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Hecklerstraße

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10.09.2014
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Hecklerstraße

Heute besuche ich einen Schulkameraden, der letztlich bei unserem Klassentreffen nicht dabei war. Das finde ich sehr schade, denn der war in unserer gemeinsamen Zeit der Mann meines Vertrauens, mit ihm habe ich so manchen Blödsinn verzapft. Eigentlich ist es doppelt schade, weil es erst nach sechzig Jahren gelang, dieses Treffen zu organisieren - und höchstwahrscheinlich wird es kein weiteres geben, denn bald sind wir allesamt mausetot.

Jetzt aber habe ich einen sehr privaten Grund, doch noch in seine Gegend zu reisen. Es ist ein trauriger Anlass, eine Beerdigung. Bei dieser Gelegenheit will ich mal schauen, ob ich ihm mit einem kurzen Überraschungsbesuch eine Freude machen kann. Ich bringe Apfeltorte mit und dazu einen Berg echter Schlagsahne. Das war für uns vor sechzig Jahren das Allerhöchste!
Carlo Schröter, Hecklerstraße, alles klar. Nummer? Unbekannt, ich muss fragen.

Auf Geheiß des Navis verlasse ich die Bundesstraße, erreiche den dekorativen Dorfplatz. ’Unser Dorf soll schöner werden’ - dieses Motto ist klar zu erkennen. Ich trete auf die Bremse, sonst könnte ich das eingerahmte Schild nicht lesen. Tatsächlich, sie haben den zweiten Platz gemacht!
Ich betrachte das Arrangement. Zwei rustikale Sitzgruppen flankieren einen Märchenbrunnen - mit Spitzdach und an der Kette hängendem Wassereimer. Alles ist üppig mit Geranien verziert.
Das Navi lotst mich in die Hecklerstraße. Heckler & Koch kommt mir in den Sinn, aber das passt nicht in diese Gegend. Hier herrscht allertiefster Frieden, fast schon wie ausgestorben scheint mir diese Weltenecke.
Verkehrsberuhigte Zone, 30 km/h, ein Radarauge.
Ja, hier bin ich. „Sie haben Ihr Fahrtziel erreicht.“
Blitzsauber alles, akkurat, wie gestochen. Gedrechselte Buchskreationen, militärisch exakt geschnittene Hecken; für die eingeebneten Fußwege wählte man rosagrau gesprenkelte Betonplatten, für die Straße graugelbe, um farbliche Auflockerung bemüht. Ein erstaunlicher Kontrast.
Mit ihren uniformen Giebeldächern stehen die Häuser eng nebeneinander. Die ausgebauten Dachgeschosse müssen sehr schräge Wände haben. Einige haben einen seitlichen Balkon, der den Abstand zum Nachbarhaus noch mehr verringert, und wegen fehlender Aussicht wohl auch nie genutzt wird. Klinkerverkleidet - so liegen sie angebunden und ausgerichtet wie frustrierte Schaluppen am Straßensteg. Hier ist ewig Ebbe und Lee.
Macht die Straße einen Bogen, tun das die Häuser auch. Ob dabei die vorteilhafteste Ausrichtung zur Sonne verloren geht, scheint die Planer nicht geschert zu haben. Das jeweilige Grundstück besteht aus einem grünen Streifen, gut einsehbar.
Ein Bauherr hat einen bayerischen Balkon in Holzbarock genehmigt bekommen, oder sich selbst genehmigt. Der hat’s geschafft, mit dem Rasenmäher ein Schachbrettmuster hinzukriegen,
Die Straße wirkt nüchtern und abweisend.
Vor meinem inneren Auge sehe ich beflissene Leute, wie sie zusammengerollte Pläne ausbreiten, sich konzentriert darüber beugen und mit Winkelmesser und Rechenschieber ein solches Wohnviertel austüfteln.
Das Ergebnis ihrer Bemühungen ist bestürzend, aber amtlich genehmigt, beglaubigt und besiegelt. Nachdem die Einfallslosigkeit Stein geworden ist, wäre noch etwas zu retten mit zwei Baumreihen, die über die Zeit eine schöne Allee ergeben würden. Doch wahrscheinlich will man das gar nicht - wegen der Blätter. Die sind, besonders jetzt im Herbst, immer ärgerlich und störend.
