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Stellar

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19.04.2015
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Stellar

Stellar

„Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“
[Aischylos (525 v. Chr.-456 v. Chr.)]​


Er stellte sich das Leben in seiner wunderbarsten Form vor.
Einem Dreieck.
Das Leben musste eine Figur sein, bestehend aus drei Ecken.
Delta, der vierte Buchstabe im griechischen Alphabet, wird in mathematischen Gleichungen kleingeschrieben eingesetzt, wenn sich auf dem Weg zur Lösung etwas verändert.
Ob man nun damit leben kann oder nicht: Es verändert sich stets etwas.
Aus diesem Grund musste das Leben ein Dreieck sein – ein kleiner, griechischer Buchstabe.
Die Ecken, oder Kanten, bedeuteten für ihn, dass nicht alles immer glatt laufen würde – ansonsten wäre das Leben ein Kreis.
Penrose hatte ein fantastisches Dreieck gemalt und dabei bedacht, dass das Leben eine unvorstellbare Komplexität aufweist. Womöglich strebte Penrose mit seiner Zeichnung nicht dieses Ziel an; es reizte ihn wohl vielmehr die Verbildlichung der Unmöglichkeit – doch es können mehr als nur eine Interpretation ihre Daseinsberechtigung einfordern. Ein Leben war nicht einfach und ein Künstler musste das wissen.
Nun war für ihn auch der letzte Zweifel beseitigt.
Das Leben ist ein Dreieck.

Δ​

Die Türe hinaus zum Balkon stand offen. Der kaum spürbare Luftzug trieb die Vorhänge ins Wohnzimmer, als wären sie des Kutschers Pferde, die auf gepflastertem Wege langsam durch die verschlafene Altstadt trabten.
Auf einem Landschaftsbildnis – die Szene in mildwarmen Pastelltönen festgehalten – das über dem beigebraunen Ledersofa den Raum schmückte, war eben diese Altstadt zu bestaunen. Sie thronte auf einem leichten Hügel und befand sich inmitten eines künstlerischen Bühnenbildes. Die Anhöhe wurde von gelbglänzenden Rapsfeldern und leuchtenden Sonnenblumen umrahmt und der Weg hinauf zum abgelegenen Ort war von hohen Zedernbäumen und wildaustreibenden Eichen eingefasst. In der Ferne zeichnete sich einzig der unerreichbare Horizont ab, der den versteckten, kleinen Schatz nur noch entlegener wirken ließ. Die Malerei des abgeschiedenen Städtchens musste in den späten Morgenstunden entstanden sein – die Richtung, in welche die Schatten auf die idyllische Landschaft fielen und das unverfälschte, frische Blau des Himmels deuteten darauf hin. Das Bild strahlte einen weichen Sommer aus – er wollte herbeigesehnt werden, wenn das Wetter außerhalb der Wohnung nicht seinem Abbild entsprach.
Die Türe ragte noch immer hinein.
Auf den fein gearbeiteten, wetterbeständigen Holzbrettern lag er. Er lag dort auf dem Rücken – sein Kopf war durch die dünnen Eisenstäbe der Balkonbrüstung gezwängt und seine Augen, weit aufgerissen, blickten aufmerksam empor in den flammenden Abendhimmel.

Seine Mutter hatte den Regen in hoffnungsvoller Absicht erwartet und vorsorgehalber die Vielzahl an Blumen, die üblicherweise ihren Platz im Wohnzimmer einnahmen, hinaus auf den Balkon gestellt um sie vom Staub zu befreien, von dem die Pflanzenblätter über die vergangenen Wochen hinweg befallen worden waren. Doch er kam nicht. Die rotbraunen Plastikübel und einige, in zeitaufwendiger Kleinstarbeit verzierte Keramiktöpfe leisteten dem kleinen Jungen dort draußen im Trockenen Gesellschaft. Die bunten Blüten zitterten – sie schienen der untergehenden Sonne zum Abschied zu winken. Das Kind kümmerte sich nicht um seine Umgebung, es konzentrierte sich unnachgiebig auf den Himmel und durchbohrte diesen mit seinem stählernen Blick.
Der Balkon war nicht sonderlich groß und der Junge konnte mit seinen nackten Füßen an der Hauswand entlangstreichen. Seine kleinen Zehen tanzten über die raue Oberfläche und die Blätter des Ficus taten ebendies im Wind. Tanzen. Der warme, rote Backstein war auf der Haut wie glättendes Sandpapier – er fand Gefallen an diesem Gefühl. An diesem federleichten Kitzeln und Prickeln auf der Haut. Er sah stets empor in den Himmel und träumte von einem gleißenden Licht, einem donnernden Meteor, der über ihm zur Erde hinabstürzen würde. Dann könnten sie drei wieder alle beisammen sein – für immer.
„Willst du deiner Mutter nicht beim Abendessen helfen?“
Sie tauchte im Türrahmen auf; sie trug ihre rotweiße Kochschürze, die sich eng um ihren grazilen Körper schmiegte und wartete ungeduldig auf eine Antwort.

Ein herrlicher Abend dämmerte.
Sie saßen zusammen am gedeckten Tisch. Ihre Hände waren unter dem Kinn gefaltet und sie sah ihn wortlos an. Vor ihr stand ein halbleeres Glas Rotwein und er hatte ihr beweisen wollen, dass sie eine gute Köchin sei und hatte sogar die letzten Reste vom Teller aufgegessen. Sie hasste es zu kochen. Eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares fiel in ihr sorgenvolles Gesicht. Sie hatte gehofft, er würde mit ihr reden. Ihr eine Geschichte erzählen, wie er es immer getan hatte. Er hatte ihr nicht geholfen, weshalb sie wütend geworden war. Doch dann war es seine bloße Anwesenheit gewesen, die sie ihren Zorn hatte vergessen lassen. Sie atmete nun wieder ruhig ein und aus. Sein Blick streifte durch den Raum, wich absichtlich dem ihren aus. Sie suchte innerlich nach einem Verb für diese schmerzliche Geräuschlosigkeit. „Demokratie und Freiheit mochten wohl nicht herrschen“, dachte sie sich, „doch diese lästige Stille hier im Esszimmer tut es.“ Sie hatte das Schweigen satt.
„Ich habe Angst.“
Ihre Stimme zitterte. Sie überlegte, mit welchen Worten sie ihrem Jungen mitteilen konnte, was sie seit beinahe einem halben Jahr schon verzweifelt zu sagen versuchte. Er war ein gescheiter Junge, der allerdings schon zu viel mitmachen musste, weshalb sie sich in letzter Zeit immer häufiger dabei ertappte, ihre Sätze behutsam auf die goldene Waagschale zu legen. Wie sollte sie die wild durcheinander gewirbelten Emotionen, die sie seit etwa einem halben Jahr schon gefangen gehalten hatte, vorsichtig in einem Gespräch freilassen? Allein der Versuch kam ihr unmöglich vor.
„Es scheint mir, als könne ich dich nicht mehr erreichen.“
„Aber ich bin hier. Wenn du es versuchst?“
Er konnte ihren Gedanken nicht folgen und sie strauchelte bei seiner Antwort.
"Ich weiß nicht mehr wie. Du bist mit dem Kopf in den Wolken. Verstehst du, was das bedeutet?“
Er nickte.
„Ich mache mir Sorgen. Du entfernst dich von allem.“
Der Junge sah hinaus aus dem Fenster.
„Vielleicht ist es in der Ferne besser.“
Er murmelte, sagte es mehr zu sich selbst als zu seiner Mutter.
„Warum weinst du, Mama?“
Sie wischte sich mit den Fingerspitzen über die glühenden Wangen, räusperte sich und straffte ihr Oberteil. Doch konnte sie ihm nicht antworten, ohne ihn nicht herzlos belügen zu müssen.
„Ich glaube er kommt wieder“, sagte der kleine Junge um seiner Mutter Kraft zu geben.
Er sprang auf und rannte zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und purzelte wieder hinaus auf den Balkon, zurück zu seinem eigenen, kleinen Versteck. Zurück in eine Welt, die nicht von zerreißender Einsamkeit geprägt war.
Ihm war kein Ort der Stille mehr geblieben, da ihm nun selbst sein Geist die letzte Lautlosigkeit geraubt hatte. Es befand sich eine Last dort in seinem Kopf, die er nicht tragen wollte, aber ertragen musste – ungeachtet dessen, wie weit entfernt die Luftschlösser gebaut waren, in welche er sich träumte, ungeachtet dessen, wie weit weg ihn seine Gedankenflüge trugen. Und wie er so auf dem Balkon lag erdachte er sich, dass die stählernen Wale, die sich unter ihm auf den asphaltierten Meeresarmen tummelten, den wehrlosen Menschenschwärmen hinterherjagten. Ihm gefiel der Vergleich und genauso sehr die Vorstellung nicht auf dem Balkon zu liegen und sich dem Straßenlärm zu beugen, sondern stattdessen am Strand bedächtig von den eintreffenden Wellen in den Schlaf gewogen zu werden. Aus diesem Grund wandte er sich auch stets den Fahrzeugen ab. Der kleine Junge wollte sie nicht dabei beobachten, wie sie stockend an ihm vorbeizogen und unerkannt in die Fremde entschwanden.
Anstatt nach unten zu sehen, sah er empor in den Himmel.
Er versuchte, den zu Tode gelangweilten Gesprächen auf der Straße zu entgehen, da diese unzweifelhaft nur noch künstlich am Leben erhalten wurden, und blendete diese bestmöglich aus.

