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Farben - Die Erinnerung auf meiner Haut
Der Sessel von Carlos ist so verdammt bequem. Das merke ich nicht zum ersten Mal. Mein Körper passt da einfach perfekt rein. Wirklich, jeden noch so kleinen Zwischenraum füllt mein Rücken vollkommen aus, als ob das Polster nur für mich maßgeschneidert wurde. Das ist auch der Grund, weshalb ich gerne zu ihm komme. Hier fühle ich mich noch wohl. Zuhause wartet ja nichts mehr auf mich. Dabei waren die unfertigen Tattoos noch nie ein Grund dafür sein Studio zu besuchen, damit er weiter daran arbeiten kann. Es ist nur wegen Carlos und seinem Sessel. Weiß der Geier, weshalb ich überhaupt ständig ein Neues brauche. Aber wenn er schon mal mit einem angefangen hat, dann muss es ja zu Ende gestochen werden. Ich kann es ja nicht so halbfertig auf der Haut lassen, das geht absolut nicht.
Diesmal sticht er an dem Portrait von meinem verstobenen Sohn weiter. Erick war sechs Jahre, zwei Monate und exakt drei Tage alt. Ein Prachtjunge und mein ganzer Stolz. Er bekam seinen Platz auf meinem rechten Unterarm. Hier soll er für mich weiterleben. Als Rechtshänder fuchtel ich ziemlich häufig, wenn der Tag lang ist, mit eben diesem herum. So fällt mir mein Junge öfters auf und erinnert mich an die Tage, an denen ich ein glücklicher Vater und Ehemann war, an die Tage, an denen ich noch lachen konnte.
Obwohl, Ehemann trifft es nicht direkt. Ich hatte Melanie zwar einen Heiratsantrag gemacht, aber anscheinend waren sie und ihr neuer Lover nicht besonders begeistert davon. Ich hasse sie abgrundtief dafür, dass sie mich nach dem Tod unseres Kindes betrogen hat. Aber trotzdem trage ich sie wortwörtlich am Herzen bei mir, denn ich ließ sie nach der Trennung auf meine linke Brust tätowieren. Was für ein verzweifelter Vollidiot muss man eigentlich sein…
Carlos desinfiziert noch schnell sein Werkzeug mit verdünnter Säure, bevor er an seine Arbeit geht. Warum Säure? Naja, er sagte mal, dass würde sich rentieren. Er bekäme sie von einem alten Studienkumpel hinterhergeworfen, der heute im Labor irgendwas mit chemischen Substanzen anstellt. Schön für ihn, dass er solche Beziehungen hat.
An für sich ist Carlos ein feiner Kerl, das muss ich ihm lassen. Er gehört zu den Typen, die erst durch ein persönliches Gespräch von ihrem angenehmen Wesen überzeugen können, denn auf den ersten Blick könnte man ihn als ein Geldeintreiber, oder zumindest als ein Mitglied einer gefährlichen Rockergang vermuten. Aber so schlimm ist er nicht, trotz seines gewaltigen Körpers und den vielen Tattoos. Ganz im Gegenteil: Er träumt von einem Bauernhof auf dem Land und einer Scheune für die Tiere, den er sich eines Tages durch sein Erspartes leisten will. Mal im Ernst, so einer kann doch niemandem wehtun. Er spricht zudem mit so einer piepsigen Stimme. Die versteckt er häufig hinter einer gekünstelten, etwas tieferen, die er nur durch viel Anstrengung aus seinem Rachen presst.
So einer soll gefährlich sein, ich bitte euch.
Nach der gründlichen Reinigung seines Werkzeuges stülpt er sich diese weiß-matten Handschuhe über, die mein Zahnarzt auch ständig trägt. Dann hebt er die klinisch reinen Hände mit gespreizten Fingern vor sein Gesicht und fragt mich mit seiner femininen Stimme: „So mein Lieber, können wir beginnen?“. Ich schmunzel ein wenig über sein Sinn für das Gründliche, während ich seinen mächtigen Körperbau mustere und antworte: „Ja klar Dr.Clean, dann leg mal los“.
Wenn er einmal beginnt zu stechen, dann ist er komplett in seinem Element und nicht mehr ansprechbar. Weil er aus Rücksicht auf seine Kunden mit einem Betäubungsspray arbeitet, stört es mich nicht, wenn die Maschine meine Haut mit Farbe nährt, ich genieße es sogar. Das eintönige Rattern und Tupfen ist entspannt, hilft mir gar beim einschlafen.
Von einem auf den anderen Moment wache ich in dem gemütlichen Sessel auf. Carlos ist nicht mehr da, obwohl ich noch ein leichtes Kribbeln der Stiche auf meinem rechten Unterarm spüre. Auch sonst scheint nichts mehr so zu sein wie es gerade noch war. Sein Arbeitszimmer ist nicht mehr mit den Wänden begrenzt, vielmehr liege ich hier in dem Sessel in Mitten eines endlosen weißen Nichts. Die Zeit scheint still zu stehen. Ich höre aus der unendlichen Weite, von irgendwo, das Rattern der Maschine, gedämpft und langgezogen. Es sind Geräusche die mir verraten, dass ich immer noch in dem Studio sein muss, nur eben in einer anderen Dimension. Ich schaue mich um und erhoffe irgendwas zu erkennen, dass mir weitere Antworten geben könnte, doch meine Blicke werden von dem unendlichen Weiß verschlungen. Da ist nichts. Das kann nicht normal sein, das steht fest.
