Robert beunruhigt, aber das Gefühl verschwindet. Er schiebt es auf die Flugangst.
»Mit welchen Sünden werde ich im Purgatorium konfrontiert? Mit allen?«, fragt er.
»Nun, zumindest mit den Großen. Neid. Habgier. Den Verstoß gegen eines der Zehn Gebote.«
»Auch wenn ich sie vor dem Tod beichte?«
Der Pater nickt. »Ja. Nur die Heiligen entgehen dem Fegefeuer. Alle anderen sind nicht frei von ihren Sündenstrafen. Daher müssen sie vor der Auferstehung die Reinigung durchlaufen.«
»Aber -« Wieder hat Robert das Gefühl, etwas bemerken zu müssen. Es entgleitet ihm. »Wie groß werden die Schmerzen sein?«
Pater Laske lächelt, vielleicht, um ihn aufzumuntern. »Keine Sorge, wir schicken Sie nicht drei Tage in ein Feuer. Das wäre durchaus möglich. Drei Tage heiße Glut auf dem Körper zu spüren entspricht vielleicht einer alten Vorstellung des Fegefeuers, aber es hat nichts mit dem Prozess der Läuterung zu tun. Geläutert werden kann nur, wer seine Sünden bereut. Und deshalb müssen wir die Armen Seelen damit konfrontieren.«
Jetzt endlich erkennt Robert, was nicht stimmt. Sein Magen zieht sich zusammen.
»Ein paar Dinge wissen wir dann doch über unsere Simulation«, fährt Laske fort. »Wir wissen, dass die Armen Seelen einen Ort wahrnehmen, den sie zu Lebzeiten gemieden haben. Jemand, der Angst vor der Dunkelheit hatte, findet sich vielleicht in einer Höhle wieder. Jemand, der unter Klaustrophobie litt, sieht sich plötzlich in einer engen Kiste. Vielleicht einem Sarg. Und dann beginnt die Konfrontation mit den Sünden. Wissen Sie, was Thomas von Aquin über das Fegefeuer sagte?«
Robert schüttelt den Kopf. Er hat den Eindruck, draußen weniger Sterne zu sehen. Als würden sie verlöschen.
»Er sagte: Die geringste Strafe im Fegefeuer ist schlimmer als das größte Leid auf Erden.«
Robert spürt, wie sich die Haut an seinem Nacken spannt. »Ich dachte, Sie nennen es nicht Fegefeuer.«
»Normalerweise nicht.«
»Und warum nennen Sie es jetzt so?«
Der Pater beantwortet die Frage nicht. »Eine weitere Eigenschaft einer Simulierten Welt ist, dass man sich direkt darin befindet. Wie in einem Traum. Man hat keine Ahnung, wie man hineingelangte, keine Erinnerung an den Moment davor. Aber man akzeptiert das, egal, wie außergewöhnlich die Szene ist. Selbst wenn man plötzlich an einem Ort ist, den man normalerweise meidet.«
»Das würde mir nicht passieren«, sagt Robert.
Laskes Mund verzieht sich. Es ist kein Lächeln mehr; er will keinen Trost spenden, will nicht mehr aufmuntern. »Ach wirklich?«, sagt er.

»Ich weiß, warum du das tust«, sagte Agnes.
Es war tief in der Nacht, die alte Standuhr hatte bereits zwei Uhr geschlagen. Er saß auf dem Sofa, vor sich ein Glas Wein. Seit Stunden hatte er es nicht angerührt.
»Du wolltest immer alles kontrollieren. Erinnerst du dich, wie du mich und Sophie zur Schule gefahren hast? Und wie du mir verboten hast, Skateboard zu fahren, als ich zwölf war? Weil es zu gefährlich ist, hast du gesagt. Und als ich sechzehn war, wolltest du ständig wissen, wo ich bin. Und um spätestens zehn bist du dann dahin gefahren und hast mich abgeholt. Weißt du das noch?«
Robert sagte nichts. Er lauschte in seinen Körper, fragte sich, ob er in dieser Stille den Krebs hören könnte. Wie es wohl klang, dieses Geräusch, wenn der eigene Körper zerfressen wird?
»Ständig wolltest du alles wissen. Hast unsere Ferien akribisch geplant. Weißt du das noch? Alles Monate im Voraus, die Ausflüge, in welche Restaurants wir gehen, wann wir wo sind. Du hast nichts dem Zufall überlassen.«
Robert nickte langsam. Er erinnerte sich. Und auch daran, wie oft er mit Martina deswegen gestritten hatte.
»Aber du hast nie kapiert, dass es umsonst war. Dein ganzer Kontrollwahn. Hat alles nix gebracht. Schlimme Dinge können auch vor zehn Uhr abends passieren, und ein Urlaub kann auch scheiße werden, wenn man jeden Abend reservierte Plätze hat. In den meisten Fällen ist Kontrolle nichts als eine Illusion. Wenn du denkst, deine Tochter vor Verletzungen oder ungewollten Schwangerschaften schützen zu können, ist das eine Illusion. Beides wird nämlich passieren, wenn sie nicht vorsichtig ist. Da kannst du gar nichts machen.«
Robert vermied es, Agnes anzusehen. Einen Moment glaubte er, die Vibration ihrer Stimme würde seinen Wein zum Kräuseln bringen.
»Aber jetzt - ausgerechnet jetzt, wenn es an der Zeit wäre, die Kontrolle zu behalten - weil es diesmal eben keine Illusion ist - ausgerechnet jetzt willst du sie abgeben. Wenn du die aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen willst, geh doch um alles in der Welt zu einem privaten Anbieter statt zur Kirche. Die machen es, ohne dich drei Tage in die Hölle zu schicken.«
»Es ist nicht die Hölle«, sagte er, so, als wüsste er Bescheid. So, als würde es eine Rolle spielen.
»Ausgerechnet jetzt willst du die Kontrolle abgeben. Warum? Weil du denkst, du hast sie schon verloren?«
Robert schwieg. Bis auf das Ticken der Standuhr war nichts zu hören.
Kontrolle, dachte er. Was wusste sie schon? Er erinnerte sich an den grauen Wintermorgen vor zwei Jahren, als er Martina erzählt hatte, er müsse den ganzen Samstag arbeiten. Produktivsetzung, hatte er gesagt. Die brauchen mich dort. Das war nicht einmal gelogen, nur ging alles schneller, und als er am frühen Nachmittag fertig war, schrieb er die Nachricht: Hab bis heute Abend Zeit. Ich komm noch vorbei. Rasier dir schon mal die Möse, damit ich sie besser lecken kann. Corinna mochte es derb, und Robert genoss das. Er merkte eine halbe Sekunde zu spät, dass die Nachricht an Martina ging. Wenn es irgendwann eine Hölle in seinem Leben gegeben hatte, dann war es dieser Augenblick: Als er merkte, dass er etwas unwiderruflich zerstört hatte; als der Moment so frisch war, dass er meinte, er müsse nur die Hand ausstrecken und könne ihn ungeschehen machen.
Als die Häkchen von Grau auf Blau wechselten, wusste er, dass sie die Nachricht gelesen hatte. Er rief sie an, sie klickte ihn weg. Er rief nochmal an und hörte die Mailbox. Er setzte sich in sein Auto, es schneite, er fuhr nach Hause. Er überlegte sich Ausreden: Die Kollegen haben sich einen Scherz erlaubt. Oder: Das ist ein Virus, der macht das von alleine. Oder: Ich wollte mal schauen, ob du auf sowas stehst. Aber im Grunde wusste er, dass nichts mehr sein würde wie zuvor. Wie bei einer zerbrochenen Vase - man konnte sie vielleicht kleben, aber den Riss würde man ewig sehen.
Als er nach Hause kam, nass vom Schnee und dampfend vom warmen Auto, war sie weg. Er rief sie wieder und wieder an. Siebzehn Mal, bis die Polizei am Spätnachmittag klingelte, und erst drei Stunden später sah er sie im Krankenhaus wieder, als er sie identifizieren musste.
Hatte sie auf das Handy geschaut und war deshalb von der Straße abgekommen?
War sie so wütend gewesen, dass sie die Kontrolle verloren hatte?
Oder -
Aber nein. Das durfte er nicht denken.
»Dein eigenes Sterben«, sagte Agnes, »das kannst du heute kontrollieren. Glücklicherweise. Wenn du es in die Hand der Kirche legst, geht das nicht mehr.«
Erst jetzt blickte er sie an.
»Tu es nicht. Bitte.«
Sie dachte immer noch, er hätte eine Wahl.