Ich steige aus, um einen Mann vor dessen Garage nach dem Haus der Familie Schröter zu fragen. Der ist mit dem Laubgebläse gegen sein privates Laub im Einsatz. Wie ich mich ihm nähere, widmet er sich noch intensiver seiner Beschäftigung und ich gehe zum Auto zurück. Ich wette eins zu zehn, dass er dieses lärmende Ding nicht abgeschaltet hätte.
Oh, da ist eine Frau, die ihre Einkäufe aus dem Kofferraum nehmen will.
Ich fahre dicht ran und frage höflich: „Verzeihung, ich suche das Haus der Schröters. Könnten Sie mir...“.
„Moment, Kinder kommen“, sagt sie und ruft etwas in ihrer Sprache. Von oben höre ich jugendliche Stimmen, die ich aber nicht verstehe. „Nisch gut“, sagt die Frau „Television.“
„Ach“, sage ich heiter „das macht doch nichts, ich habe auch Kinder, äh, Enkelkinder. Einen schönen Tag noch!“
Ich glaube, auch im Winter ist hier alles grün. Thuja, Wacholder, Buchs und so weiter; immergrüne Pflanzen, wohin das Auge blickt. Die lassen sich besonders gut stutzen und trimmen. Eine dicke Hecke hat es mir besonders angetan: Ihr Eigentümer hat sie mit unglaublich präzisem Wellenschnitt sozusagen onduliert. Aber es gibt noch Buchskugeln zu bewundern, auch im Doppel, gar drei übereinander, außerdem winzige Teiche in einem schwarzen Gummiloch mit Fontäne, wogendem Pampagras und Reiher.
Auch viele andere Tiere sehe ich - die tummeln sich auf den meisten Grundstücken.
Hasen und Igel, Enten, Kraniche oder Kröten, entweder offen präsentiert oder lauschig versteckt im ewigen Grün, zur Straße ausgerichtet. Allerdings scheinen mir die Gartenzwerge in dieser Straße ausgestorben, oder sie sind zur Zeit aus der Mode, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht habe ich sie nur übersehen.
Nicht zu übersehen sind grellfarbige Schilder an einigen Häusern „Zu verkaufen“. Die Jalousien sind geschlossen. Da sind die Tiere wohl mit den Menschen weitergezogen – oder mit ihnen beerdigt worden.
Auf der anderen Seite geht eine Tür auf und ich spurte hinüber.
„Entschuldigen Sie, das Haus der ...“
Schon bei meinem ersten Wort schließt sich die Tür wieder.
Ich bin einigermaßen ratlos; erst jetzt gewahre ich ein altes Ehepaar, das sich wohl die Nase am Schaufenster des einzigen Ladens der Straße plattgedrückt hat. „Zu vermieten“ lese ich in großen weißen Buchstaben.
„Na“, scherze ich „Haben Sie eine Geschäftsidee? Ist ja ’n schöner Laden.“
„Gott bewahre!“, sagt die Frau „Auf unsere alten Tage! Nee, da lassen Sie mal die Jüngeren ran.“
Ihr Mann fügt hinzu: „ Das ist der springende Punkt: Die gibt’s hier nicht mehr.“
„Weggezogen“, erklärt seine Frau „Mit Kind und Kegel.“
Darauf sagt der Mann: „Wie unsere Kinder auch. Sollen die Alten doch sehen, wie sie ohne Hilfe klarkommen.“
„Aber Sie haben doch Betreuung?“, wende ich ein.
„Nur am Montag.“
„Nein, die kommt dienstags und freitags.“
„Aber heute ist doch...?“
Ich bin schnell: „Mittwoch. Heute ist Mittwoch.“
„Mittwoch?“, wiederholt die Frau. „Manchmal weiß ich gar nicht, welches Datum wir haben. Da muss ich immer ins Fernsehprogramm gucken.“
„Aber wir haben doch diese Woche gar keins.“, fällt ihrem Mann ein.
„Doch, doch, der Lothar hat eins besorgt.“, berichtigt ihn seine Frau.
„Das glaube ich nicht. Der Egon hat’s besorgt, nicht der Lothar.“, verbessert sie ihr Gatte, und erklärt mir: „Der Egon ist mir fast wie ein Sohn, den kann ich wirklich gut leiden. Hilft auch beim Einkaufen.“
„Der Egon kauft ein? Seit wann das denn?“, will seine Frau wissen.
„Aber was redest Du denn! Natürlich müssen wir einkaufen. Sollen wir etwa verhungern?“
Ich will die beiden nicht mit meiner Fragerei irritieren und verabschiede mich:
„Hauptsache ist doch, das alles seinen Gang geht. Ich bin bisschen in Eile, muss weiter. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.“