Mit dem Kopf in den Wolken um der griesgrämigen Welt zu entfliehen. Er verstand, weshalb man es das Himmelszelt nannte. Das grenzenlose Blau, welches sich über alles erstreckte war gleich einem Zirkuszelt – und die Menschen waren die traurigen Clowns, die nur über sich selbst lachen konnten.
„Das Universum dehnt sich nicht aus. Es sieht, was hier geschaffen wurde und flieht vor uns so schnell es nur kann. Es muss sich in Sicherheit wissen, damit wir es niemals auffinden können.“ Unzählige Male hatte er mit seiner Mutter über das unendliche und gleichzeitig unbekannte Schwarz dort oben gesprochen. Seiner Meinung nach waren Raumsonden nur der verzweifelte Versuch einiger deprimiert-gebrochener Menschen eine andere Welt aufzuspüren um dieses tobende Fiasko schließlich zurückzulassen.
Hier und da blitzte ein Funken kindlicher Naivität in ihm auf und er erzählte dann seiner Mutter nebenbei:
„Mama, hätten wir einen Garten dann könnten wir daraus einen Garten Gottes machen und er wäre auch wieder hier bei uns.“
Das Versteck der Unendlichkeit war nicht ersichtlich. Er tagträumte wieder davon, schloss seine Augen um dem Himmel näher zu sein. Der kleine Junge hielt Ausschau nach einem bekannten Anblick im Ozean vieler verschiedener Gesichter, solange bis er ihm gegenüberstehen und an der Hand nach Hause führen würde.
Doch seine Gedanken waren ein zerstörtes Trugbild seiner Wünsche. Das Paradies auf dem Dach der Welt schien ihm so fern, da sich die Seligkeit verabschiedet hatte und nur ein Traumland übrig geblieben war. Der kindliche Glanz in seinen Augen war auf lange Zeit verloren.
Ein tief hängendes Wolkengebilde zog über ihm auf; allerdings war es kein gewaltiges, schreckenerregendes Ungeheuer. Es war nicht der einsame, ausgehungerte Wolf, welcher die Zähne fletschend einer Herde Sonnenstrahlen nachtrieb. Die Wolken selbst – wie sie der Wanderer über dem Nebelmeer wohl bestaunen konnte – waren die Schafe und verstreut auf weiter Flur. Sie grasten das saftige Blau des Firmamentes ab und zogen anschließende weiter. Hinter ihnen blieb die grauschwarze, mondhelle Nacht zurück, aus deren Boden Sterne sprossen. Zuerst keimten diese nur vereinzelt; bis sich nach und nach ganze Scharen mit bloßem Auge entdecken ließen. Das Licht der Sonne ließ sich dennoch nicht ganz verdrängen.

Δ​

Die Linie in der Ferne, an der sich Himmel und Erde scheinbar berührten, war in ein kaltes Orange getaucht. Die untergehende Sonne schickte ihr letztes Licht los, ehe sie an der Gebirgslandschaft der Hochhäuser zerschellte. Auch nach acht Minuten war kein Laut des täglichen Einschlags zu vernehmen. Stattdessen würde sie am nächsten Morgen wieder unversehrt am Himmelsgewölbe zum Vorschein treten – der leuchtende Phönix erstand aus der Asche des Trümmerfeldes auf und verströmte mit alter Kraft seine Helligkeit.
Er lag auch an diesem unbedeutenden, sinnentleerten Abend wieder regungslos auf dem Balkon und mit jeder Sekunde, die verstrich, ließ er sich das Gewand der nächtlichen Dunkelheit weiter überstreifen. Ein frischer Wind marschierte über den kleinen Jungen hinweg, kräuselte sich in dessen Haaren bis er sich darin verfangen hatte. Er warf einzelne, dünne Strähnen wild hin und her und versuchte sich aus diesen zu befreien und weiterzuziehen.

„Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will,
alles verschwindet…“
[Paul Cézanne (1839-1906)]​

Womit assoziiert man die Farbe Gelb?
Eine Farbe der Dekadenz, die Farbe des Goldes, des Hasses. Gelb ist der Neid und die Eifersucht – zwei Krankheiten der Menschheit. Sie kann dennoch auch fröhliche, frische Töne anschlagen. Die Sonne flutet den Planeten tagein, tagaus mit neuer Lebenskraft und Freude, sollte das träge Grau die Menschen nicht zu sehr kränken, und blickt man auf zu ihr und lässt sich blenden, so erscheint sie gelb. Doch war es nicht das wunderschöne Gelb der aufgehenden Sonne oder das der Sumpfdotterblumen, deren goldgelbe Perigonblätter an die Bienen einen Lockruf aussendeten – es war ein tiefes, stechendes Gelb zusammen mit einem gebrechlichen Blau, das wie ein Lichtblitz über den rabenschwarzen Himmel zuckte und von einem pochenden Donnerschlag begleitet wurde. Das trommelnde Geräusch, welches den Jungen erbeben ließ, wuchs zu einem unerträglichen Rauschen an und dröhnte in seinen Ohren, die er versuchte abzuschirmen. Obwohl er sie mit seinen Händen zuhielt drang das entsetzliche Grollen in seinen Kopf ein, den er verzweifelt hin und herwarf, immer danach Ausschau haltend, aus welcher Richtung der Lärm auf ihn einschlug. Er zitterte. Auch als der Tumult ein wenig nachließ fühlte es sich für ihn noch immer so an, als würde ein Welle über ihn brechen und ihn die Gischt davonreißen.
Die zahllosen Hauswände warfen sich den Schall einander zu und stießen ihn dann wieder davon in die Nacht, wo er schließlich von dem verängstigten, kleinen Jungen aufgefangen wurde, der nichts damit anzufangen wusste.
Die Finsternis und Schwärze der späten Stunde war mit einem Male taghell erleuchtet.
Seine Augen tränten und er wandte seinen Kopf ab. So kam es, dass er im ersten Moment nicht sah, wie ein gleißender Feuerball über den Köpfen der jäh aus dem Schlaf gerissenen Menschen vorüberzog. Der aufflammende Gesteinsbrocken passierte den Jungen wie ein bunt geschmückter Paradewagen die Narren an Karneval.
Noch ein Bruder der Sonne, heimatlos auf der Suche nach seiner Bestimmung. Ebenso wie der Mond war auch er viel kleiner als seine Schwester, die besonders in den Abendstunden so mächtig, so gigantisch anmutete, wenn sie nicht im Zenit über der Erdkugel thronte. Der Junge hob nun seinen Kopf und schaute dabei zu, wie der Meteor unter dem funkelnden Sternenzelt hinwegraste. Seine Augen, verblüfft und weit aufgerissen, folgten dem faszinierenden Naturschauspiel. Die Wolle der Schafsherde, die einmal mehr friedvoll den Himmel abgefressen hatte, verbrannte und die zornig emporlodernde Lichterscheinung jagte die armen Tiere aufgebracht vor sich her zum Teufel, bis sie nicht mehr konnten und auseinandertrieben – es war der elende Wolf gekommen um sich sterbenshungrig sein Lämmchen zu reißen.
Der prasselnde Himmelskörper entfernte sich so schnell wie er gekommen war.
Der Menschen Aberglaube verlangte von ihnen, dass sie sich beim Anblick einer Sternschnuppe etwas wünschten – und der kleine Junge schloss seine Augen und betete er möge am nächsten Morgen aufwachen und das Porträt der Familie, aufgenommen in glückseligen Tagen, entspräche erneut der Wirklichkeit.
Die Feuerkugel sprengte den Horizont. Sie verließ augenblicklich die Bühne und hinter ihr fiel der Vorhang.