Er hätte es nach dem Erlöschen der Anschnallzeichen merken müssen. Sein letzter Flug ist lange her, aber er erinnert sich, dass danach immer zahlreiche Gurte klackern, weil die Leute denken, man müsse sich abschnallen.
Diesmal nicht.
Von welchem Flughafen sind sie abgeflogen? Da war das Gebäude, ein grauer Betonblock in der Dunkelheit; die Schrift war verschwommen.
Warum um alles in der Welt sitzen sie in diesem Flugzeug?
Er dreht sich zum Pater, doch der ist verschwunden. Robert sitzt alleine, die Plätze neben ihm und in der Reihe gegenüber sind frei. Draußen ist es stockdunkel.
Vielleicht ein Traum. Vielleicht wache ich jeden Moment auf.
Wieder hat er das Bild von dem Arzt im Kopf, der mit einer Spritze vor ihm steht. Seine Töchter, die am Bett sitzen. Was ist das? Eine Erinnerung?
In diesem Augenblick gehen die Lichter im Flugzeug aus. Die Notbeleuchtung auf dem Boden taucht die Kabine in ein schummriges Licht.
Robert schiebt sich über die freien Plätze auf den Gang. Das Geräusch der Turbinen lässt den Boden vibrieren. Als er sich aufrichtet, sieht er, dass alle Sitze frei sind. Er ist allein in diesem Flugzeug. Aber irgendjemand muss es fliegen.
Langsam schreitet er durch den Kabinengang nach vorne in Richtung Cockpit. Es ruckelt nicht mehr. Er streicht mit den Händen über die Sitze, spürt das kalte Leder. Die Luft ist trocken, und Robert ist erstaunt, wie realistisch die künstliche Wahrnehmung in seinem Gehirn wirkt.
Es ist so real wie alles, was du jemals erlebt hast. Es sind nur elektrische Impulse zwischen Neuronen. Egal, ob du sterile Luft einatmest oder deine tote Frau identifizierst. Nur Neuronen, Impulse und Synapsen. Mehr ist es nicht, mehr war es nie, und mehr wird es nie sein.
Er schiebt den Vorhang zur Seite, der die Economy- von der ersten Klasse trennt. Der Gang ist schwach beleuchtet, und an dessen Ende kann er die geschlossene Tür des Cockpits sehen. Er geht darauf zu.
Immerhin war Agnes dabei. Sie ist ins Hospiz gekommen und hat meine Hand gehalten, als ich betäubt wurde. Wenigstens das ist ein Trost. Es sei denn, auch diese Wahrnehmung ist künstlich. Wer weiß das schon? Vielleicht ist seine Frau nie gestorben, vielleicht ist auch diese Erinnerung in einem Computer entstanden und über Elektroden in sein Gehirn gewandert.
Vielleicht haben seine Frau und seine Töchter nie existiert.
Vielleicht hat er nie existiert.
Wenn wir nur Impulse sind, was bleibt dann, wenn sie erlöschen?
Er steht jetzt vor dem Cockpit. Die Tür ist verschlossen, er klopft dagegen; keiner öffnet. Er klopft lauter. Mein Purgatorium, denkt er. Mein Weg in die Auferstehung.
Als er ein Geräusch hinter sich hört, dreht er sich um.
In der Kabine steht eine Gestalt, schwarz wie ein Schatten. Robert kann ihr Gesicht nicht erkennen, doch er ahnt, wer sie ist.
»Martina«, sagt er.
Sie rührt sich nicht.
»Martina«, wiederholt er. Er geht einen Schritt auf sie zu.
Und dann plötzlich sieht er sie, sieht all die Personen, die mit ihm an Bord dieses Flugzeugs sind: Sie kauern in ihren Sitzen und starren mit ausdruckslosen Gesichtern ins Leere; er kennt kein einziges davon. Die Münder stehen auf, weiße Haut spannt sich über Wangenknochen, und mit Entsetzen erkennt Robert, dass sie alle tot sind.
Er ist in einem Flugzeug voller Leichen.
»Martina?«, fragt er. Seine Stimme zittert. »Bist du es? Bitte, sag doch was. Sag mir, was damals im Winter passiert ist. Erinnerst du dich? Als du meine Nachricht bekommen hast. Sag mir, ob es ein Unfall war. Bitte. Sag mir das.«
Die Toten haben sich bewegt. Jene, die er nicht im Blick hatte, wie früher bei diesem Kinderspiel, als sich die anderen nur bewegen durften, wenn man nicht hinsah. Sie haben ihre Gesichter in seine Richtung gedreht.
Er geht einen Schritt zurück und stößt gegen die Tür des Cockpits.
»Bitte«, flüstert er.
Wieder haben sich die Toten gerührt. Sein Blick wandert hin und her, er sieht keine Bewegung, und doch sind einige aufgestanden. Nur die schwarze Gestalt steht reglos im Gang.
»Bitte nicht.«
Er kann sie nicht alle im Blick behalten. Er sieht nach links, nach rechts, erkennt, wie sie sich nähern.
Da erglimmt ein einzelnes Licht und beleuchtet das Gesicht der Gestalt; es ist das Gesicht seiner Frau, wie sie auf der Bahre im Krankenhaus vor ihm lag. Nur dass jetzt ihre Augen offen stehen.
Die Toten schieben sich weiter in seine Richtung, sie haben auf einmal so viel Platz.
»Nein«, flüstert Robert. »Nein, bleibt weg. Bleibt bitte weg.«
Sein Blick zuckt hin und her; er sieht blasse Gesichter, Leichengewänder; sieht, wie die Toten ihre Hände erhoben haben.
»Bleibt weg«, schreit er. »Es tut mir leid! Es tut mir leid!« Er schreit es immer wieder, doch die Prozession der Toten bewegt sich weiter auf ihn zu.
Zuletzt blickt er in das Gesicht seiner Frau.
»Halte sie zurück«, brüllt er.
Er spürt kalte Finger, die nach ihm greifen, ihn umklammern.
Dann sind sie über ihm.