Es wird noch eigenartiger. Die Bilder auf meiner Haut erwachen zum Leben. Ich fürchte mich jedoch nicht, weil ich bereits festgestellt habe, dass alles Skurrile in dieser Gegend normal sein muss, sonst würde sich hier so einiges widersprechen. Deshalb schaue ich dem Specktakel neugierig zu. Die Bilder werden plastisch und erheben sich in ihrer bunten Pracht. Nun werden sie auch hörbar. Diese Stimme kenne ich doch, es ist Melanies. Sie spricht die bereits gesagten Worte aus der Zeit unserer Beziehung wiederholt aus. Es sind beruhigende und vertraute Worte: „Das grüne T-Shirt steht dir doch ganz gut. Guck' doch mal in den Spiegel. Siehst du, und du hattest Angst man würde erkennen, dass es aus dem Secondhandladen ist“. In dem Moment erkenne ich meine zweite Chance, ihr das zu bestätigen. Diesmal soll sie erfahren, dass sie recht damit hat, dass sie immer recht gehabt hat. Ich rufe ihr laut zu, als könnte sie mich nur schwer verstehen, als ob die vergangene Zeit nach unserer Trennung wie eine riesige Kluft zwischen uns wäre: „Ja, ja! Das T-Shirt gefällt mir sehr. Du hast recht, du hast immer recht mit dem was du sagst, hörst du? Ich liebe es, das T-Shirt hast nämlich du ausgesucht!“. Dieser Moment der puren Hoffnung treibt mir Tränen in die Augen, wobei ich doch eigentlich weiß, dass alles hier nicht real sein kann. Doch die Stimme meines Sohnes verstärkt die Illusion umso mehr: „Papa, hier bin ich, hier unten“ ruft er mir von meinem Unterarm zu und winkt dabei mit seinen Armen: „Ich hoffe, du hast mein Geburtstag nicht schonwieder vergessen. Ich möchte dieses Jahr eine Playstation haben. Mark aus meiner Klasse hat auch eine bekommen“. Ich würde ihm heute die Spiele aus der Konsole in der realen Welt nachbauen. Alle seine Kinderwünsche würde ich ihm erfüllen und immer für ihn da sein. Wenn er das doch nur wüsste: „Selbstverständlich Großer. Du bekommst deine Playstation. Gedulde dich noch ein bisschen“ antworte ich ihm mit dieser Stimme, mit der ich schon seit so Langem nicht mehr gesprochen habe, niedlich und gelassen. Es schein alles so zu sein wie Früher. Es gibt keinen Grund mehr für mich zurück in die Gegenwart zu gehen, hier bleibe ich, definitiv.
Doch plötzlich stürzt meine Illusion in sich zusammen. Die scheinbar unendliche Weite bröckelt direkt neben und über mir wie Putz von den Wänden. Die Erde fängt an zu beben und meine Haut brennt höllisch. Melanie und Erick lösen sich langsam mit schmerzerfüllten Gesichtern in einer Flamme auf. Sie schreien unerträglich laut. Ich kann es kaum ertragen sie so leiden zu sehen und schlage wild auf mich ein, um die Flammen zu löschen. Ich kann sie nicht ein zweites mal verlieren. Doch meine Haut hat bereits die Flammen unter sich eingesogen, sodass ich nur noch auf sie einschlage und blaue Flecken hinterlasse. Es ist sinnlos.
Ich schließe meine Augen und fange an laut zu schreien. Einer der herabstürzenden Brocken fällt jeden Moment auf meinen Kopf und tötet mich; jeden Moment. Ich kann nur noch darauf warten.
Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dass ich nur geträumt habe. Was sollte es denn sonst sein, das von vorhin, wenn nicht ein Alptraum?
Als meine Augen sich öffnen, füllt Carlos' Fratze mein gesamtes Sichtfeld aus. Er beugte sich zu mir runter und starrt mich entsetzt an. Ich merke, dass ich kräftig an beiden Schulterblättern gerüttelt werde. Carlos' Mund bewegt sich, aber ich höre ihn nicht. Die Schreie aus dem Traum schallen immer noch in meinen Ohren. Mein Schädel brummt. Ich erwache nun endgültig aus der Illusion und verstehe Carlos erst jetzt klar und deutlich: „Hör auf zu schreien und dich selbst zu schlagen, du Idiot. Wach endlich auf, wach auf!“. Er rüttelt mich dabei deart häftig, dass mir schwindlig wird. Anscheinend habe ich ihm eine heidenangst eingejagt: „Ja Carlos, ist gut. Hör damit auf, ich bin ja schon wach“.
Inuitiv greife ich nach der Säure auf seinem Arbeitstablett, direkt neben dem Sessel. Ich drehe die Kappe auf, gieße den halben Inhalt auf meinen rechten Unterarm und den Rest auf meine linke Brust. Mein Körper fängt an zu qualmen und tränkt den Raum mit einem Geruch von verbranntem Fleisch. Carlos ist starr vor Schock. Abschließend stehe ich auf und verabschiede mich mit den Worten:
„Es war schön mit euch. Doch nun muss ich weiter“.