Δ​

Das Streichquartett, allesamt waren sie wunderbar elegant gekleidet gewesen, hatte seine Instrumente aufgenommen und leise begonnen eben diesen unbegreiflich bewegende Töne und Melodien zu entlocken. Seine Mutter hatte sich Händel ausgesucht. La Grande Sarabande.
Das Herz des kleinen Jungen zerbrach erneut bei dem Gedanken und wieder hatte er den Sarg vor Augen. Auf der polierten Truhe aus dunklem Palisanderholz weinte ein Gesteck aus leuchtenden, weißen und roten Rosen dem Verstorbenen nach. Die schlicht gehaltene Standarte wehklagte im bedrückenden Herbstregen, der auf die Trauergäste niederrieselte und zusammen mit deren Tränen an den Wangen hinabperlte.
Die plötzlichen Salutschüsse hatten ihn aus seiner Lethargie gerissen und er hatte mit stockendem Atem den Rauchschwaden hinterhergesehen, wie sie über den tristen Friedhof hinweggezogen und langsam verblasst waren. Ein festlich angezogener Mann war langsam auf den Jungen zugeschritten, hatte sich vor ihm auf ein Bein gekniet und ihm – den Blick zu Boden gesenkt – die Flagge übergeben. Er erinnerte sich, wie er salutiert und die feinsäuberlich zu einem Dreieck gefaltete Fahne seines Landes mit erhobenen Haupt dann entgegengenommen hatte. Immer mehr Menschen versammelten sich um den hölzernen Totenschrein und eine weitere Ehrensalve gab ihm sein letztes Geleit hinüber in die bessere Welt; in eine Welt, in der er ohne seine Familie zurechtkommen musste, aber auch eine, in der ohne Schmerzen und Sorgen leben konnte. Man mochte noch sie viele Kerzen für ihn anzünden, das Licht seines Lebens war auf ewig ausgelöscht.
Der Junge musste sich immer wieder diesen einen Tag vorstellen. Die Gedanken in seinem Kopf kreisten wie Geier stets um diese Bilder, die nicht nur nachts sondern auch tagsüber unaufhörlich vor seinen Augen auftauchten. Doch war es kein Film im Fernsehen – auch wenn er seine Augen schloss waren sie dessen zum Trotz noch da und er konnte sie ebenso wenig abschalten. Nie würde er vergessen können.
Ein anderer Mann war in Windes Eile herbeirannt um seine Mutter zu stützen, die auf ihre Knie gesunken war, als der Sarg immer tiefer gesenkt wurde und sich allmählich aus ihrem Blickfeld verlor. Man brachte ihr so unauffällig es möglich war einen Stuhl. Sie hatte sich die Tränen von den Wangen und aus den Augen gewischt, die hinter einer großen Bille mit rabenschwarzen Gläsern verborgen waren. Einmal zu Hause, wo sie nun nur noch zu zweit waren und sie ihre Augen nicht vor den anderen verdecken musste, hatte er gesehen, dass sie stark gerötet und verquollen waren.
„Wenn du größer bist, wirst du es vielleicht einmal besser verstehen“, hatte sie zu ihm mit zitternden Lippen gesagt. „Er kommt nicht mehr nach Hause, mein Schatz.“ Und er hatte den Kummer und das Leid aus ihren Gesichtszügen lesen können.
„Gar nicht mehr?“
Er wollte ihr weder damals noch heute Glauben schenken.

Sein Held war angekommen. Auf der anderen Seite im Garten Eden.
Er konnte ihn nun nie wieder sehen oder erreichen und aus dem Hintergrund, so erinnerte er sich, hatten sich das Schluchzen seiner Mutter zusammen mit Barbers Adagio for Strings ihren Weg an seine Ohren gebahnt; doch wollte er der Musik nicht zuhören und konnte es auch nicht ertragen seine Mutter so zu sehen. Er schottete sich innerlich ab. Nichts hören. Und auch niemanden sehen. Ein Meer aus unbekannten Gesichtern war jedoch auf ihn zugeströmt und sie alle drückten ihm ihr Beileid aus.
„Du bist jetzt der Mann im Haus.“
Er hatte die Augen nicht gehoben um ihnen für ihre Anteilnahme zu danken. Stattdessen war er unentwegt auf seine Lackschuhe fixiert gewesen. Es war für ihn am Morgen von keinerlei Bedeutung gewesen ob sie glänzten oder nicht. Er hatte sie ihn eine Ecke seines Zimmers gedonnert und war wieder hinaus auf den Balkon gelaufen, wo seine Mutter kurze Zeit darauf zu ihm stieß, sich hinter ihn stellte und ihn in die Arme nahm. Und auf der Beerdigung waren die Regentropfen zu Boden geglitten und in der aufgeweichten Erde unter seinen durchnässten Sohlen versunken.
„Gib Acht auf deine Mutter“ und „Bist ein unglaublich mutiger Junge“ oder „Wir sind immer für euch da.“
Er fühlte immer noch, wie sich eine Hand nach der anderen auf seine Schultern gelegt hatte und den gut gemeinten Worten Nachdruck verleihen wollten; Wärme und Anwesenheit zubringen. Er hatte an diesem Tag nicht das Gefühl verspürt ihnen sogleich antworten zu können. Es war ihm nicht gelungen ihnen in die fremden Augen zu sehen, überhaupt mit ihnen auf irgendeine erdenkliche Art und Weise zu reden.
Als sie ihn ihm davor noch immer wieder für eine bestimmte Zeit weggenommen hatten, da hatte ihn auch niemand getröstet und es schien für sie ganz selbstverständlich und normal gewesen zu sein. Es hatte dem kleinen Jungen mit jedem Male weniger ausgemacht und weniger aus der Bahn geworfen, schließlich wusste er, er würde ihn wiedersehen. „Schon bald sind wir wieder vereint, mein Großer!“ – „Wo gehst du hin?“ – „Ich gehe in Land ganz weit weg von hier, und helfe, dass die Kinder dort auch irgendwann einmal – hoffentlich – so aufwachsen können wie du.“ – „Mit einem Papa, der sie verlassen muss?“ – „Ich komme wieder. Verspochen!“
Es musste wohl erst endgültig sein, sodass sie endlich verstehen würden und es ihnen Leid tat.
Sie waren alle gekommen um Abschied zu nehmen, obwohl es nie soweit hätte kommen müssen.
Seine Mutter hatte den Jungen, den die Situation sichtlich überforderte, an die Hand genommen und zu sich herangezogen – sie drückte ihn fest an sich. Sie hatte aufschreien wollen und ihr Gesicht war verzerrt gewesen, als würden unbeschreibliche Schmerzen ihren Körper foltern. Sie konnte und schaffte es nicht. Die Kräfte hatten sie verlassen und nicht ein Ton war aus ihrer Kehle hervorgedrungen, die sich zugeschnürt hatte.
Sie schüttelte ihren Kopf ungläubig und musste immer wieder heftig schluchzen.
Den Jungen übermannte die Verzweiflung. Wie sollte er sie trösten? Er war so klein und schwach und musste noch so vieles lernen.
Doch sein Held und Lehrer war von ihm gegangen.