 

Hallo Schwups,

Endlich habe ich Zeit für einen richtigen Kommentar zu der Geschichte. Mir ist beim Lesen unheimlich viel durch den Kopf gegangen. Das spricht für die Qualität des Textes, aber es macht es auch schwierig, die Gedanken geordnet aufzuschreiben. :)

Ich finde es toll, dass du dich entschieden hast, ein Thema zu bearbeiten, das ich in Purgatorium ausgeblendet habe: Was eigentlich im Fegefeuer passiert. Ich hätte mich zwar auch gerne damit beschäftigt und hatte lange darüber nachgedacht, aber das hätte den Rahmen der Geschichte gesprengt - der Schwerpunkt lag darauf, wie die beiden Töchter mit dem Verlust und der Trauer umgehen, und dieser ganze Komplex von Schuld und Sühne hätte dann gar nicht mehr den angemessenen Raum bekommen können, und sich vielleicht sogar gebissen mit diesem Grundtenor "mein Papa hat das nicht verdient".
Deshalb finde ich es so cool, dass es jetzt deine Geschichte gibt.
Copywrite ist eine großartige Erfindung. :)

Ich lasse jetzt alle anderen Kommentare außer Acht, es ist schon eine Weile her, dass ich die gelesen habe, bestimmt werden sich ein paar Sachen wiederholen. Um alles, was ich schreiben will, einigermaßen zu sortieren, nehme ich am besten ein paar Textstellen als Anknüpfungspunkte, das macht es einfacher.

Und wir simulieren das Purgatorium. Wie Sie wissen, ist es seit dem Dritten Vatikanischen Konzil unser achtes Sakrament. Es garantiert, dass Ihre Seele noch vor dem Tod geläutert wird und so direkt in den Himmel fährt.
Bei dir funktioniert die "technische" Seite ein bisschen anders als in Purgatorium. Die Simulation sorgt für die richtige Umgebung, irgendeine Art von virtueller Welt, aber das Bewusstsein der Menschen, die diese Welt wahrnehmen, befindet sich dabei in ihrem noch lebenden Gehirn unter Narkose, es ist also keine Kopie. Das würde dazu führen, dass jemand, der bei einem Unfall zu Tode kommt, nicht in den "Genuss" dieser kirchlichen Dienstleistungen kommen könnte. Aber ich denke, für deine Geschichte ist es richtig, dass das Fegefeuer so funktioniert. Denn das erzwingt, dass die Leute sich ganz bewusst dafür entscheiden. Das ist nicht einfach etwas, was bei jedem gemacht wird, der zur entsprechenden Konfession gehört, sondern man muss mit der Kirche individuell vereinbaren, dass man das will. Und das passt zu diesem ganzen Kontrollthema natürlich viel besser.

Bedenken Sie, das Purgatorium ist der einzige Weg in die Auferstehung. Ganz gleich, was Sie dort wahrnehmen - die Alternative ist tausendmal schrecklicher.
Das erschien mir widersprüchlich - vorher hat Pater Laske ja gesagt, dass er möglicherweise auch ohne Purgatorium nicht in die Hölle käme, aber auf diese Weise Gewissheit bekommt.
Mit anderen Worten, wir verhindern, dass sie in die Hölle kommt. Vielleicht würde sie das auch ohne unser Angebot nicht. Aber durch unser Angebot bekommen Sie Gewissheit.
Das klingt eher nach einer Versicherungspolice als nach dem "einzigen Weg" :)

Hör auf dein Herz, hat Sophie gesagt. Im Gegensatz zu Agnes, die etwas ganz anderes sagte.

