Schwebende Schlösser
Deine Hand ist kalt, als ich nach ihr greife. Ich umschließe sanft deine zarten Finger und denke an früher, als du es warst, die immer nach meiner Hand griff und mich nach draußen zog, ein breites Lächeln im Gesicht. Ich wünschte, alles wäre noch wie damals.
„Erzähl mir eine Geschichte“, sagtest du und wir legten uns auf das taufeuchte Gras, ließen uns von der Sonne wärmen uns sahen zu den weißen, flauschigen Wattetürmen empor, die langsam über den Himmel zogen. Wie schwebende Schlösser.
Ich erfand für dich die Bewohner. Prinzessinnen und Prinzen, Elfen und Einhörner. Sie erlebten wilde Abenteuer und immer wolltest du mehr hören. Manchmal wusste ich nicht mehr weiter, doch dann sah ich dich an und mir fiel wieder etwas ein. Gebannt lauschtest du mir, und wir vergaßen ganz die Zeit, bis Mama nach uns rief.
Dann spieltest du den ganzen Tag mit Freunden und ich dachte, du hättest den Morgen vergessen. Aber am nächsten Tag kamst du wieder zu mir ans Bett und zogst mich nach draußen, noch bevor Mama wach wurde, und wir legten uns auf das taufeuchte Gras. Die Geschichten gingen weiter, am Himmel war viel los.
Die Ferien gingen zu Ende. Jetzt gingst du nach der Schule mit mir nach draußen und ich erzählte dir wieder Geschichten von der hübschen Prinzessin im Wolkenschloss und den Abenteuern, die sie erlebte.
An einem Tag regnete es, doch trotzdem lagen wir auf dem Gras und ich erzählte dir von dem bösen Fürsten, der von seiner grauen Burg aus den Himmel regierte, denn die dunklen Wolkentürme erinnerten mich an düstere Burgen. Es dauerte nicht lange, bis deine Prinzessin ihn besiegte, den bösen, dunklen Fürsten, und wieder die Sonne schien. Die schwebenden Schlösser kehrten an den Himmel zurück, strahlend weiße und flauschige Schlösser.
Du wurdest älter und deine Helden wuchsen mit dir. Mit uns. Die Geschichten wurden spannender, die Prinzessin verliebte sich zum ersten Mal, so wie ich es tat. Es war unsere ganz eigene Art, miteinander zu reden, die sonst niemand verstand.
Manchmal überließ ich dir das Erzählen und du wurdest immer besser. Einmal sagtest du mir, wir müssten die Geschichten aufschreiben, und so setzten wir uns zusammen an Mamas Computer, du auf meinem Schoß, und verewigten die Abenteuer der Wolkenwelt.
Immer schneller schienst du älter zu werden. Wir lagen nicht mehr jeden Nachmittag im Garten und sahen zu den Wolken empor, doch noch immer kamst du zu mir, wenn du gerade Langeweile hattest und zogst mich nach draußen, damit ich dir eine Geschichte erzählte.
Ich glaube nicht, dass du irgendjemanden etwas davon erzählt hast, wie auch ich es nicht tat. Es war unsere ganz eigene kleine Welt.
Jetzt liegst du hier, umgeben von Schläuchen und surrenden, piependen Apparaten und du wirkst so klein in dem großen, weißen Bett. Ich wünschte, du würdest aufwachen, mich mit deinem süßen Lächeln ansehen und um eine Geschichte bitten, aber deine Augen sind geschlossen. Es ist zu spät.
Vor dem Fenster erobert der böse Fürst den Himmel, dunkle Wolkentürme haben die Sonne verdrängt. Und jetzt kannst du der Prinzessin nicht mehr helfen, ihn zu besiegen.