Δ​

Sie stürmte hinaus auf den Balkon.
Er hatte sich in eine Ecke gekauert und blickte starr geradeaus zur Türe.
„Ist dir etwas passiert?“
Sie kniete neben ihm und nahm ihn bei den Händen, die sie immer wieder küsste. Die Schürze, welche sie fortwährend zum Kochen anlegte, war noch eng um ihre Taille geschlungen. Einige Wassertropfen waren als dunkle Flecken darauf zu erkennen; sie musste gerade dabei gewesen sein das schmutzige Geschirr zu spülen, als sie das ohrenbetäubende Donnern aufschreckte. In den ersten Momenten verstand sie die Welt nicht um sich herum. Sie dachte, es sei eine mächtige Explosion irgendwo ganz in der Nähe gewesen, die die Erde erschütterte und das gesamte Haus erzittern ließ und sofort drängte sich der Gedanke an ihren Sohn auf, welcher ausgerechnet noch draußen auf dem Balkon den Nachthimmel anschwärmte. Ihr Ein und ihr Alles. Sie war ohne nachzudenken hinausgeeilt.
„Alle Gläser haben vibriert. Der Spiegel im Gang und auch das Fenster in der Küche. Und im Wohnzimmer ist das Bild heruntergefallen. Ich…“
Sie setzte sich neben ihn.
„Ich hatte solche Angst um dich, dass dir etwas passiert sein könnte!“
Sein Kopf sank langsam auf ihre Schulter und er antwortete:
„Wir müssen noch warten, bis wir ihn wiedersehen, oder? Mama?“
Zu den aufgeregten Menschenmassen auf den Straßen gesellten sich immer neue unruhig fragende Nachbarn und sie alle warfen ihre Stimmen aufgebracht und besorgt durcheinander bis sie zu einem unverständlichen Gewirr aufgerollt waren, dass jäh von den heulenden Polizeisirenen unterbrochen wurde.
Gehen Sie zurück in Ihre Häuser! Zum näheren Zeitpunkt gibt es noch keine genaueren Informationen! Bitte haben Sie Verständnis! Geraten Sie jetzt nicht in Panik!
„Wir gehen jetzt auch besser wieder nach drinnen. Einverstanden?“
Sie schloss hinter sich sorgfältig die Türe und sperrte das Chaos hinaus in diese ungewöhnliche Nacht. Gemeinsam saßen sie auf dem Sofa und taten so, als sähen sie sich einen Film an, doch der beiden ungeteilter Aufmerksamkeit galt noch immer dem erstaunlichen Ereignis, dass sie unvermittelt aus ihrem phlegmatischen Träumen gerissen und wieder aufgerüttelt hatte; das ihnen zeigte, dass noch jemand hier war um den sie sich kümmern mussten, der ihnen etwas bedeutete und dem sie es schuldig waren, aufzustehen und weiterzugehen.
Er legte die kleinen Arme und seine Mutter und sagte: „Wir müssen jetzt auf einander aufpassen.“
Und zum ersten Mal seit so unglaublich langer Zeit rang sie sich ein Lächeln ab – es glich nicht dem müden, unaufrichtigen Lächeln, als sie ihrer Mutter sagte, sie würde das schon irgendwie schaffen. Das alles – die Situation bewältigen. Seine Wärme erreichte ihr Herz und erfüllte alsbald schon ihren ganzen Körper. Sie konnte zu guter Letzt endlich wieder aufrichtig lächeln – und sie empfand es als ein magisches Gefühl. Es musste wohl immer erst etwas geschehen, damit die Menschen den Zauber erkannten, der um sie herum in der Welt Wirklichkeit wurde und den sie eigentlich längst besaßen. Schon die ganze Zeit über ihr eigen nennen durften, der das Leben lebenswert machte.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Sie gab ihm fürsorglich einen Kuss auf die kleine Stirn und sah wieder zurück auf den Fernsehbildschirm. Lächelnd.