»Wie kannst du nur so bescheuert sein?«

:thumbsup: Die Töchter spielen eine viel kleinere Rolle hier, aber die Charakterisierung ist super getroffen, finde ich.

Du überlässt ihnen dein Bewusstsein, die totale Kontrolle. Ausgerechnet du. Du setzt dich noch nicht einmal in ein Flugzeug, weil du das nicht selber kontrollieren kannst.
Ich finde es sehr gelungen, wie die Angst des Protagonisten, die Kontrolle zu verlieren, in der ganzen Geschichte herausgearbeitet ist, wie sich das durchzieht, ohne dass es gezwungen wirkt. Dass hier das Fliegen zur Sprache kommt, ist ein schönes Beispiel. Die Idee, dass das Purgatorium ein Ort ist, den man zu Lebzeiten gemieden hat - in diesem Fall ein Flugzeug - hat mir sehr gut gefallen.

»Mit welchen Sünden werde ich im Purgatorium konfrontiert? Mit allen?«, fragt er.
»Nun, zumindest mit den Großen. Neid. Habgier. Den Verstoß gegen eines der Zehn Gebote.«
»Auch wenn ich sie vor dem Tod beichte?«
Der Pater nickt. »Ja. Nur die Heiligen entgehen dem Fegefeuer. Alle anderen sind nicht frei von ihren Sündenstrafen. Daher müssen sie vor der Auferstehung die Reinigung durchlaufen.«
Hehe, das kommt mir wie eine Korrektur für meine Geschichte vor. Ich hatte das nicht ordentlich recherchiert, dass die Absolution nach der Beichte nicht vor dem Fegefeuer schützt, wie ich mir das vorgestellt hatte ... Na ja, dann behaupte ich einfach, im Neokatholizismus ist das so, damit die Leute öfter zu Beichte gehen. Solche Sachen ändern sich eh, irgendwann wurde der ganze Limbus für die ungetauften Kinder einfach abgeschafft. :D

Kontrolle, dachte er. Was wusste sie schon? Er erinnerte sich an den grauen Wintermorgen vor zwei Jahren, als er Martina erzählt hatte, er müsse den ganzen Samstag arbeiten. Produktivsetzung, hatte er gesagt. Die brauchen mich dort. Das war nicht einmal gelogen, nur ging alles schneller, und als er am frühen Nachmittag fertig war, schrieb er die Nachricht: Hab bis heute Abend Zeit. Ich komm noch vorbei. Rasier dir schon mal die Möse, damit ich sie besser lecken kann. Corinna mochte es derb, und Robert genoss das. Er merkte eine halbe Sekunde zu spät, dass die Nachricht an Martina ging.
Im Prinzip ist seine schwerste Verfehlung ein Moment, wo er die Kontrolle verliert, und man könnte denken, er gibt die Kontrolle über seinen Tod ab, um mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden. Er hat offenbar das Gefühl, eine Strafe zu verdienen.
Sein "Sündenfall" wiegt hier schwerer als in Purgatorium, das finde ich auch angemessen, weil diese Geschichte sich ja viel mehr um Schuld dreht. Bei mir war es ein "Ausrutscher" - ich wollte ja auch, dass die Leser ganz klar auf der Seite des Vaters sind, und die Einstellung der Töchter teilen, dass er es nicht verdient hat, von der Kirche mit irgendwelchen Strafen gequält zu werden. Allerdings hört man da die Geschichte der Affäre auch nur aus der Perspektive von Agnes, die es von ihrem Vater erfahren hat, weil sie gemerkt hat, dass ihn irgendwas belastet. Dass sie an eine möglichst harmlose, leichter zu vergebende Version glaubt, die sich mit ihrem Bild von ihrem Vater vereinbaren lässt, ist nicht unwahrscheinlich, es muss nicht sein, dass sie die ganze Wahrheit kennt.
Hier weiß keine der Töchter etwas über Corinna - aber das finde ich auch richtig, denn bei dir bekommt die Sache noch eine ganz andere Dimension durch die Möglichkeit, dass er indirekt den Tod seiner Frau verursacht hat. Wenn Agnes das wüsste, würde sie darüber sicher nicht so leicht hinwegkommen wie in Purgatorium.

Es sei denn, auch diese Wahrnehmung ist künstlich. Wer weiß das schon? Vielleicht ist seine Frau nie gestorben, vielleicht ist auch diese Erinnerung in einem Computer entstanden und über Elektroden in sein Gehirn gewandert.
Vielleicht haben seine Frau und seine Töchter nie existiert.
Vielleicht hat er nie existiert.
Wenn wir nur Impulse sind, was bleibt dann, wenn sie erlöschen?
Ist wirklich schwer auszuhalten, das Bewusstsein von Vergänglichkeit. Ich finde es interessant, dass er an keiner Stelle in der Geschichte denkt: Wenn ich das hier hinter mir habe, komme ich in den Himmel und es geht mir für alle Ewigkeit gut. Ich bin nicht sicher, ob er daran glaubt. Sein Motiv, sich ins Purgatorium zu begeben, sind nach meinem Eindruck eindeutig die Schuldgefühle, nicht der Wunsch nach ewigem Leben.

Und dann plötzlich sieht er sie, sieht all die Personen, die mit ihm an Bord dieses Flugzeugs sind: Sie kauern in ihren Sitzen und starren mit ausdruckslosen Gesichtern ins Leere; er kennt kein einziges davon. Die Münder stehen auf, weiße Haut spannt sich über Wangenknochen, und mit Entsetzen erkennt Robert, dass sie alle tot sind.
Er ist in einem Flugzeug voller Leichen.
Der Schluss wurde glaube ich in einigen Kommentaren als Schwachstelle gesehen, mir geht es da ähnlich. Der ist natürlich nicht schlecht, aber im Vergleich zum Rest der Geschichte lässt da die Spannung nach. Vielleicht, weil das ein relativ abgenutztes Bild ist mit den Toten.

