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Serie Sewa - Sturz und Absturz (4)

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03.07.2004
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Sewa - Sturz und Absturz (4)

Schwester Rosita war ganz aufgeregt: „Frau Meyerbier ist vorgestern in ihrer Wohnung gestürzt. Beim Fallen hat sie sich den Kopf angeschlagen und war bewusstlos. Gottseidank kam Schwester Katja eine Viertelstunde später mit der abendlichen Spritze. Frau Meyerbier wurde dann zur Beobachtung ins Krankenhaus gefahren. Gestern Abend kam sie wieder zurück.“
„Das ist ja noch mal gut gegangen“, sagte ich zu Herbert.
„Nichts ist gut, du wirst schon sehen.“
„Glaubst Du, Frau Meyerbier ist doch schwerer verletzt?“
„Denk doch mal nach. Du kennst doch die Schwestern und die Betreuerinnen. Dienstag beim Bewohnertreffen werden wir über einen neuen Notfallplan informiert und uns irgendeinen Vertreter mit seinem tollen Hausnotruf anhören dürfen.“

Und so hatte das kommende Bewohnertreffen nur einen Tagesordnungspunkt: Neuer Notfallplan.
Frau Görner leitete das Treffen und nachdem jeder Bewohner eine Tasse Kaffee vor sich stehen hatte, begann Frau Holmen. Sie schilderte lang und breit, was geschehen war, aber nachdem Frau Mörke eingeschlafen war und Herbert laute Schnarchgeräusche von sich gab, kam sie schnell zur Sache:
„Wir haben uns folgende Maßnahmen überlegt: Als erstes werden alle Bewohner einen Schlüssel bei Frau Bremer im Büro hinterlegen.“
Einige Bewohner protestierten lautstark: „Wir haben doch schon seit langem Schlüssel im Büro abgegeben. Wieso sollen wir das jetzt nochmal tun?“
Frau Görner, die mit Statistiken alles besser erklären kann, erwiderte: „Dreißig Prozent der Bewohner haben bisher keinen Schlüssel im Büro hinterlegt.“
Herbert rechnete sofort nach. Er hatte bei einem Architekten gearbeitet und dort viel mit Zahlen zu tun gehabt. Jedenfalls schaute er in die Runde und erwiderte Frau Görner: „Ihre dreißig Prozent sind abwesend.“
Bevor Frau Görner eine Antwort einfiel, hatte Frau Holmen wieder übernommen: „Wir werden alle Vorschläge auch schriftlich verteilen. Als zweites schlagen wir vor, dass in allen Wohnungen Notruftelefone installiert werden.“
„Und wer soll das alles bezahlen?“ Vor allem die Seniorinnen mit ihren eher kleinen Renten begehrten auf.
„Wir haben eine Lösung ohne zusätzliche Kosten gefunden. Gemeinsam mit unseren Nachbarn, den Wohngruppen für behinderte Menschen, richten wir zwei eigene Notrufzentralen in den beiden Schwesternzimmern ein. Die Notrufe werden also direkt vor Ort angenommen und so kann auch sofort geholfen werden. Ich denke, jetzt wird auch klar, wie wichtig es ist, dass alle Schlüssel verfügbar sind.“
Nach längeren Gesprächen mit weiterem Kaffee und in kleinen Grüppchen stimmten die meisten Bewohner dem Vorschlag zu.
Frau Holmen fuhr fort. „Außerdem sind wir mit allen betroffenen Mitarbeitenden die Einsatzpläne durchgegangen. Es wird ohne Mehrarbeit möglich sein, jeden Bewohner und jede Bewohnerin morgens und abends kurz aufzusuchen und nach ihrem Befinden zu schauen.“
Auch dieser Vorschlag wurde zustimmend zur Kenntnis genommen, nur Herbert warf ein: „Das eigentliche Problem haben Sie aber damit gar nicht gelöst.“
„Das habe ich nicht verstanden. Was ist denn nach Ihrer Meinung das eigentliche Problem?“
„Meinen Sie, dass fünf Minuten Aufmerksamkeit am Tag die restlichen sechzehn Stunden Einsamkeit erträglicher werden lassen? Da sind doch nicht ein mal fünfzig Promille. Nicht wahr, Frau Görner?“
Jetzt wehrte sich Frau Holmen: „Hier lebt keiner alleine oder gar isoliert. Den sechzig Bewohnern unseres Hauses stehen der Fernsehraum, der Gemeinschaftsraum und der Garten mit seiner Terrasse und den Sitzecken zur Verfügung. Außerdem werden jede Woche Veranstaltungen angeboten, zu denen alle Bewohner eingeladen sind. Was sollen wir denn noch unternehmen?“
„Ich gehöre zu den Menschen, die seit der Einweihung des Hauses hier wohnen. Und ich bin mehrmals neuen Bewohnern bei ihrem Einzug begegnet. Während die Kinder oder gar die Enkel fröhlich die Wohnung und die Umgebung lobten, schauten die Senioren recht zweifelnd, ja manchmal schienen sie mir verzweifelt.“
„Absturz!“
Alle drehten sich zu Frau Mörke um. Sie war eine liebe, weißhaarige Frau, die wenig sprach, nicht richtig zuhörte und oft in einer eigenen Welt zu leben schien. Da sie ihren Alltag gut und problemlos bewältigte, wurden ihre Eigenheiten nur belächelt.
„Hat Frau Mörke noch Angehörige?“, flüsterte Herbert mir zu.
„Ich habe noch niemanden gesehen, aber soweit ich weiß, hat sie drei Kinder mit Familien. Hat sie sich in ihre Welt zurückgezogen, um so ihre Einsamkeit und ihre Verlassenheit zu bestehen?“
Hatte ich zu laut gesprochen? Um mich herum setzte Gemurmel ein, das schließlich in empörten Äußerungen mündete:
„Es ist eine Schande, von den eigenen Kindern abgeschoben zu werden.“
„Fünfzig Jahre war ich immer für meine Kinder da - und wo sind sie jetzt?“
„Wenn sie Geld brauchen, dann kommen sie.“
„Erinnert ihr euch noch an Herrn Te … Te …, also oben in Wohnung 25 glaube ich.“
Ja, wir erinnerten uns. Wie Herr T. an der Haustür stand und seine beiden Kinder mit ihren Familien ihm noch zuriefen: „Sonntag sind wir ja wieder da. Du wirst sehen, wie schnell die Zeit vergeht.“
Am Sonntag kam niemand. die folgende Woche schien Herr T. immer mehr in sich zusammenzusinken. Er schlurfte durch die Gänge und sprach beim Spielenachmittag kein Wort. Dann war wieder Sonntag und wieder kam nichts und niemand. Nicht einmal ein Brief oder ein Telefonanruf. Montagmorgen lag Herr T. in seinem Bett. Er war in der Nacht gestorben - Todesursache Altersschwäche stand im Totenschein.