Δ​

Er warf seinen Zuschauern – nicht nur denjenigen, die in seinem spartanisch-postmodernen Studio anwesend waren, sondern allen voran denen, die es sich vor den Bildschirmen, ganz gleich wo, gemütlich gemacht hatten – einen eindringlichen-durchbohrenden Blick zu und fuhr auf seiner dramatischen Schiene fort:
„Der Zwischenfall der vergangenen Woche hat uns allen aufgezeigt, dass unsere Technologien, unsere Warnsysteme, Berechnungen, Beobachtungen und Vorhersagen nicht ausreichen, oder schlicht noch nicht so weit sind, um uns vor den Gefahren, die dort draußen in der absoluten Dunkelheit auf uns lauern, frühzeitig zu warnen. Bei vielen von ihnen, den Zuschauern zu Hause, aber auch bei Ihnen, die Ihr hier heute bei mir seid, ist die Angst nun bestimmt groß, wir könnten schon bald nicht mehr so viel Glück haben. Anstatt einer Katastrophe wie dieser nur knapp zu entrinnen, könnten wir schon bald wirklich die Zielscheibe von einem Asteroiden sein und getroffen werden.“
Er schlug seine Beine übereinander, stützte seinen Kopf – mit sorgenvoller Miene auf dem übermäßig geschminkten Kopf – auf seiner Faust ab und las den Namen seines nächsten Gastes von der obersten Karteikarte ab und versuchte diesen für die nächsten zehn Sekunden, die die Ankündigung wohl an Zeit in Anspruch nehmen würde, im Gedächtnis zu behalten.
„Bitte begrüßen Sie nun zusammen mit mir, meine Damen und Herren, recht herzlich den renommierten Astrophysiker am MIT, dem Institut für Technologie in Massachusetts, Professor Doktor Neil Sagan.“
Der zuvorkommende Applaus war sein Zeichen gewesen und als er aus dem Verborgenen die Bühne betrat winkte er dem Publikum bescheiden zu, aber doch auf seine Art und Weise höflich, und nahm auf dem Stuhl neben dem Moderator seinen Platz ein. Das Gemurmel und der Achtung anerkennende Beifall flauten langsam ab, bis im Zuschauerraum wieder Ruhe eingekehrt war. Der Physiker wirkte nervös und seine Gesten während der näheren Vorstellung seiner Person waren eher zurückhaltend für jemanden, der sich im grellen Scheinwerferlicht befand. Manches Mal schloss er sogar seine Augen, während er redete und auf die ihm gestellten Fragen eine Antwort gab.
„Neil, darf ich Neil zu Ihnen sagen?“, er wartete die Zustimmung des Professors nicht ab und fuhr unbeirrt fort, „Wie kam es, dass Sie sich für diesen Beruf entschieden haben? Ich bin mir sicher, dass sie ziemlich häufig diese Art von Frage gestellt bekommen, schließlich ist es ein faszinierender Bereich, in dem Sie da arbeiten!“ Der Mann saß in seinem leuchtend roten Sessel wie auf glühenden Kohlen und blickte dem Moderator anfangs verstohlen ins Gesicht. „Wie war die Frage doch gleich?“
Sein Gegenüber versuchte den Augenblick zu retten; lächelte und johlte hinüber zum Publikum: „Ja, so sind sie unsere Wissenschaftler und zerstreuten Physiker. Nicht wahr?“
„Spaß beiseite, Neil.“ Er räusperte sich kurz. „Konzentrieren wir uns nun doch einmal auf den… ja, sagen wir merkwürdigen Zwischenfall von vor gut zwei Wochen. Was hat uns da alle so in Angst und Schrecken versetzt? Ich muss gestehen, es hat mich schon ein klein wenig aufhorchen und stutzig werden lassen, als da plötzlich der Nachttisch meiner Frau vibrierte und ich mir doch sicher war, dass sie nicht vergessen hatte, ihren kleinen Freund und Helfer auszuschalten. War es nicht so, meine Freunde?“
Sein unverschämter Stolz über die anzügliche Bemerkung ergoss sich über die Menschenmenge, die ihm mit mitleidsvollem Beifall ihr Unverständnis für das rapide abfallende Niveau bezeugte. Der Professor trat dazwischen und wies ihn in seine Schranken: „Zum einen sehen uns dort draußen vor den Bildschirmen Kinder zu, weshalb ich mir diese Art von Humor verbitte, und zum anderen kam ich Ihrer Einladung in die Sendung in der festen Überzeugung nach, es wäre Ihnen ein großes Anliegen, die Allgemeinheit näher über dieses ungewöhnliche Phänomen aufzuklären.“
Seine Gesicht verfinsterte sich leicht, als er weiter sagte: „Sollte es also Ihre Absicht sein, sich aus den Geschehnissen einen Spaß zu machen, bin ich leider Gottes nicht gewillt meinen Teil dazu beizutragen. Ich bin ein seriöser Astrophysiker und kein Wissenschaftsclown, der sich anlässlich Kindergeburtstagen die Gesetze der Physik zu eigen macht um sein Publikum in Staunen und Ehrfurcht zu versetzen.“
Man konnte zu Hause oder ebenso ihm aufgeheizten Studio nur vermuten, wie das Streitgespräch während der Werbeunterbrechung zwischen den beiden hinter den Kulissen wohl abgelaufen sein mag, doch als sie wieder zurückkehrten verhielten sich sowohl der Moderator als auch Neil Sagan, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen.
„Willkommen zurück, meine Damen und Herren, mein heutiger Gast hier bei mir zu Besuch ist Professor Doktor Neil Sagan, Astrophysiker am MIT, mit dem wir heute Abend über das kuriose Naturschauspiel vor zwei Wochen sprechen möchten.“ Seine stark gebleichten Zähne schimmerten im Flutlicht und verliehen ihm ein gar unnatürliches Aussehen.
Er ließ sich in seinen Sessel fallen und schlug die Beine gemütlich übereinander; sein Zeigefinger ruhte nachdenklich an seinem Kinn und er hatte die goldenen Knöpfe seines Sakkos geöffnet, dass nun lässig das perlweiße, knitterfreie Hemd darunter offenbarte.
„Professor Doktor Sagan, viele von unseren Zuschauern und auch die Internetgemeinde in den sozialen Netzwerken sprachen von beziehungsweise dachten an eine Sternschnuppe, die schlicht ziemlich nahe an der Erde vorbeigezogen ist, aber Sie wissen es besser. Was war dieses Etwas?“
Der noch immer recht unruhig wirkende Wissenschaftler lehnte sich zurück, nahm seine Hornbrille ab und begann: „Das war kein einfacher Meteor, den wir da haben beobachten können. Meteoriden sind natürliche Erscheinungen, die durch Kometen entstehen. Ich möchte es ein wenig anschaulicher erklären.“
Vor seinem inneren Auge passierte noch einmal die gewaltige Feuerkugel.
„Kometen kann man sich wie riesengroße, schmutzige Schneebälle aus der Oortschen Wolke vorstellen. Sie bestehen zu zwei Drittel aus Schnee und Eis und zu einem Drittel aus Gesteinsstaub und ich kann mir vorstellen, dass ein jeder weiß, was mit Eis passiert, wenn es zu nah an eine Wärmequelle kommt? Es schmilzt, oder wenn es sehr heiß ist, wir sprechen hier immerhin von der Sonne als unsere Wärmequelle, verdampft es. Haben Sie noch die Bilder in Erinnerung von Hale-Bopp, den man 1997 mit bloßem Auge den Himmel erleuchten sehen konnte?“
„Ja, ich erinnere mich. Das war ein beeindruckendes Spektakel, das leider von der UFO-Verschwörung und der damit zusammenhängenden Tragödie in den Schatten gestellt wurde. Und es ist auch schade, dass er erst wieder in etwa 2.400 Jahren zu sehen sein wird.“
Er schien sich noch die begeisterten Schlagzeilen aber auch die Schreckensnachrichten aus Rancho Sante Fe von damals ins Gedächtnis rufen zu können und versuchte mit seinem rudimentären Wissen zu glänzen. Neil Sagan ging jedoch nicht näher darauf ein und erklärte weiter:
„Durch diese Veränderung des Aggregatszustandes bildet sich eine Koma; das ist eine enorme, eine gigantische Wolke aus Dampf und Staub, manchmal sogar größer als unsere Erde und natürlich – sonst wäre ein Komet kein Komet und eine Sternschnuppe nicht eben diese – ein Schweif aus Gasen und Staub, der sich über etwa hundert Millionen Kilometer am Firmament erstreckt.
Wie kommen wir nun von einem Kometen zu einem Meteor? Zu diesen eigentlich kaum hörbaren, blauweißen Lichtstreifen, die dort oben in der Ferne für den Bruchteil einer Sekunde aufleuchten, wie eine Flamme kurz vor der Weißglut?“
Er schloss wieder seine Augen und unternahm angestrengt den Versuch diese wunderschönen und ansehnlichen Mysterien aus dem Weltraum für die gebannt lauschende Bevölkerung begreiflich zu machen. „Der Kosmos steckt voller Wunder mit denen er uns beschenkt und wir können nur so wenige von diesen erklären. Die Frage, woher wir kommen, versteckt sich noch immer irgendwo dort draußen und vielleicht wird es uns einmal gelingen – irgendwann in ferner Zukunft – eine Antwort darauf zu finden. Doch fürs Erste beschränken wir uns lieber auf dieses eine Wunder von vor knapp vierzehn Tagen.“
Sein Blick richtete sich auf die Kamera und er sprach in einer tiefen, gelassenen Stimmlage: „Ein Meteor ist ein Staubteilchen, das von einem Kometen freigesetzt wurde, wenn Schnee und Eis verdampfen. Sobald dieses Teilchen in die Erdatmosphäre eintritt verglüht es aufgrund der hohen Reibungswärme und es entsteht, was im Volksmund auch als Sternschnuppe bezeichnet wird.
Was uns da allerdings um Haaresbreite verfehlt hat, in dieser eigentlich ganz normalen Nacht, war kein einfacher Meteor.“
Der kleine Junge, welcher schier verzaubert seinen bisherigen Abend damit verbracht hatte, dem fremden Mann, der da gefangen war in dem Kasten, auf das Genaueste zu lauschen, wandte sich zu seiner Mutter um, die hinter ihm gerade ihre frischgebrühte Tasse Kaffee auf dem Beistelltischchen neben dem Sofa abgestellt hatte um es sich dort bequem zu machen, und fragte sie: „Du machst das doch auch, Mama. Das alles mit den Sternen und Sonnen. Wieso haben die dich denn nicht eingeladen?“
Sie schmunzelte über seine Aufmerksamkeit und sie fuhr ihm mit einer Hand durch sein weiches Haar, während sie sagte: „Weil ich dann dort bei diesem unausstehlichen Moderator sitzen müsse und nicht hier bei dir sein könnte, mein Schatz.“
Sie musste lachen und sagte: „Außerdem ist das nicht mein Fachgebiet. Ich konzentriere mich mehr auf die stellaren Himmelserscheinungen.“ Er nickte ihr verständnisvoll zu. Schon so oft hatten sie darüber geredet und saßen gemeinsam draußen auf dem Balkon, beobachteten die Sterne durch das silbern glänzende Teleskop, welches ihm seine Eltern als Geschenk zu seinem sechsten Geburtstag überreicht hatten.
„Und kennst den Mann im Fernsehen?“, wollte er weiter wissen.
Sie hatte vorher in der Küche zufällig den Namen aufgeschnappt und sagte ohne hinsehen zu müssen: „Ja, er war mein Professor und ich habe einmal mit ihm zusammengearbeitet. Er ist ein sehr berühmter Physiker.“ „Bestimmt wirst du auch einmal so berühmt sein.“
Sie waren den Ausführungen im Fernsehen wieder ganz Ohr und der kleine Junge lehnte sich zurück an die Knie seiner Mutter.
„Um die Sonne dreht – wie die Erde ja auch – ein gewaltiger Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter seine Bahnen. Man geht davon aus, dass der Gürtel unseres Sonnensystems aus über einer Milliarde solcher Planetoiden, wie größere Asteroiden auch genannt werden, besteht, von denen bisher mehr als zweihunderttausend erfasst worden sind. Etwa einhundert davon sind größer als zweihundert Kilometer und der größte von ihnen ist Ceres mit einer Größe um die neunhundertfünfundsiebzig Kilometer.“
Die Stimme des Wissenschaftlers nahm einen ernsten Ton an.
„Auf der Erde werden jährlich etwa dreitausend Einschläge von Meteoriten verzeichnet, die mehr als einen Kilo wiegen. Die meisten von diesen fallen jedoch ins Meer und bleiben verschollen, beziehungsweise werden die, die auf dem Festland einschlagen im wahrsten Sinne des Wortes pulverisiert. Bei Proserpina 19001, dem Meteoriten von vor zwei Wochen, sprechen wir von vielen tausenden Tonnen. Und obwohl dieser die Erde glücklicherweise verfehlte muss man von einem Meteoriten sprechen, also einem Stück eines Planetoiden.“
Eine ungeduldige Zuschauerin rief dazwischen:
„Mister Sagan, Sie sagen, wir hätten Glück gehabt. Was für Ausmaße hätte ein Einschlag angenommen, von einem Meteoriten dieser Größenklasse?“
„Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Fragen an unseren Gast bitte erst am Ende der Gesprächsrunde zu stellen.“, der Moderator schien nicht wirklich verärgert zu sein, da es womöglich auch seine nächste Frage gewesen wäre.
„Ist schon in Ordnung. Ich wäre ohnehin gleich näher darauf eingegangen.“, sagte Neil Sagan und öffnete dabei den obersten Knopf seines Hemdes um freier Luft holen zu können und seinen sichtlich verspannten Nacken etwas zu schonen.
„Nun ja. Was soll ich sagen. Die Auswirkungen wären verheerend gewesen. Wirklich verheerend! Die Kräfte, die Proserpina freigesetzt hätte, wären vergleichbar gewesen mit der Detonation abertausender Atombomben. Das muss man sich vorstellen. Ich habe Bilder gesehen, wie schreckerregend Nagasaki und Hiroshima nach den jeweiligen Explosionen aussahen und möchte mir nicht ausmalen, wie die Erde nach einem Einschlag dieser Größenordnung wohl ausgesehen hätte.“
Kartographen hätten das Antlitz der Erde neu einfangen und die Geschichtsbücher über den Verlauf der Menschheit um ein grausames Kapitel erweitert werden müssen.
„Wir hätten hier in diesem Fall hunderte Millionen Toter zu beklagen gehabt, je nachdem wo der Aufprall genau stattgefunden hätte. Man muss wirklich sagen, dass wir unheimliches Glück hatten. Zum einen, dass die Erde nicht schneller um die Erde kreist, da wir uns ansonsten wohl auf seiner Bahn bewegt hätten und zum anderen, dass unsere Anziehungskraft nicht ausreichte, um den Meteoriten von seiner eigenen Bahn um die Sonne abzulenken.“
Der Moderator mutete beinahe sprachlos an und brachte in einem schwerverständlichen Stottern heraus: „Von welchen Folgen sprechen wir genau, Professor?“
Er sah direkt zum Sprecher und sagte verdeutlichend: „Wenn uns der Einschlag nicht aus unserer Umlaufbahn geworfen hätte, hätten die Überlebenden trotzdem an den Spätfolgen schrecklich zu leiden gehabt. Nicht nur, dass ein Aufprall unmittelbar so viele Tote zur Folge gehabt hätte, die weiteren Auswirkungen auf unser gesamtes Leben wären schier unvorstellbar gewesen. Ich gehe davon aus, dass die Einschlagsstelle und ein gewisser Radius darum herum nicht sofort wieder bewohnbar oder die Erde dort fruchtbar gewesen wären. Oder in der Agrarwirtschaft beispielsweise. Es wäre in den Jahren bis hin zu Jahrzehnten darauf durch die Luftverschmutzung und der schlicht irreparablen Zerstörung der Ozonschicht zu entsetzlichen Ernteausfällen gekommen, aber auch viele Nutztiere sowie generell Flora und Fauna wären wohl mancherorts dahingerafft worden.“ „Wir sehen immer wieder Bilder von riesigen Metropolen, die Warnungen herausgeben aufgrund der schlechte Luft und des Smogs. Man stelle sich nur vor, dass es dann so etwas auch beispielsweise auf dem Land gegeben hätte. Wo Städter doch eigentlich ihren Urlaub verbringen, um eben diesem Problem zu entgehen. Kaum zu glauben.“, warf der Moderator nachdenklich ein. Der Professor bestätigte seine Bedenken und fügte hinzu: „Von der Wirtschaft im Allgemeinen getraue ich mich gar nicht erst zu sprechen – sie hätte weltweit für geraume Zeit noch verrückter gespielt als sie sowieso schon tut. Wir haben das irrwitzige Auf und Ab an den Aktienmärkten in der vergangenen Woche wohl alle sorgenvoll beobachtet.“
„Meine Güte, in der Wirtschaft schien es so, als wäre es zum Schlimmsten gekommen! Und so scheint es noch!“
„So ist es, Sie sagen es…“
Seine Stimmung hatte sich mit einem Schlag verändert und senkte den Kopf, betrachtete dabei gedankenverloren seine Hände, bevor ihm der Moderator wieder seine volle Aufmerksamkeit abverlangte und von ihm wissen wollte: „Wie wäre es – wenn überhaupt – auf lange Sicht weitergegangen?“
„Wir hätten uns an die klimatischen und geologischen Veränderungen schnellstmöglich anpassen müssen. Es wäre vermutlich zu starken Wetterkapriolen gekommen, das heißt vermehrt Erdbeben und Vulkaneruptionen, sowie Stürme und andere Unwetter, die das Festland verwüstet hätten. Das alles hätte noch unzählige weitere Menschenleben gefordert.“
Die Zuschauer und auch der Gesprächsleiter waren zutiefst bestürzt über das beängstigende Geständnis des Astrophysikers über die potentiellen Ausmaße, die ihnen aufzeigten, wie machtlos die Menschen doch gegenüber den Weiten des Alls waren.
„Hollywood könnte in einem absurd teuren Weltuntergangs-Blockbuster nicht schlimmer darstellen, was Sie uns soeben mitgeteilt haben, Professor. Wie wir bereits oft gesagt haben – und ich kann es nur noch einmal betonen, wir hatten unbeschreibliches Glück, dass uns… wie war der Name? Proserpina?“
„Ja, antwortete Neil Sagan knapp.
„Proserpina verfehlte.“
Beide stimmten ein Schweigen an und ließen das Gesagte auf sich wirken, als der Moderator plötzlich bemerkte:
„Vielen Dank, Herr Professor. Wir hätten heute Abend keinen besseren Gast bei uns haben können. Und Sie, meine Damen und Herren Zuschauer, haben im Anschluss an die Sendung noch die einmalige Gelegenheit ihre Fragen an Professor Doktor Neil Sagan loszuwerden.“ Er drehte sich noch einmal kurz um und flüsterte ihm hörbar zu: „Danke noch einmal, dass Sie den weiten Weg hierher in den Süden auf sich genommen haben.“
„Gern geschehen“, sagte er und erhob sich aus seinem heimelig anmutenden Wohnzimmersessel und war bereits drauf und dran, das Studio wieder zu verlassen. Doch er stockte.
„Ich kann das nicht“, murmelte Professor Doktor Neil Sagan. „Ich kann das nicht machen!“
„Was nicht machen?“ Der Moderator hatte die gedämpften Worte aufgeschnappt.
„Wovon sprechen Sie, Mister Sagan?“ Nun ging alles furchtbar schnell.
Er machte kehrt und stellte sich direkt vor die Kameras und die Zuschauer und rief aus vollem Halse: „Die Menschheit hat ein Recht darauf die Wahrheit zu erfahren!“
Er wandte sich dem Moderator zu und verfiel in ein schreiendes Wimmern und Klagen: „Wir werden alle sterben! Ihre Mutter wird kommen. Sie ist auf dem Weg und wird uns alle vernichten und die wollen, dass ich dicht halte?“ Es war mehr eine verständnislose Frage, als ein Ausruf. „Einzig um eine Panik zu verhindern und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber das ist nicht gerecht! Wir sind am Ende, die Menschheit…“