Ich habe aber auch keine bessere Idee, wie die Geschichte enden sollte, das ist wahrscheinlich der schwierigste Teil. Vielleicht reicht es, wenn er nur Martina trifft, in einem ansonsten leeren Flugzeug, und der Text an der Stelle endet. Drei Tage mit einer Frau, deren Vertrauen man furchtbar enttäuscht hat und für deren Tod man vielleicht verantwortlich ist, das stelle ich mir definitiv schlimm vor, und zwar schlimm für die Seele, was es ja auch sein soll. Drei Tage mit fremden lebenden Toten ist eher so was wie ein "The Walking Dead" Marathon. :lol:

Ich habe jetzt viele Vergleiche gezogen mit meinem Text, weil ich das total spannend fand. Die Geschichte kann aber absolut für sich allein stehen. Sie ist wirklich sehr beeindruckend und es macht mich froh, dass ich einen kleinen Anteil an ihrer Enstehung hatte. :)

Grüße von Perdita

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Perdita

Erstmal vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, hab mich gefreut, als ich gesehen habe, dass du noch was zu der Geschichte geschrieben hast, wo du doch die Idee dazu geliefert hast :)

Ich finde es toll, dass du dich entschieden hast, ein Thema zu bearbeiten, das ich in Purgatorium ausgeblendet habe: Was eigentlich im Fegefeuer passiert. Ich hätte mich zwar auch gerne damit beschäftigt und hatte lange darüber nachgedacht, aber das hätte den Rahmen der Geschichte gesprengt

Nun ja – der Teil, in dem beschrieben ist, was denn nun wirklich dort passiert, wird ja allgemein als der schwächste Teil betrachtet. Ich denke, das ist auch der Teil, der ziemlich schwierig ist. Wie kann man solche Gefühle, ein solches Grauen in Worte fassen, welche Bilder verwendet man?

Das würde dazu führen, dass jemand, der bei einem Unfall zu Tode kommt, nicht in den "Genuss" dieser kirchlichen Dienstleistungen kommen könnte.

Genau. Aber das gilt ja auch für andere Dinge, die letzte Ölung zum Beispiel kann auch niemand empfangen, der bei einem Unfall stirbt. Im Prinzip ist das „Simulierte Bewusstsein“ ja auch keine Erfindung der Kirche, sondern sie nutzen einfach eine bestehende Technologie – ich glaube, auch das war in deinem Text anders. Das macht die Kirche heute ja teilweise auch schon – der Papst twittert, es gibt virtuelle Beichtstühle und Friedhöfe – also dachte ich mir, können sie auch ein „Simuliertes Bewusststein“ für das Purgatorium nutzen.

Das ist nicht einfach etwas, was bei jedem gemacht wird, der zur entsprechenden Konfession gehört, sondern man muss mit der Kirche individuell vereinbaren, dass man das will. Und das passt zu diesem ganzen Kontrollthema natürlich viel besser.

Ja, sehe ich auch so. Man könnte das jetzt noch weiterspinnen und im Sinne eines Ablasses wirklich jeden Menschen zwingen, sich eines Tages der Prozedur zu unterziehen. Nur hätte das eine noch viel mächtigere Kirche gebraucht, ich wollte sie ungefähr schon da einordnen, wo sie heute steht – sie bietet gewisse Angebote, die man annehmen kann oder auch nicht.

Das erschien mir widersprüchlich - vorher hat Pater Laske ja gesagt, dass er möglicherweise auch ohne Purgatorium nicht in die Hölle käme, aber auf diese Weise Gewissheit bekommt.

Das Purgatorium – allgemein gesehen – ist aber wirklich der einzige Weg. Entweder man durchschreitet das simulierte Purgatorium der Kirche, oder aber das „Echte“ - so oder so, es muss ein Purgatorium durchlaufen werden. Ich glaube als Antwort zu ernst habe ich so etwas geschrieben: Ich denke, es geht der Kirche hier nicht nur ums Geld. Einige glauben auch wirklich das, was sie erzählen. Und Pater Laske ist der Überzeugung, dass nur ein Purgatorium in den Himmel führen kann.

Ich habe mit dem Teil auch eine Weile gerungen – zunächst dachte ich auch, die Kirche verkauft „ihr“ Purgatorium (das simulierte) als einzig Wahres, ohne das es nicht mehr geht. Aber dann dachte ich, würden sie wirklich ihre jahrtausendealte Überzeugung derart leichtfertig über Bord werfen – also könnten sie das „echte“ Purgatorium plötzlich leugnen? Nein, dachte ich dann, daher ist es vollkommen korrekt, wenn du es so siehst:

Das klingt eher nach einer Versicherungspolice als nach dem "einzigen Weg"*

denn so verstehe ich es auch – auf den Punkt gebracht, ist es eine Art Versicherung.

Die Töchter spielen eine viel kleinere Rolle hier, aber die Charakterisierung ist super getroffen, finde ich.

Danke dir :). Der Text profitiert natürlich auch von deiner Vorlage, wo die Töchter eine weit grössere Rolle spielen. Ich denke besonders du als Autorin des Originals hast das natürlich auch immer im Hinterkopf beim Lesen.

Die Idee, dass das Purgatorium ein Ort ist, den man zu Lebzeiten gemieden hat - in diesem Fall ein Flugzeug - hat mir sehr gut gefallen.*

Ich habe früher auch Flugangst gehabt – konnte mich daher gut in Robert einfühlen.

Hehe, das kommt mir wie eine Korrektur für meine Geschichte vor. Ich hatte das nicht ordentlich recherchiert, dass die Absolution nach der Beichte nicht vor dem Fegefeuer schützt, wie ich mir das vorgestellt hatte ... Na ja, dann behaupte ich einfach, im Neokatholizismus ist das so, damit die Leute öfter zu Beichte gehen. Solche Sachen ändern sich eh, irgendwann wurde der ganze Limbus für die ungetauften Kinder einfach abgeschafft.