„Aber wir können die Angehörigen doch nicht zwingen, ihre Eltern oder Großeltern hier zu besuchen!“ Auch Frau Görner und die Betreuerinnen waren sichtlich betroffen und ratlos.
„Vielleicht können wir den Besuch interessanter machen“, warf Frau Kistner ein, eine 85 jährige agile Seniorin. Wir fanden ihre Idee auf den ersten Blick gut, wunderten uns aber und Herbert konnte nicht an sich halten. Er drehte seinen Rollstuhl zu ihr hin und erwiderte leicht aggressiv: „Sie bekommen doch jedes Wochenende Besuch.“
„Ja, weil ich für jedes Wochenende ein eigenes Programm entwickle und meinen Kindern vorher maile. Man muss den jungen Leuten etwas mehr bieten als einige Stunden mit ihren nicht gerade heiß geliebten Angehörigen zu verbringen. Ich habe jahrelang Events geplant und organisiert, da habe ich genügend frische und ansprechende Ideen für meine Familie.“
Nachdem alle das Gehörte so richtig verstanden hatten, ging es richtig los. Jeder redete ohne Rücksicht auf die anderen, der Lärmpegel erreichte bald die Schmerzgrenze, bis ein lauter Knall alle zusammenzucken ließ. Atemlose Stille. „Was ist passiert?“ „Was war das?“ Und dann stellte Frau Holmen fest: „Frau Mörke hat das große Schneidbrett aus der Küchenzeile auf den Boden fallen lassen.“
Alle starrten auf Frau Mörke: „Endlich Stille. Das ist ja schlimmer als in meinem Kindergarten. Ich dachte, Sie sind erwachsene Menschen. Setzen Sie sich an die Tische. Jeder bekommt Papier und Bleistift und schreibt seine besten drei Ideen auf. Dann wählen wir einen Ausschuss, der die Vorschläge verarbeitet und uns nächste Woche die besten und sinnvollsten Ideen präsentiert. Jemand anderer Meinung?“ Frau Mörke schaute uns alle strafend an und keiner traute sich, auch nur Pieps zu sagen.
Und jetzt warten alle gespannt auf den kommenden Dienstag.