Ein Störungssignal.
Das Programm war abgeschaltet worden und die rasch eingeblendeten Werbefilme beendeten – eher unterdrückten – das hysterische Greinen und die allem Anschein nach unverständlichen Warnungen des Professor Doktor Neil Sagan, als wollten sie die Zuschauer schnell davon ablenken und auf andere Gedanken bringen.
„Mama?“
Sie saß regungslos auf dem Sofa und starrte entgeistert auf den Bildschirm. Ihr Sohn stellte sogleich den Fernseher ab und versuchte ihre Aufmerksamkeit davon abzuwenden. Er öffnete rasch die Türe des Balkons und eine frische, kaum spürbare Brise trieb die seidenen Vorhänge hinein in das Wohnzimmer. Der kleine Junge nahm sie anschließend an der Hand und stolperte mit seiner Mutter zusammen hinaus, wo ihnen die untergehende Sonne erschöpft entgegenlächelte. Der Himmel war in ein angenehm ruhiges Lila getaucht und an einem kleinen Teil davon vermischte es sich mit einem schwachen Blau, welches langsam zur schwarzen Nacht verblasste. Sie sah hinunter zu ihrem Sohn und sagte:
„Ich kann verstehen, warum es dir so sehr gefällt, den Himmel zu beobachten. Aus diesem Grund habe ich mir auch diesen Beruf ausgesucht. Meine Mutter hatte immer gesagt, wenn du nicht auf den Boden siehst, fällst du auf die Nase. Aber ich war mit meinem Kopf, wie du auch, immer in den Wolken.“
„Es ist so viel schöner dort oben.“
Sie strich ihm langsam und vorsichtig über die Wange und beugte sich zu ihm hinab. „Ich denke, Träume und Hoffnungen und vielleicht auch der Glaube sind jetzt die einzigen Dinge, die uns noch am Leben halten. Aber gemeinsam schaffen wir alles.“
„Ich hab dich lieb, Mama.“
„Ich dich auch, mein Schatz.“
Beide sahen auf zu den Sternen, die wie einzelne, kleine Diamanten weitläufig über die rabenschwarze Leinwand verteilt waren. Sie erkannte das Schwert unterhalb des Gürtels von Orion sowie dessen Stern Rigel nahe des Eridanus und weiter oben über dem Sternenbild des Jägers erstrahle Gemini. Sie sah in Richtung Osten. Der Skorpion war nicht aufgegangen – so wie es sein sollte.
Ihre Gedanken wanderten auf dem Weg der Zeit wieder in die Vergangenheit zurück und sie dachte an die Worte des Professors. Dann sagte sie zu ihrem kleinen Jungen:
„Du hattest Recht. Er kommt wieder – und das früher, als wir dachten.“
Sie hob ihren Sohn hoch – er war unerwartet schwer geworden und wurde so schnell groß. Zu schnell, wenn es nach ihr ging. Noch einmal sah sie sich auf dem Balkon um und bemerkte: „Vielleicht habe ich die Blumen doch zu früh herausgestellt.“
Darauf ging sie gemeinsam mit ihrem Sohn auf dem Arm zurück ins Wohnzimmer, in dem das Landschaftsbild der kleinen Altstadt wieder seinen altbekannten Platz an der Wand über dem beigebraunen Ledersofa eingenommen hatte und nun nichts mehr an die grauenerregenden Sekunden erinnerte, die sie durchlebt hatte, als der Meteor über ihren Köpfen hinweggerast war.
„Schon bald werden wir ihn wieder sehen“, wiederholte sie.
Er schloss die Augen bei dem Gedanken.
„Darf ich heute bei dir im großen Bett schlafen?“, fragte er.
„Aber gern, mein Schatz.“
Die veraltete Stereoanlage im Schlafzimmer der Eltern spielte noch Time von Hans Zimmer.
Es war eine sternenklare, ruhige Nacht, deren Stille urplötzlich von zwei Salutschüssen zerrissen wurde, die die Ankunft von Ceres nicht abwarten wollten.