Stimmt, oder so wie das Zöllibat einfach mal eingeführt wurde – so ein Papst ist eben doch allmächtig :). Ich habe da aber auch nochmal einige Artikel zu dem Thema gelesen. Das Purgatorium ist ja auch im Christentum recht umstritten, eigentlich kommt der Glaube daran nur noch in der katholischen Kirche vor.

Im Prinzip ist seine schwerste Verfehlung ein Moment, wo er die Kontrolle verliert, und man könnte denken, er gibt die Kontrolle über seinen Tod ab, um mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden. Er hat offenbar das Gefühl, eine Strafe zu verdienen.

Ja genau. Das war auch meine Intention: Das Durchlaufen des kirchlichen Purgatoriums ist ja eigentlich die höchste Form der Kontrollabgabe. Du lässt eine andere Institution deine Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen steuern.

Sein "Sündenfall" wiegt hier schwerer als in*Purgatorium, das finde ich auch angemessen, weil diese Geschichte sich ja viel mehr um Schuld dreht. Bei mir war es ein "Ausrutscher" - ich wollte ja auch, dass die Leser ganz klar auf der Seite des Vaters sind, und die Einstellung der Töchter teilen, dass er es nicht verdient hat, von der Kirche mit irgendwelchen Strafen gequält zu werden.

Ich weiss gar nicht mehr, ob ich mich beim Schreiben gefragt habe, auf welcher Seite der Leser steht – aber es stimmt, die Frage der Schuld ist hier zentral. Was die Sache für Robert so leidvoll macht, ist dann auch die Ungewissheit. Wenn er wüsste, dass er schuld ist, könnte er damit vielleicht auch besser umgehen – aber diese Ungewissheit, ist er schuld oder nicht – das zermürbt auf Dauer.

Ich finde es interessant, dass er an keiner Stelle in der Geschichte denkt: Wenn ich das hier hinter mir habe, komme ich in den Himmel und es geht mir für alle Ewigkeit gut. Ich bin nicht sicher, ob er daran glaubt. Sein Motiv, sich ins Purgatorium zu begeben, sind nach meinem Eindruck eindeutig die Schuldgefühle, nicht der Wunsch nach ewigem Leben.

Das ist ein interessantes Detail. Aber ich sehe es wie du. Er will sich reinwaschen, vielleicht ist es auch eine Art der Geisselung. Den Himmel hat er nicht vor Augen, das stimmt.

Vielen Dank Perdita für deinen detaillierten Kommentar und deine Zeit – und natürlich auch für dein Original, ohne das es diese Geschichte nicht gegeben hätte.

Viele Grüsse,
Schwups

 

Hallo Schwups,

das Schöne bei Deinen Geschichten ist ja immer, dass man sich so ganz entspannt zurücklehnen und sich darauf verlassen kann, dass man überhaupt keine Detailkorrekturen oder -änderungsvorschläge machen muss. Keine Fehler, keine holprigen Formlierungen, keine schrägen Bilder. Das kommt dem normalen Lektüremodus außerhalb des Forums sehr nahe.
Mir hat die Geschichte auch sehr gut gefallen, bis auf das Ende natürlich :P Perditas Fegefeuersimulationsidee ist natürlich ein ziemlicher Hauptgewinn an Vorlage, aber auch eine ziemliche Herausforderung, was die Komplexität des Themas betrifft. Und ich finde, dem wirst Du voll gerecht und tust das dramaturgisch auch sehr geschickt.

»Ich habe Bücher über das Fliegen gelesen. Gelernt, wie es funktioniert. Warum das Flugzeug oben bleibt. Ich meine - ist das nicht erstaunlich? Beinahe hundert Tonnen Gewicht, zwanzigtausend Liter Kerosin in den Tanks, und bei dreihundert Stundenkilometer hebt es ab. Als ich verstanden habe, warum das so ist, hatte ich keine Angst mehr.«
Robert sagt nichts. Die Wissenschaft hat in den vergangenen zwanzig Jahren Entwicklungen hervorgebracht, gegen die ein Flugzeug wirkt wie das Spielzeug eines Vierjährigen.
»Was ist? Haben Sie gedacht, ich hätte meine Angst durch Beten wegbekommen?«
Das fand ich zum Beispiel eine ziemlich coole Einführung dieser Technik-Religion-Thematik.

Robert hat keine Angst vor dem Purgatorium, der Hölle oder irgendeinem anderen Ort im Jenseits. Ihn plagen irdische Sorgen: Schmerzen, die Aussicht auf das Hospiz.
Ich denke, wer ans Purgatorium glaubt, hat da wirklich ne Schweineangst vor. Aber vielleicht glaubt er ja auch nicht so ganz daran. Ist ja mehr so auf Nummer sicher.
Fegefeuer, Hölle. Eigentlich glaubte Robert nicht an diese Dinge, aber was, wenn er sich täuschte?
Was vielleicht auch noch ne nette Ergänzung gewesen wäre, ist diese Vorstellung, dass Verwandte, aber auch bezahlte Fürbitter, durch Gebete und Almosen die Zeit ihrer Lieben im Fegefeuer verkürzen können. Das erhöht die Hilflosigkeit ja noch - und die Absurdität des Konzepts - man versucht vorzusorgen, indem man dem Sohn Geld zum Spenden hinterlässt, aber der versäuft alles, während man brutzelt. Na ja, würde die Geschichte wohl überladen. Aber Purgatorium ist cool, schon weil es so fast gar keine biblische Grundlagen dafür gibt. Im Grunde mussten die Einfach erklären, was den zwischen dem individuellen Tod und dem jüngsten Gericht mit den Seelen geschieht, wenn sich das Ende der Welt länger als ursprünglich geglaubt, verzögert.
Pater Laske schien seine Gedanken zu lesen. »Herr Bachmann, machen Sie sich keine Sorgen. Bedenken Sie, das Purgatorium ist der einzige Weg in die Auferstehung. Ganz gleich, was Sie dort wahrnehmen - die Alternative ist tausendmal schrecklicher.«
Also ich bräuchte da einfach noch ein bisschen mehr Info glaub ich.

