Spuren
Ein guter Tag. Wenig Wind, wenig Wolken. Ein wenig Sonne. Für diese Gegend schon viel und somit zählte es als gutes Wetter. Zwei Männer standen dort an der Klippe, einer jung, einer alt, beide Polizisten. Viele Meter unterhalb von ihnen war das Meer. Heute war es mehr grau als blau und war um einen leblosen Körper reicher als noch am Tag zuvor. Zwei Boote dümpelten dort unten im Wasser. Wankten und schwankten hin und her als sie versuchten das Autowrack zu bergen, das sich von der Klippe in die Fluten gestürzt hatte.
Nicht viel zu ermitteln für zwei Polizisten an einem so relativ guten Tag. Dem Wagen am Grund des kalten Wassers fehlte einiges. Scheiben zum Beispiel. Oder ein Fahrer. In diesem Fall ein toter Fahrer. Die Leiche war ebenso nicht anwesend wie der Wille des Fahrers zu leben. Immerhin war das nicht ungewöhnlicher als das Wetter. Eine einfache Gleichung. Zertrümmerte Scheiben und ein nicht angeschnallter Fahrer ergeben einen fahrerlosen Wagen am Grund der leicht stürmischen See. Allerdings nicht stürmischer als gewöhnlich. Vermutlich sogar besser als an den meisten Tagen.
Vielleicht lag es an diesem durch und durch ordinären Tag, aber der junge Polizist war nicht einer Meinung mit seinem dienstälteren Kollegen. Woher das kam konnte er nicht genau bestimmen. Vielleicht war die Traurigkeit, die in dieser Tat lag, nicht dem Tag gerecht, dessen Wetter heute bestimmt schon einige Freude bereitet hatte. Oder war es nur das Verlangen nach einer aufregenden Geschichte, die sein junges Leben bisher mit äußerster Sorgfalt gemieden hatten?
Auf der anderen Seite die kühle Gewissheit der Erfahrung des Alters. Der alte Polizist hatte schon viel Hoffnung mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages zerfließen sehen, es bestand kein Grund zur Annahme, dass es heute hätte anders sein sollen. Klare Spuren, klares Resultat. Null Abweichung von der Norm. Abnormitäten waren immer verdächtig, aber heute gleichzeitig auch nicht vorhanden. Ein guter Tag. Ermittlungen, deren Ausgang von vornherein bekannt waren, waren immer gute Ermittlungen.
Das einzig verdächtigen war sein Partner. Er stand gefährlich lang, gefährlich nah an der Klippe und untersuchte die Spuren. Schreibblock und Stift gezückt hockte er da und kritzelte unleserliche Notizen auf das Papier und tippte sich zum Nachdenken immer wieder mit dem Kugelschreiber auf die Unterlippe. Äußerst verdächtig, keine Prozedur für gewöhnliche Ermittlungen. Eher das Verhalten, das man an den Tag legt wenn man einer Spur nachgeht, die wesentlich dem Lösen des Falles beitragen kann. Als ob sie Boten eines herannahenden Unheils wären, zerrte der Wind kräftiger an der Jacke des alten Polizisten und eine größere dunklere Wolke schob sich vor die Sonne.
Der junge Mann stand auf und folgte den Reifenabdrücken von der Klippe weg. Den Blick nach unten gerichtet schritt er langsam voran.
„Hast du etwas verloren, Kollege“, fragte der alte Polizist unbeeindruckt.
„Nein, Kollege, nicht dass ich wüsste“, erwiderte der junge Polizist ebenso unbeeindruckt.
Gute Antwort. Der Alte zog es vor dem Treiben der winzigen schwarzen Taucher am Fuße der Klippe zuzusehen. Eifrig standen sie an Deck und koordinierten und dirigierten sie die Bergungsarbeiten. Ein Boot beschäftigte sich mit dem Auto das andere um den toten, noch vermissten Fahrer. Das Zweite war vermutlich ebenso hoffnungslos wie die Spurensuche seines Kollegen. Die Wolken wurden allmählich kleiner, das Wetter wurde besser. Noch besser. Gut.