Er lag dort auf dem Rücken und beobachtete voller Staunen und Wertschätzung die zahllosen fernen Dimensionen und deren Galaxien. Neben ihm auf der malerischen Wiese im Garten saßen sein Held und seine Mutter Hand in Hand nebeneinander und sahen vom Glück erfüllt hinüber zu ihrem verträumten Sohn. Zu ihrem kleinen Jungen.

Δ​

 

Hallo Cofias,

ich habe es beim ersten Anlauf nicht geschafft. Mag sein, dass ich noch einmal reinschaue, wenn ich mehr Ruhe habe. Ich finde den Text aber auf jeden Fall eine Rückmeldung wert. Deshalb schreibe ich Dir kurz.

Zuerst mal das aus meiner Sicht Positive: Du beherrschst die Grundlagen des Schreibens sehr gut. Über das Handwerkliche musst Du Dir nur noch im Kontext Deiner Stilfindung Gedanken machen. Ob das ein schwieriger Prozess wird oder nicht, ist von außen schwer einzuschätzen. Manchmal tun sich Leute, die weniger gut schreiben als Du, wesentlich leichter damit, ihren Stil zu entrümpeln ...

Entrümpeln, das mag despektierlich klingen. Aber Dein Text ist voll von Adjektiven und Adverbien:

Seine wundervolle Mutter hatte den Regen in hoffnungsvoller Absicht erwartet und vorsorgehalber die Vielzahl an Blumen, die üblicherweise ihren Platz im Wohnzimmer einnahmen ...
Die rotbraunen Plastikübel und einige, in zeitaufwendiger Kleinstarbeit verzierte Keramiktöpfe ...
Vor ihr stand ein halbleeres Glas Rotwein und er hatte ihr beweisen wollen, dass sie eine gute Köchin sei und hatte sogar die letzten Reste vom Teller aufgegessen ...

Das Problem dieser Schreibweise liegt in ihrer Schwere, ihrer Langsamkeit und ihrer Überfülle. Der Text schleppt sich sentimental und bedeutungsheischend dahin. Beim genaueren Hinsehen entpuppt sich die scheinbare Wichtigkeit all der überbordenden Informationen aber als Fake: hoffnungsvolle Absicht, zeitaufwendige Kleinstarbeit, letzte Reste – alles überflüssige Wortmacherei. Die Neigung Texte mit Adjektiven zu spicken hat anfangs wohl jeder, der schreibt. Ich kann da nur empfehlen, ordentlich auszumisten.

Dann zu den poetischen Ausflügen des Textes. Es gibt sicher Freunde von Beschreibungen wie diesen hier:

Auf einem Landschaftsbildnis – die Szene in mildwarmen Pastelltönen festgehalten – das über dem beigebraunen Ledersofa den Raum schmückte, war eben diese Altstadt zu bestaunen. Sie thronte auf einem leichten Hügel und befand sich inmitten eines künstlerischen Bühnenbildes. Die Anhöhe wurde von gelbglänzenden Rapsfeldern und leuchtenden Sonnenblumen umrahmt und der Weg hinauf zum abgelegenen Ort war von hohen Zedernbäumen und wildaustreibenden Eichen eingefasst. In der Ferne zeichnete sich einzig der unerreichbare Horizont ab, der den versteckten, kleinen Schatz nur noch entlegener wirken ließ.

Das ist sprachlich auch solide gemacht. Aber für mein Empfinden gibt es insgesamt zu viele von solchen Stellen im Text. Dadurch bekommt das Ganze einen süßlichen Geschmack und der Text gerät in die Nähe des Kitsches – wenn ein Zuviel von Gefühl beschworen wird, entsteht zwangsläufig irgendwann der Eindruck des unechten Gefühls. Ich fände es wunderbar, wenn solche Formulierungen nur ganz selten im Text auftauchen würden.

Zum Inhaltlichen kann ich nur so viel sagen, dass es mir für eine Science Fiction Geschichte zu wenig Science Fiction war.

So viel erst mal von mir.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

vielen Dank, dass du dir die Zeit für eine Antwort genommen hast.
Das mit der Stilfindung ist ein großes Problem, weil ich beim Schreiben manchmal zu viel möchte und von allem noch ein bisschen - und dann muss ich erst einmal wieder aufhören.

Ich schreibe schon länger, werde aber meine 'älteren' Kurzgeschichten erst nach und nach online stellen, damit das Forum damit nicht überlade.

Zu deiner Kritik an Stellar:
Danke!
Ich werde mir den Aspekt mit Adjektiven/Adverbien hoffentlich abgewöhnen und die Sache in Zukunft strukturierter angehen, d. h. entrümpeln.