Es garantiert, dass Ihre Seele noch vor dem Tod geläutert wird und so direkt in den Himmel fährt.« Pater Laske beugte sich vor. »Mit anderen Worten, wir verhindern, dass sie in die Hölle kommt. Vielleicht würde sie das auch ohne unser Angebot nicht. Aber durch unser Angebot bekommen Sie Gewissheit.«
Das ist mir theologisch nicht ganz einleuchtend. Welchen Vorteil hat denn das simulierte Fegefeuer vor dem echten. Oder gibt es das gar nicht? Was ich mir denken könnte ist, dass freiwillig vor dem Tod verbüßte Strafen etwas milder ausfallen, als nach dem Tod auferlegte. Ist in den Sterbekünsten auch so: Unbedingt vor dem Tod büßen, sonst wirds fies!

Wir können es nicht sagen, selbst wenn wir es wollten. Das Purgatorium ist die einzige Simulierte Welt, aus der noch keiner zurückgekehrt ist.
Ja, das ist so praktisch. Ich liebe Religion :D

ein gelber, scheinender Kreis vor blauem Hintergrund; wie die Sonne an einem Tag im Frühling.
Hier kommt mein einziger Formkrittel: "scheinend" ist so ein blässliches und doppeldeutiges Wort. Warum nicht "strahlend"?

Die empfundene Zeit in einer Simulierten Welt entspricht immer der Echtzeit.
Das scheint mir eine sehr willkürliche Setzung. Klar ist das besser zu verkaufen, aber nicht mal empfundende Echtzeit entspricht doch der tatsächlichen Echtzeit. Gerade bei Schmerz und Qual gibt es doch kaum was subjektiveres als Zeitempfinden. Und wenn das subjektive Empfinden in der simulierten Realität so von dieser abgekoppelt sein sollte, warum ausgerechnet die Zeit nicht? Wär doch viel perfider, wenn die sagen "3 Tage", aber das kann sich wie 3000 Jahre anfühlen.

Robert spürt, wie sich die Haut an seinem Nacken spannt. »Ich dachte, Sie nennen es nicht Fegefeuer.«
»Normalerweise nicht.«
»Und warum nennen Sie es jetzt so?«
Ach, das fand ich mega! So subtil, so grauslich.

Aber du hast nie kapiert, dass es umsonst war. Dein ganzer Kontrollwahn. Hat alles nix gebracht. Schlimme Dinge können auch vor zehn Uhr abends passieren, und ein Urlaub kann auch scheiße werden, wenn man jeden Abend reservierte Plätze hat. In den meisten Fällen ist Kontrolle nichts als eine Illusion. Wenn du denkst, deine Tochter vor Verletzungen oder ungewollten Schwangerschaften schützen zu können, ist das eine Illusion. Beides wird nämlich passieren, wenn sie nicht vorsichtig ist. Da kannst du gar nichts machen.«

»Aber jetzt - ausgerechnet jetzt, wenn es an der Zeit wäre, die Kontrolle zu behalten - weil es diesmal eben keine Illusion ist - ausgerechnet jetzt willst du sie abgeben. Wenn du die aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen willst, geh doch um alles in der Welt zu einem privaten Anbieter statt zur Kirche. Die machen es, ohne dich drei Tage in die Hölle zu schicken.«

Dieses Kontrollthema find ich echt spannend. Das ist so geschachtelt. Weil er so ein Kontrollfreak ist, der sogar seinen Tod organisieren will, gibt er die Kontrolle über seinen Tod ab und wird dann tatsächlich auch mit Kontrollverlust gestraft.

Die Luft ist trocken, und Robert ist erstaunt, wie realistisch die künstliche Wahrnehmung in seinem Gehirn wirkt.
Es ist so real wie alles, was du jemals erlebt hast. Es sind nur elektrische Impulse zwischen Neuronen. Egal, ob du sterile Luft einatmest oder deine tote Frau identifizierst. Nur Neuronen, Impulse und Synapsen. Mehr ist es nicht, mehr war es nie, und mehr wird es nie sein.
Ich glaub, ich würd das nicht machen, dass er selbst erkennt, dass er sich in der Simulation befindet. Das schmälert doch das Grauen, wenn man sich bewusst ist, dass etwas nicht real ist. Es reicht doch, wenn der Leser das erkennt. Und ich glaube auch, der wär stolz, wenn er das selbst erkennen dürfte, ohne dass jemand vorsagt.

Gut, das Ende. Die Zombies sind echt son bisschen :Pfeif: ... random und null gruselig. Ich kenn das Phänomen auch, dass sichtbares Grauen seinen Schrecken verliert. Geht mir mit Werwölfen so. Wenn da nur so huschende Fellbüschel lauern, sterbe ich vor Angst, aber sobald dann so ein Bären-Schnauzer-Verschnitt die Bühne betritt ist es aus. Ich weiß noch, dass ich zum Beispiel diese Rattenszene von 1984 total fürchterlich fand. Und da ist es ja auch die Angst vor dem eigentlichen Geschehen, die so stark wirkt. Klar, sowas ist sehr schwer zu erzeugen. Aber wenn jemand dazu horrorversiert genug ist, dann doch Du. Es reicht ja eigentlich, wenn Du die Flugangst so richtig transportieren könntest - aber da wirkt er ja einigermaßen cool. Ich hab letztens auch zum ersten Mal erlebt, wie jemand direkt neben mir im Flieger eine Panikattacke hatte. War echt eindrucksvoll. So ein junger Typ, der plötzlich geschwitzt hat wie ein Schwein und dann mit so riesigen Zombieaugen nur noch so einen tierischen Fluchtinstinkt hatte. Völliger Kontrollverlust.