„Kollege“, schallte es hinter seinem Rücken. Dunkle Wolken. Ein Verlangen sich den Tauchern auf ihrer Suche anzuschließen. Mit einem Kopfsprung von der Klippe direkt auf den Fahrersitz des Autos, das denselben Weg genommen hatte. „Welche Schuhgröße haben sie?“
Widerstand zwecklos. Nichts zu machen gegen dunkle Wolken und übereifrige Hoffnungsvolle. „44“
„Danke sehr.“
Der Junge hatte sich zwischen die Reifenspuren gekniet und blickte mit einer Konzentration auf den Boden, die Grashalme um drücken hätte können. Wenn Konzentration Grashalme um drücken könnte. Er sah auf eine Dulle herab. Und auf noch eine Dulle. Eigentlich auf sehr viele Dullen. Dullen die auch Schuhabdrücke sein könnten. Allerdings deutlich kleiner als Größe 44 und 43. Noch mehr Dullen. Ellbogen, Knie, Hände. Keine Spuren zur Klippe. Nur davon weg. Keine Spaziergängerin. War der tote Fahrer eine lebendige Fahrerin? Er folgte den Spuren. Mehr eine Vorstellung in seinem Kopf. Weite Schritte. Sie war gerannt. Die Sonne schien hell auf eine weitere Dulle. Noch mehr Ellbogen, Knie und Hände. Und Schuhabdrücke. Größere. Dann wieder Spuren von der Klippe weg. Zwei. Nebeneinander.
Die Bilder in seinem Kopf fügten sich zusammen. Es machte erstaunlich viel Sinn. Es war doch ein guter Tag. An dieser Klippe war heute niemand gestorben. Eine Nachricht wie das Wetter. Der Alte stand immer noch an der Klippe und schaute nach unten auf das Wasser. Der Junge trat an ihn heran und verfolgte mit ihm die Spuren zurück. Der Alte sagte kein Wort. Er schaute auf den Boden herab und fragte sich, wessen Bild verzerrt war. Junge Hoffnung oder alte Erfahrung. Heller Sonnenschein oder dunkle Wolken. Für ihn war der Boden nur Boden und das Gras nur Gras. Er sah keine Spuren.
„Was glaubst du, warum sie das getan haben?“, fragte der Alte.
„Zum Spaß? Für das Adrenalin? Es könnte eine Mutprobe gewesen sein“, stellte der Junge seine Theorien vor. „Es war ein altes Auto, kaum mehr etwas wert. Und es über die Klippe zu jagen war bestimmt einfacher als es zu entsorgen.“
„Denkst du man sollte sie wegen der Umweltverschmutzung belangen?“
„Es sind sicherlich einige Kosten durch die Bergung entstanden, auf denen sonst der Staat sitzen bleibt, also ja. Ich denke wir sollten sie belangen.“
Der Alte nickte. „Ich glaube er wollte seinen Frieden finden. Egal, ob er nun im Meer liegt oder mit seiner Freundin mit dem nächsten Bus verschwunden ist. Er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Und ich denke, diesen letzten Wunsch sollten wir ihm erfüllen.“
Der Alte zog sein Handy heraus und teilte der Leitstelle mit, dass die Untersuchungen am Tatort abgeschlossen waren. Der Junge stand dort, wo die zwei Fußspuren begannen. Das Wetter war immer noch gut, doch er war verwirrt. Oder zu mindestens unschlüssig. Unschlüssig ob es Erfahrung oder Verbitterung war.
Frieden. In Frieden lassen. Es machte noch mehr Sinn als die Spuren neben den Reifenabdrücken. Der Alte rief ihn. Papierkram im Büro. Aber die Hoffnung war am Leben. Deswegen war es ein guter Tag.