Zu Science-Fiction:
Ich habe versucht eine Alltagssituation mit etwas Ungewöhnlichem zu durchbrechen. Ich bin sehr interessiert an Astronomie und habe, als ich die Geschichte geschrieben habe, Alice Munros Too Much Happiness gelesen, weshalb auch diese Mischung aus Naturschauspiel und Trivialität entstanden ist. Ich muss gestehen, beim Auswählen der Stichpunkte bin ich ins Stocken geraten, weil es nicht wirklich großartig viel mit Science-Fiction zu tun hat - besser wäre wohl die Zuordnung 'Sonstiges' gewesen.

Noch einmal vielen Dank für deine Antwort, hat mich gefreut und werde ich mir zu Herzen nehmen.
Grüße
cofias

 

Hallo Cofias,

herzlich Willkommen auf der Seite!

Der erste Satz ist gut, ein echter Reinzieher, obwohl er ja nicht sonderlich spektakulär wirkt im ersten Moment. Egal, bei mir hat er funktioniert, doch danach wird es etwas konfus.

Delta, der vierte Buchstabe im griechischen Alphabet, wird als kleiner Buchstabe in mathematischen Gleichungen eingesetzt, wenn eine wegabhängige Änderung von Prozessgrößen auftritt.
Wozu diese Erklärung? Klingt wie ein Auszug aus Wiki.
Dann die Sache mit dem Penrose-Dreieck. Wem das kein Begriff ist, der könnte an dieser Stelle schon aussteigen. Das solltest du entweder genauer erklären oder rauswerfen. Allgemein läuft dieses anfängliche Gedankenspiel ins Leere, da der Bezug zur Person verloren geht.
Es durfte keinen Anfang haben und kein Ende finden.
Na ja, zumindest die Kanten haben ja Anfang und Ende. Also hier würde der Kreis mehr Sinn ergeben, aber der ist ja zu glatt.
Das führt mich auch gleich zu einem Hauptproblem, das ich mit dem Text hatte: Für einen "kleinen Jungen" muten diese Vorstellungen vom Leben als Dreieck fremdartig an. Obwohl mir hier der Bezug zu der Flagge gefallen hat, die über dem Sarg zusammengefaltet wird.

aber noch ertragbar und nicht unangenehm.
Oft ist es zu unpräzise, wie hier. Ja, was denn?

Sie überlegte, mit welchen Worten sie ihre Botschaft einem so kleinen Kind verständlich übermitteln konnte. Er war ein gescheiter Junge, der bereits zu viel mitmachen musste, weshalb sie sich in letzter Zeit immer häufiger dabei ertappte, ihre Worte behutsam auf die goldene Waagschale zu legen. Wie sollte sie die wild durcheinander gewirbelten Emotionen, die sie seit etwa einem halben Jahr schon gefangen gehalten hatte, vorsichtig in einem Gespräch freilassen? Allein der Versuch kam ihr unmöglich vor.
Zu viel Erzählendes! Diese ganzen Informationen kannst du auch in einem gut geschriebenen Dialog unterbringen. Dann hat das mehr Effekt.

Er murmelte – sagte es mehr zu sich selbst,[Komma kann weg] als zu seiner Mutter.
Auch die Gedankenstriche empfand ich in der Konzentration als störend.

Anstatt nach unten zu sehen[,] sah er empor in den Himmel.
Er versuchte[,] den zu Tode gelangweilten Gesprächen auf der Straße zu entgehen,

Sonja, die Koseform von Sophia – das wäre sein Name gewesen, hätte er als Mädchen das Licht der Welt erblickt. Nicht der Weisheit wegen, sondern aufgrund des italienischen Wortes ‚sogno‘ oder vom russischen ‚son‘, der Traum. Die Weise, die Träumende, die Träumerin. Er war auch ein Träumer.
Das ist wieder so etwas, da denke ich, das kann kein Junge denken. Seltsam ist er ja schon, aber so verdreht?
Andere Aspekte haben mir aber auch ausgezeichnet gefallen: Das war die Vorstellung des Himmels als Garten oder Rasenfläche. "Es sprossen die Sterne" oder so. Und auch die Autos und Busse als Wale, die ihre Beute, die Menschen, durch das asphaltierte Meer jagen. Das ist ein intelligentes Bild, sozialkritisch und aus der Perspektive eines Kindes nachvollziehbar.

Hie[r] und da blitzte ein Funken kindlicher Naivität

Sie grasten das saftige Blau des Firmamentes ab und zogen anschließend[e] weiter.

Ein frischer Wind marschierte über den kleinen Jungen hinweg, kräuselte sich in dessen Haaren bis er sich darin verfangen hatte. Er warf einzelne, dünne Strähnen wild hin und her und versuchte sich aus diesen zu befreien und weiterzuziehen.
Hier spricht ganz klar der Erzähler. Lieber in der Perspektive bleiben. Ist dem Jungen kalt? Was fühlt er außer Leere?

seine Augen und betete[,] er möge am nächsten Morgen aufwachen und das Porträt der Familie,

Auf der polierten Truhe aus dunklem Palisanderholz weinte ein Gesteck aus leuchtenden, weißen und roten Rosen dem Verstorbenen nach.
Das strapaziert meine Vorstellungskraft zu sehr. Ein weinendes Gesteck, das gibt es nicht.

wusste der kleine Junge, gleich würden sie ihn begraben und damit auch einen Teil seines Herzens beisetzen und er wäre für immer aus seinem Leben hier in der wirklichen Welt verschwunden. Man mochte noch sie viele Kerzen für ihn anzünden, das Licht seines Lebens war auf ewig ausgelöscht.
Woher kommt nun die Erkenntnis. Dieses rationale Bild steht irgendwie im krassen Widerspruch zu dem Tagträumer, den ich bisher im Kopf hatte.

Also ich habe die Gesichte fast komplett gelesen, was für sie spricht. Das Setting, wie du es präsentierst, das war teilweise ansprechend. Klar, viel zu viele Adjektive, schlanker muss das werden. Übersprungen habe ich den Teil mit dem Astrophysiker. Der Dialog klang einfach zu stumpf. Da war nichts authentisch. Gleich am Anfang des Absatzes muss ich mich fragen, weshalb ein verkorkster Wissenschaftler gefeiert wird wie ein Popstar. Und wie sich der Moderator in den Vordergrund drängt, obwohl er eigentlich nichts zu sagen hat, das stört einfach. Da würde ich Zeit investieren, um den Absatz zu glätten, weil er eigentlich eine wichtige Funktion erfüllt. Eine authentische Erklärung dieses Zukunftsszenarios ist aus meiner Sicht wünschenswert. Besonders wenn man das Scifi-Genre bedienen will.

Ich schreibe schon länger, werde aber meine 'älteren' Kurzgeschichten erst nach und nach online stellen, damit das Forum damit nicht überlade.
Warum machst du nicht was Neues und versuchst gleich mal das mit den Füllwörtern umzusetzen?
Du kannst schreiben, definitiv, man merkt auch, dass du kein Anfänger bist, jedoch musst du dich noch stärker in die Leserschaft hineinversetzen, die schnell gelangweilt ist. Wenn sich alles nur im Kreis dreht - oder im Dreieck - da geben viele auf.

Schöne Grüße

Hacke

 

Aischylos ... *seufz*

Danke für Deine Geschichte.


Das Leben ist eine Spirale. Kein Dreieck. Auch, wenn einem das viele einzureden versuchen. Setze da an.


Es verändert sich nicht nur "stets etwas", - es verändert sich alles.

Besten Gruß

Runa

 

An Hacke:
Vielen Dank für deine Bewertung!
Sobald es wieder ruhiger ist hier in Spanien (Uni, Besuche etc.) werde ich mich an die Überarbeitung setzen, weil es nur gerecht ist, dass ich mir dafür Zeit nehme, wenn ihr eure Zeit aufwendet und mir dabei helft, besser zu werden! Nochmals vielen, vielen Dank!

An Runa:
Ich mag den Gedanken - jetzt müsste man nur wissen, wer entscheidet, ob es aufwärts oder abwärts auf das Ende zugeht! Wobei aufwärts ist immer der beschwerlichere Weg...
Viele Grüße zurück!!

 

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