Hach, es hat doch was Gutes, wenn man so hinterhertrödelt. Da kann man die ganzen versprochenen Überarbeitungen, die liegengeblieben sind, noch mal zusammenfegen und den Autoren unter die Nase reiben. :D

lg,
fiz

 

Liebe fiz

Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar - ich bin momentan in den Ferien und komme erst in etwa einer Woche dazu, dir zu antworten. Dann schaff ich es endlich auch, deinen Text (und natürlich auch den von Perdita, auch der steht noch aus) zu kommentieren.

Bis dahin, viele Grüsse,
Schwups

 

Hey fiz

Perditas Fegefeuersimulationsidee ist natürlich ein ziemlicher Hauptgewinn an Vorlage, aber auch eine ziemliche Herausforderung, was die Komplexität des Themas betrifft. Und ich finde, dem wirst Du voll gerecht und tust das dramaturgisch auch sehr geschickt.

Das freut mich, vielen Dank für das Lob.

Ich denke, wer ans Purgatorium glaubt, hat da wirklich ne Schweineangst vor.

Es kommt drauf an. Zum einen ist das Purgatorium ja etwas Abstraktes, die Aussicht auf die Schmerzen und das Hospiz dagegen sind konkret. Ich hab mich ehrlich gesagt nicht damit beschäftigt, wie Menschen, die wirklich daran glauben, das wahrnehmen. Man sagt ja, dass man im Purgatorium schon die Anwesenheit Gottes spüre, und schließlich führt nur darüber der Weg in den Himmel. Also wenn man daran glaubt, hat man die Wahl: Purgatorium und Himmel, oder eben Hölle. Vielleicht ist die Angst davor dann nicht so groß, sonst müssten die Leute, die daran glauben, den Tod so oder so fürchten.

Was vielleicht auch noch ne nette Ergänzung gewesen wäre, ist diese Vorstellung, dass Verwandte, aber auch bezahlte Fürbitter, durch Gebete und Almosen die Zeit ihrer Lieben im Fegefeuer verkürzen können.

Ja, das ist eine coole Idee. Oder durch großzügige Spenden an die Kirche :). Ich weiß jetzt gar nicht, ob das so ist, dass die Zeit im Fegefeuer (also dem ursprünglichen theologischen Modell) verkürzt wird, wenn Angehörige für einen beten. Ich hab damals ziemlich viele Quellen dazu gelesen, aber dazu ist nix hängen geblieben. Wenn dem so wäre, könnte die Kirche das tatsächlich auch für das Simulierte Fegefeuer übernehmen.

Also ich bräuchte da einfach noch ein bisschen mehr Info glaub ich.

Gemeint als Alternative ist hier die Hölle.

Das ist mir theologisch nicht ganz einleuchtend. Welchen Vorteil hat denn das simulierte Fegefeuer vor dem echten. Oder gibt es das gar nicht?

Ja, müsste ich vielleicht ausführlicher beschreiben. Da sind auch andere drüber gestolpert. Also der Punkt ist ja, wenn du stirbst, weißt du nicht, ob du über das Fegefeuer in den Himmel oder eben direkt in die Hölle wanderst. Mit dem Simulierten Fegefeuer gibt dir die Kirche die „Garantie“, dass deine gereinigte Seele direkt in den Himmel wandert, weil sie dich vor dem Tod schon von allen Sünden reinwaschen (und dich deshalb auch nicht zurück ins Leben lassen können, wo du dich unweigerlich wieder mit Schuld vollädst). Es ist also plump gesagt einfach eine Versicherung, eine Eintrittskarte in den Himmel sozusagen.

Ja, das ist so praktisch. Ich liebe Religion

In dem Fall hat es auch den Hintergrund, dass eine Rückkehr deine Seele wieder beschmutzen würde. Dann müsste man rein theoretisch ein zweites Mal durch das Fegefeuer, um in den Himmel zu kommen, und wer will das schon :)?

Hier kommt mein einziger Formkrittel: "scheinend" ist so ein blässliches und doppeldeutiges Wort. Warum nicht "strahlend"?

Hast Recht, ich übernehme das.

Das scheint mir eine sehr willkürliche Setzung. Klar ist das besser zu verkaufen, aber nicht mal empfundende Echtzeit entspricht doch der tatsächlichen Echtzeit.

Auch dieser Einwand ist berechtigt. Hm, ich weiß gar nicht mehr, warum ich das reingenommen habe. Ich hatte ja mal die Idee, dass die Zeit im Simulierten Purgatorium gestreckt werden kann. Ein Tag erscheint dir dann wie tausend Jahre, eine Woche wie eine Ewigkeit.

Und wenn das subjektive Empfinden in der simulierten Realität so von dieser abgekoppelt sein sollte, warum ausgerechnet die Zeit nicht? Wär doch viel perfider, wenn die sagen "3 Tage", aber das kann sich wie 3000 Jahre anfühlen.

Ja. Das wär eigentlich ziemlich düster, aber ich glaube, ich habe die Idee verworfen, weil ich das mit der Perspektive nicht hingekriegt habe. Ich hätte dann am Ende auf Laske schwenken müssen, und das wollte ich nicht. Hatte also eher so technische Gründe.

Hach, es hat doch was Gutes, wenn man so hinterhertrödelt. Da kann man die ganzen versprochenen Überarbeitungen, die liegengeblieben sind, noch mal zusammenfegen und den Autoren unter die Nase reiben.

Ja, ich weiß. Ich war faul, was das Ende angeht. Hab es nach so langer Zeit und nachdem wirklich jeder nix damit anfangen kann immer noch nicht überarbeitet. Irgendwie ist die Geschichte jetzt auch wieder so weit weg. Na ja, da ich momentan eh in so ner kleinen bis mittleren Schreibkrise bin (viel begonnen, wenig beendet) könnte ich mir den Text auch nochmal vornehmen. Mal schauen.

Ich danke dir jedenfalls fürs Lesen und dein Feedback. Und natürlich auch für das freundliche Anstupsen und Unter-die-Nase-reiben :D.

Grüße,
Schwups

 

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