 
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„Meinen Sie, dass fünf Minuten Aufmerksamkeit am Tag die restlichen sechzehn Stunden Einsamkeit erträglicher werden lassen? Da sind doch nicht ein mal fünfzig Promille. Nicht wahr, Frau Görner?“

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, heißt es biblisch alt und scheinbar konservativ bis zum geht nicht mehr, obwohl die ebenso scheinbare Individualisierung von der generationenübergreifenden Großfamilie über die Kleinfamilie bis hinab zum Singledasein ja eigentlich nur die Vereinsamung fördert, auf dass der Mensch besser und leichter gesteuert werden könne als in einer solidarischen, womöglich widerbostigen Gemeinschaft. Sicherlich schafft dieser Trend neue Arbetsplätze - im prekären Bereich. Wie wirds Pflegepersonal mit seiner Rente auskommen, wie der professionelle Erziehende usw. Im Heim - und sei es Vergissmeinnicht - wird man sich zusammenraufen müssen und, einmal an den organisatorischen Zustand gewöhnt, sträubt man sich gegen kleinste Änderungen, selbst wenn sie sinnvoll wie hier dargestellt sind,

lieber jobär,

und was jetzt kommt, muss Dir nicht peinlich sein, denn die unkommentierten Beiträge, die ich hier gefunden hab, sind eher peinlich für alle User - da werd ich mich nicht ausschließen und mit dem Argument des Gelegentlichen kommen -, was zeigt, wie sehr die Plattform ein Abbild der Gesellschaft ist bis hin zur Ignoranz. Wir sind alle mit unseren eigenen Beiträgen und somit mit uns selbst beschäftigt, als dass jede/r tatsächlich mitgenommen würde.

An Trivialem gibt's nix Peinliches!

Bevor Frau Görner eine Antwort einfiel[,] hatte Frau Holmen wieder übernommen: „
Gemeinsam mit unseren Nachbarn, den Wohngruppen für behinderte Menschen[,] richten wir zwei eigene Notrufzentralen in den beiden Schwesternzimmern ein.
Sie war eine liebe[,] weißhaarige Frau, ...

... und meinen Kindern vorher zumaile.
„Zumailen“ meint gemeinhin, dass man einen Empfänger quasi zumüllt. In Deinem geschilderten Fall wäre „… vorher maile“ die Nachricht.

Gern gelesen vom

Friedel

 

Friedrichard

Lieber Friedel,

ich bin begeistert. Eine Kritik zu dieser Geschichte, die mir sehr am Herzen liegt (auch aus aktuellem Anlass). Die Fehler habe ich beseitigt und dabei noch festgestellt, dass Frau Görner manchmal auch Gröner hieß.

Liebe Grüße

Jobär

 

(Auto-)biografisch? Reales Vorkommnis?

Ein Lob der Gründerin und dem Personal Vergissmeinnichts!

 

Ein Wunschtraum -*Leider.*Ich lebe zwar in einer Seniorenwohnanlage, aber unsere Realität hat mit meinen Geschichten sehr wenig zu tun.

 

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