Fast bin ich am Ende der Hecklerstraße angelangt. Auf Höhe einer Reihe stattlicher Blauzypressen kommt mir der Briefträger entgegen.
„Grüß Gott!“, sage ich „Ehm, guten Tag. Ich finde das Haus der Schröters nicht. Wissen Sie eventuell...“
„Aber klaro doch! Von hier aus das vierte rechts. Direkt nach den Koniferen, vorne mit dem silbernen Schwan.“ Er hat den taxierenden Blick eines Juroren. „Sie sind wohl nicht von hier?“
„Nein, leider nicht“, lüge ich, „Schön haben Sie’s hier. Und vielen Dank auch!“
Ich muss mich sammeln. Ist ja nicht weit. Vielleicht sollte ich zu Fuß hingehen, in kleinen Akklimatisierungsschritten. Aber dann beschließe ich, im Wendehammer zu drehen und gegenüber des Hauses mit Schwan zu parken. Unterdessen ist das alte Ehepaar auf meiner Höhe angekommen. Sie halten sich an den Händen. Ich schalte den Motor ab, will ihnen beim Aussteigen noch etwas Nettes hinüberrufen - da spazieren die beiden am stolzen Schwan vorbei und nehmen Kurs auf die Haustür. Sie zetern ein bisschen, weil der Hausschlüssel nicht zu finden ist.
Mensch, Carlo Schröter - hab’ ich eine lange Leitung! Deine immer noch leicht verbeulte Nase war mein „Verdienst“, damals, im Zeitalter der Pioniere, mit dem Riesenflugdrachen „Ikarus“, einer Konstruktion nach meinen Plänen.

Mit 29 km/h schleiche ich am roten Auge vorbei und bilde mir ein, dass es beleidigt dreinschaut. Ich lasse es in seinem Frust zurück, hätte gern schadenfroh gekichert, doch danach ist mir nicht zumute.
Meinen Kaffee werde ich in der Innenstadt trinken, mit all ihren Hässlichkeiten.

 

Mann Josefelipe, da muffts und miefts mächtig aus deiner Geschichte. Tief in die Piefkeskiste gegriffen und vieles von dem rausgeholt, was wir so belächeln, das aber so "typisch Deutsch" ist.

Die Thuja wurde zur Tuja, Wacholder zu Wachholder, das wars dann aber schon mit mir aufgefallenen Neuerungen. :)

Der Rest sehr Gegenständlich, bestens beobachtet! Tja, ein wenig steigt mir die Röte ins Gesicht, viel von dem Beschriebenen findet sich in meinem Garten wieder. Morgen ist Sonntag, ich habe Zeit und die Kettensäge ist einsatzbereit. Mal sehen, was ich draus machen kann.

Aber zurück zur Story. Lockerer, schöner Erzählstil, bei dem du den Schalk im Nacken sitzen hast, was sich oft nur in einzelnen Wörtern offenbart, allenfalls in Satzteilen, auf mich aber absolut bereichernd ist.

Nach schwächerer Piaf-Geschichte wieder in stark ansteigender Form, der Josefelipe. Danke!

Die Pointe fand ich toll. So geht's. So spielt das Leben. Traurig aber uns erfasst es alle einmal.

Gruß an die Donau,

Freegrazer

 

Hola Freegrazer,

Tu’ es nicht!! Lass die Kettensäge da, wo sie ist! Du bringst Unruhe in die Nachbarschaft und ich bin Schuld. Das würde ich nicht wollen. Wir sollten das bisschen Leben harmonisch ausklingen lassen.

Zuvor noch ein Dankeschön für den Wink auf meine blamable Rechtschreibung - noch in der Minute, in der ich’s las, habe ich es ausgebessert.

Ansonsten im Westen nichts Neues, aber das wird sich ändern, wenn Du Dein neues Ding raushaust!

Bis dahin, mein Lieber
Joséfelipe

 

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